Die Zeit Wissen - 01.2020 - 02.2020

(Barry) #1

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Gerhard Stoll antwortet nicht.
Aber sein Bruder Sieg fried: Zu den Fragen
bezüglich seiner Erlebnisse in der Vergan-
genheit will Gerhard sich nicht mehr äu-
ßern. Ich habe das Gefühl, dass dieser
Kontext kein Thema mehr für ihn ist. Ich
empfehle Ihnen freundlich, die Fragen
mehr auf das Heute und auf schöne Erleb-
nisse oder Gedanken auszurichten. Es ist
wichtig, geduldig zu sein und seinen Rhyth-
mus zu erspüren. Wenn alles klappt, wird
Gerhard bald in Ihre Nähe an die Nordsee
reisen. Vielleicht öffnet er sich im Urlaub
und erzählt.
Ich stehe an der »Alten Liebe« in Cuxhaven,
einem ehemaligen Schiffsanleger. Es ist der


  1. Juni, 14 Uhr. Hier bin ich zum ersten
    Mal mit Gerhard Stoll verabredet. Ich habe
    das Buch, das die beiden Brüder zusammen ge-
    schrieben haben, studiert wie eine Bedienungs-
    anleitung – was darf ich, was nicht? Im Buch
    steht, dass Gerhard Stoll nicht gern angefasst
    wird, weil er dann Spastiken bekommen kann,
    die nicht schmerzen, aber unangenehm sind.
    Über Nacht hat es geregnet, der Himmel ist
    bedeckt. In der Ferne leuchtet ein pinkfarbener
    Fleck. Ist das Gerhard Stoll? Ich gehe dem Pink
    entgegen. Es ist sein Sitzsack.
    Ich habe Ihnen etwas mitgebracht. Darf
    ich es Ihnen geben?
    Ja.
    Ich zeige ihm Fotos vom Meer, von großen
    We l l e n.
    Schöne Perspektiven. Die mag ich.
    Darf ich Sie etwas fragen?
    Ja.
    Sie mögen die Nordsee. Was ist hier im
    Hafen besonders schön?
    Die kleinen Krabbenkutter, wenn sie wohl-
    behalten am Pier festmachen.
    Er ist von drei Pflegerinnen umgeben, die sich
    jetzt in Bewegung setzen. Heidi Schmidt
    schiebt den elektrischen Rollstuhl, ich schließe
    mich dem Zug an. Später werden die drei mir
    erzählen, dass sie Gerhard Stoll schon lange be-
    treuen. Conny Grube seit 20, Sandra Willner
    seit 16 Jahren. Heidi Schmidt ist in derselben
    Straße aufgewachsen wie Gerhard Stoll, sie
    sind gleich alt. Um ihn pflegen zu können, hat
    sie sich intensivmedizinisch auf derselben
    Station eingearbeitet, auf der er lag. Als sie zu-
    sammen mit ihm nach Hause wechselte, pro-
    phezeiten ihr einige Kollegen, dass ihr neuer
    Arbeitsplatz keine Zukunftsperspektive habe.
    Gerhard Stoll hat diese Prognose widerlegt, mit
    jedem Jahr, das er lebt. Wir spazieren zum


Hamburger Leuchtturm, Heidi Schmidt posi-
tioniert den Rollstuhl nahe einer kleinen Text-
tafel. Sie lockert die seitliche Kopfstütze.
Heidi Schmidt: So kannst du besser hören.
Der Wind verweht, was sie von der Tafel ab-
liest. ... neun Seemeilen ... 22 Kilometer,
aber das weißt du ja als Matrose.
Ich schaue Gerhard Stoll fragend an.
Matrose?
Ja.
Gegenüber befindet sich ein Café. Es ist gut be-
sucht. Heidi Schmidt steuert am Tresen vorbei,
schrammt einen Barhocker. Ein paar Erwach-
sene drehen ihre Köpfe weg. Die Pflegerinnen
bestellen Kaffee und Kuchen.
Wie hieß das Schiff, auf dem Sie als Ma-
trose waren?
We n n Ge r h a rd St o l l e t w a s s a g e n w i l l , d i k t i e r t
er die Worte mit dem Blinzeln seiner Augen.
Buchstabe für Buchstabe (siehe rechte Seite).
Jetzt antwortet er:
Mosel, das hört sich meer an, als es ist.
Heidi Schmidt grinst über das zweite »e« im
Wort meer: Manchmal erlaubt sich Gerhard
Stoll kleine Wortspiele, sagt sie. Wörter schon
nach ein paar Buchstaben erraten darf man
aber trotzdem nicht. Das nervt und verwirrt
ihn, sagt sie. Nur wenn man ganz sicher ist,
darf man ihm ein Wort vorschlagen.
Acht Pflegerinnen und ein Pfleger teilen sich
im Schichtdienst sechs Stellen, um Gerhard
Stoll rund um die Uhr zu versorgen. Auch
nachts.
Heidi Schmidt: Urlaub ist eine wichtige
Abwechslung im ewig gleichen Alltag von
Gerhard. Die Routine daheim gibt ihm
Sicherheit, aber ein paar Tage an der Nord-
see verleihen ihm Flügel. Von der Krank-
heit kann er keinen Urlaub machen, aber er
kann es sich mit ihr schön machen.
Gerhard Stolls beigefarbenes Mittagessen ist
durchgelaufen, Heidi Schmidt spült den
Schlauch, der zum Magen führt, mit Wasser
nach, misst die Sauerstoffsättigung, 97 Prozent.
Der Puls? 77. Hier sind die Werte immer prima,
sagt Heidi Schmidt. Die Nordseeluft tut ihm
gut. Die Beatmungsmaschine schnauft im
gleichmäßigen Rhythmus. Mit ihrer Hilfe
macht Gerhard Stoll keine Atemzüge, sondern
Atemhübe, die Maschine drückt die Luft in
die Lunge. Ein Halstuch verdeckt den Zugang
der Maschine zur Luftröhre.
Was bedeutet es Ihnen, wie Sie aussehen,
Herr Stoll? Welche Kleidung Sie tragen?
Das Nickituch, das die Beatmung verdeckt,
ist mir wichtig. Ich möchte gut gekleidet

D


as hessische Dorf Kleingla-
denbach liegt etwa 50 Auto-
minuten westlich von Mar-
burg. Am Nordhang steht ein
Haus mit Anbau, an dessen
Tür ein handgeschriebenes
Schild klebt: G. Stoll. Hier lebt Gerhard Stoll
seit fast 30 Jahren. In diesen 30 Jahren gab es
Momente, in denen er nicht mehr leben wollte,
und welche, in denen er mit aller Kraft um
sein Leben gekämpft hat. Jetzt ist er 52 Jahre
alt. Seine raspelkurz geschnittenen Haare wer-
den grau. Aber das werde ich alles erst später
sehen und erfahren. Am Anfang sind nur meine
Fragen dort in Kleingladenbach.
Herr Stoll, wie geht es Ihnen?
Im Moment geht es mir gut. Ich sitze bei
meiner Familie im Wohnzimmer, und mein
Bruder Siegfried liest mir Ihre Fragen vor.
Wie sieht ein ganz normaler Morgen bei
Ihnen aus?
Ich wache auf und werde freundlich von
der diensthabenden Krankenschwester be-
grüßt. Dann wird der Rollladen hochgefah-
ren, und die Morgenpflege beginnt. Ich
werde von Kopf bis Fuß gewaschen. Zudem
wird meine Haut massiert, damit ich nicht
durchliege. Bei der Pflege höre ich gerne
Musik. Das wirkt entspannend.
Hören Sie auch die Vögel morgens singen?
Morgens, wenn ich mich in meinem Zim-
mer befinde, kann ich die Vögel nicht singen
hören. Das ist aber möglich, wenn ich bei
sonnigem Wetter bei uns im Garten sitze.
Ich freue mich schon darauf, wenn das wie-
der möglich wird. Es kommt auch jetzt
schon vor, dass ich vormittags im Garten sit-
ze und mir die morgendliche Brise um die
Nase wehen lassen kann.
Wie wachen Sie auf – eher gut gelaunt?
Das ist bei mir wie bei jedem anderen Men-
schen: Manchmal wache ich gut gelaunt
auf und manchmal nicht so gut gelaunt.
Auf jeden Fall möchte ich bis Punkt acht
Uhr meine Ruhe haben. Das Personal hält
sich auch daran.
Und dann startet das Pflegeprogramm?
Die Pflege wird von der diensthabenden
Krankenschwester in aller Ruhe durchge-
führt. Während der Pflege lasse ich meine
Gedanken schweifen.
Gerhard Stolls Bruder Siegfried arbeitet als
Pädagogik-Dozent in Bayern, ist aber oft zu
Besuch. Er ist nur ein Jahr älter als Gerhard.
Erinnern Sie sich noch daran, wie es war,
als Sie aus dem Koma erwacht sind?

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