Die Zeit Wissen - 01.2020 - 02.2020

(Barry) #1

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tellen Sie sich vor, Sie befinden sich auf
dem Heimweg von der Arbeit. Es ist Freitag-
abend, vor Ihnen liegt ein langes, wunder-
bar ruhiges Wochenende. Für Samstag
haben Sie einen Tisch für sich und Ihren
Partner in Ihrem Lieblingsrestaurant reser-
viert. Endlich Zeit nur für Sie zwei! Doch kaum zu
Hause angekommen, durchkreuzt er Ihre Pläne: Seine
Schwester sei am Wochenende zu Besuch bei seinen
Eltern. Sie beide sollen doch dazukommen. Bei der
Gelegenheit können auch gleich alle mithelfen, den
Garten winterfest zu machen. Zwei Stunden Fahrt,
Gartenarbeit, Familientrubel – klingt nach genau dem
Gegenteil von dem, was Sie wollen. Doch streiten? We-
gen so etwas Banalem? Schließlich mögen Sie die Familie
Ihres Partners, und Sie wollen
ihn auch nicht vor den Kopf
stoßen. Aber Ihr ruhiges Wo-
chenende wollen Sie auch nicht
kampflos aufgeben. Wie also
setzen Sie Ihren Willen durch?
Dirk Sebastian zieht seinen
schwarzen Bauern auf B5 und
schaut mich herausfordernd an.
Mein weißer Läufer ist in Ge-
fahr. Ich beuge mich über das
Schachbrett. Springer, Läufer
oder Dame – alle könnten sei-
nen Bauern schlagen. Und alle
würde ich im nächsten Zug
durch einen weiteren schwarzen
Bauern verlieren. Die Dame
scheidet aus, die ist zu viel wert.
Ich entscheide mich für den
Springer. »Sehr gut!«, lobt Dirk
und schlägt meine Figur. »Was
jetzt?« Ich schlage den zweiten
Bauern mit meiner Dame. »Wa-
rum hast du nicht den Läufer
genommen?«, fragt Dirk.
Ich habe keine Ahnung, denn dies ist die erste
Schachstunde meines Lebens. Zum Glück muss ich
nicht gewinnen – gegen Dirk Se bas tian hätte ich ohne-
hin keine Chance, denn er ist Trainer des Hamburger
Schachklubs. Stattdessen zeigt er mir Zug für Zug eine
berühmte partie de l’opéra von 1858: Damals setzte der
Amerikaner Paul Morphy seinen Gegner in einer Loge
der Pariser Oper in nur 17 Zügen matt. »Morphy hat
von Anfang an dominiert. Schwarz war permanent in
der Verteidigungshaltung«, sagt Dirk Se bas tian, »Weiß
hat Schwarz seinen Willen aufgezwungen.«

Dem anderen seinen Willen aufzwingen – das klingt
hart. Außerhalb des Schachbretts würde man es wohl
»sich durchsetzen« nennen, oder »sich behaupten«.
Schachmeister entwickeln dafür komplexe Strategien.

Erkennen Prioritäten. Loten ihre Optionen aus. Handeln
mit Bedacht. Alles Dinge, die mir nicht so gut liegen.
Ich bin meistens zu laut. Oder zu still. Stoße Leute aus
Versehen vor den Kopf. Oder mache mich viel zu klein
und unsichtbar. Mein Wille geschehe – das gelingt mir,
wenn es denn gelingt, eher zufällig.
Die gute Nachricht: Verhandeln kann man lernen.
Eine im Journal of European Industrial Training erschienene
Metastudie verglich das Durchsetzungsgeschick von
Probandengruppen, die ein umfangreiches, ein kurzes
oder gar kein Verhandlungstraining bekommen hatten.
Ergebnis: Schon eine kurze Schulung verbesserte die
Verhandlungsergebnisse. Seinen Willen durchsetzen ist
also vor allem: Technik. Und die ist mittlerweile recht
gut erforscht, sagt ein Sozialpsychologe, mit dem ich für
diesen Text gesprochen habe.
Die Technik kann man lehren,
erklärt ein Jura-Dozent. Man
kann sie zum Beruf machen,
sagen eine Mietrechtsanwältin
und ein Betriebsratsmitarbeiter.
Sie nutzt im Spiel, sagt der
Schachmeister. Sie hilft auch in
der Familie, sagt eine Frau mit
neun Geschwistern.
Ob vor Gericht oder in der
Gehaltsverhandlung, ob für ein
Schnäppchen bei eBay oder in
der Diskussion zu Hause über
das nächste Urlaubsziel – die
Strategien, sich zu behaupten,
ähneln sich überall.
Und dennoch: Laut einer
aktuellen Studie des Stellenpor-
tals Step stone fühlt sich jeder
zweite Arbeitnehmer unwohl
dabei, ein höheres Gehalt zu ver-
langen. Im Urlaub sind viele
Deutsche zwar verhandlungs-
freudiger. Sie feilschen auf dem
Markt, im Taxi, im Hotel, in der Tauchschule, im Res-
taurant. Allerdings: 86 Prozent der deutschen Urlauber
konnten im gesamten Urlaub nicht mehr als zehn Euro
herausschlagen, ergab vor einigen Jahren eine europa-
weite Umfrage im Auftrag eines Hotelportals. »Die
größte Sorge in westlichen Kulturen ist, dass man seine
Interessen nicht durchbringt und dann das Gesicht ver-
liert«, sagt Roman Trötschel. Er ist Professor für Sozial-
psychologie an der Leuphana Universität Lüneburg und
erforscht seit Jahren das Erleben und Verhalten von
Menschen in Verhandlungen. Er sagt: »Im Nahen Osten
haben die Menschen eine viel größere Bereitschaft zu
verhandeln. Das häufige Wiederholen reduziert also die
Sorge, in Verhandlungen zu versagen.«
Ein grundsätzliches Missverständnis sei, dass es
stets einen Gewinner und einen Verlierer geben müsse.

DIE SERIE IN ZEIT WISSEN

MEIN WILLE
GESCHEHE!


  1. TEIL:
    WIE KANN ICH MICH
    BESSER BEHAUPTEN?
    (in dieser Ausgabe)

  2. TEIL:
    WER HAT DIE MACHT – UND WARUM?
    Machtstrukturen erkennen und nutzen
    (erscheint am 18. Februar 2020)

  3. TEIL:
    WARUM TUE ICH NICHT,
    WAS I C H W I L L?
    Innere Hindernisse überwinden
    (erscheint am 21. April 2020)

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