Die Zeit Wissen - 01.2020 - 02.2020

(Barry) #1


Empathie, durch Ansprache, durch gesunde
Nahrung gefördert. Wenn Menschen mer-
ken, dass sie nicht erwünscht sind, gehen
sie ein wie verdorrte Blumen.
Gerhard Stoll war zweieinhalb Jahre auf
der Intensivstation. Dann hat die Familie
ihn zu sich nach Hause geholt.
Von den Menschen, die auf eine Intensiv-
station in Deutschland aufgenommen
werden, sterben 30 bis 40 Prozent. In ten-
siv auf ent hal te können das Überleben
unterstützen, für viele sind sie tödlich. Das
große Problem sind die multiresistenten
Keime. Hinzu kommt, dass bis zu 30 Pro-
zent der Intensivpatienten, die die Intensiv-
station überleben, eine psychotraumatolo-
gische Belastungsstörung erleiden.
Was machen die Stolls richtig?
Die Brüder Stoll sind für mich ein Einzel-
fall. Sie sind in keiner Selbsthilfegruppe

viele Stunden mit ihm, gehen mit ihm in
den Garten, sagen ihm Gute Nacht, lesen
ihm aus der Bibel vor, beten mit ihm, er-
zählen ihm, was passiert – seit 30 Jahren
jeden Tag. Meine Mutter hat viele Jahre bei
der Pflege geholfen. Es war für sie wichtig,
für ihren Sohn da zu sein. Aber meine Eltern
wären fast zerbrochen. Vater ist in Früh-
rente gegangen. Ihm kamen auf der Kanzel
die Tränen. Das ging nicht mehr.
Kommen noch alte Freunde zu Besuch?
Früher waren es viele. Jetzt ist es den meisten
zu anstrengend, zu bedrückend. Aber zum
Geburtstag kommen viele. Und wenn Ger-
hard mit seinem Rolli durchs Dorf fährt,
wird er überall sehr herzlich begrüßt.
Was ist für Sie als älteren Bruder das
Schwierigste?
Die Tatsache, davon ausgehen zu müssen,
dass sich die Situation meines Bruders nicht
mehr maßgeblich ändern wird. Ich habe
ihm gesagt: Gerhard, wenn ich könnte,
würde ich dir ein neues Gehirn einbauen.
Auch nach 30 Jahren kann ich mich nicht
an diese Situation gewöhnen. Wenn ich
meinen Gefühlen freien Lauf lassen würde,
würde ich einfach nur weinen.
Wie haben Sie es damals geschafft, Ihren
Bruder nach Hause zu holen?
Gerhard ist ein Mensch und keine Maschi-
ne. Eine Maschine kann man überall hin-
stellen. Um ihn nach Hause zu holen,
mussten wir immer wieder Grenzen spren-
gen. Manche Experten sagen heute noch,
dass die langfristige Versorgung von Hirn-
verletzten zu Hause schwierig ist. Mich hat
Professor Zieger aus Oldenburg sehr ermu-
tigt. Er ist Neurochirurg und war Ärztlicher
Leiter der Station für Schwerst-Schädel-
Hirn-Geschädigte am Evangelischen Kran-
kenhaus Oldenburg und Chefarzt der Klinik
für Neurorehabilitation.
Ich rufe Andreas Zieger an.
Andreas Zieger: Entscheidend für das
Überleben eines jeden Menschen ist die
Frage: Ist die Umgebung lebensfreundlich
oder lebensfeindlich? Die Überlebensdauer
ist auch abhängig von der sozialen Zuwen-
dung und der Präsenz anderer Menschen.
Wa s w e i ß d i e Fo r s c h u n g ü b e r d i e L e r n f ä-
higkeit von Gehirngeschädigten?
Eine ganze Menge: Gehirne werden umge-
baut, obwohl sie schwer geschädigt sind.
Gehirngewebe kann sich erholen, Nerven-
netze können sich umbauen. Die Neuro-
plastizität des Gehirns wird auch durch


Gerhard und Siegfried Stoll
sind die beiden ältesten von
vier Brüdern. Siegfried lebt in
Bayern und besucht seinen
Bruder, sooft es geht, im
Elternhaus in Kleingladenbach.
Dort wohnt Gerhard Stoll in
einem kleinen Appartement,
das die Eltern vor 30 Jahren
angebaut haben, um den Sohn
zu Hause intensivmedizinisch
versorgen zu können. Er wird
rund um die Uhr betreut, be-
atmet und künstlich ernährt.
Doch sein Zustand bessert
sich: Gerade kehrt sein
Geschmackssinn zurück.

organisiert, aber sie leisten das Wichtigste:
Mitmenschlichkeit. Käme Gerhard Stoll in
ein Pflegeheim, würde er eingehen, er würde
sterben. Für die Ärzteschaft ist es – drastisch
gesagt – unerwünscht, wenn Einzelfälle wie
Gerhard Stoll überleben, es stört sie in ihrer
sicher geglaubten Pro gno se.
Warum hat Gerhard Stoll überlebt?
Das Besondere an Gerhard Stoll ist sein
Durchhaltewillen, die Resilienz, die Wider-
standskraft. Das Leben trotz dieser Be-
schwernisse zu leben. Der Lebenswille ist
unvorhersehbar. Darum hadere ich mit
Patientenverfügungen. Wir wissen nicht,
wie es ist – im Koma, im Wachkoma, im
Locked- in- Syn drom. Diesen Zweifel haben
mich Einzelfälle wie Gerhard Stoll gelehrt.
Was genau ist das Locked-in-Syndrom,
unter dem Gerhard Stoll leidet?
Das Locked-in-Syndrom (LIS) ist eine sel-
tene und äußerst schwerwiegende Erkran-
kung. Es ist sozusagen die schwerste Form
eines Schlaganfalls und bezeichnet einen
Zustand des Eingeschlossenseins: Der Be-
troffene ist zwar bei Bewusstsein, jedoch
körperlich fast vollständig gelähmt und un-
fähig, sich sprachlich oder durch Bewegun-
gen verständlich zu machen. In schweren
Fällen – wie bei Herrn Stoll – kann auch die
Atmung betroffen sein. Eine Kommunika-
tion nach außen ist häufig nur durch Au-
genbewegungen möglich. Ist der Hörsinn
intakt geblieben, können Erkrankte wie
Herr Stoll Fragen durch Augenbewegungen
oder Augenzwinkern mit »Ja« oder »Nein«
beantworten. Wenn keine willentliche
Muskelaktivität vorhanden ist, spricht man
vom kompletten Locked- in- Syn drom.
Was ist der Unterschied zum Koma und
Wa c h k o m a?
Ein Patient im Koma ist fast immer beatmet,
hält die Augen geschlossen, reagiert meist
auf keinerlei Schmerzreiz und führt keine
spontanen Bewegungen mehr aus. Patien-
ten im Wachkoma haben sich aus einem
tiefen Koma unter intensivmedizinischer
Behandlung so weit erholt, dass sie spontan
atmen und die Augen öffnen können. Im
Vollbild des Wachkomas geht der Blick je-
doch ins Leere. Schmerzreaktionen können
wieder auftreten, jedoch finden keine ge-
richteten Reaktionen und Bewegungen auf
Außenreize oder Fragen statt. Die wenigsten
Neurologen kennen sich mit dem Krank-
heitsbild LIS aus, laut Studien fürchten sich
90 Prozent von ihnen davor und würden
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