selber nicht in einem solchen Zustand leben
wollen. Deutsche Neurologen raten sehr
früh zur Sterbehilfe. Die Brüder Stoll zeigen
dagegen, dass Betroffene das nicht nur an-
ders sehen, sondern ein Langzeitüberleben –
auch unter Beatmung – für sinnvoll halten.
Ich fahre mit Siegfried Stoll durchs hessische
Hinterland nach Kleingladenbach. Er kennt
die kurvige Strecke wie im Schlaf und fährt
schnell. Als wir das Dorf erreichen, deutet er
auf ein Anwesen und sagt: »Dort ist der Bau-
ernhof, wo Gerhard damals seinen Freund be-
sucht hat und plötzlich diese Kopfschmerzen
bekam. Er hat sich zu Hause gleich ins Bett
gelegt, und unsere Mutter hat ihm eine Kopf-
schmerztablette gegeben.« Wir parken vor ei-
ner breiten Garage, gehen um das Haus herum.
Im Garten erkenne ich eine der Pflegerinnen,
Lissy Braun steht gebückt zwischen kniehohen
Bohnenpflanzen. Gegenüber dem Gemüsebeet
sitzt Gerhard Stoll. Neben ihm, auf einer
kleinen Bank, sein Vater. Eine breite Tür führt
in den Anbau von Gerhard Stoll. Sein Bruder
deutet dort auf einen dunklen Schrank: »Der
ist von unserer Ururgroßmutter, schon auf der
Intensivstation hat Gerhard diktiert, dass er
ihn haben wolle. Das Zimmer ist genau so ein-
gerichtet worden, wie er es sich gewünscht
hat.« Wir betreten den Nebenraum, früher
war er das Kinderzimmer von Siegfried Stoll,
heute ist er Materiallager für Gummihand-
schuhe, Handtücher, Laken, Sauerstoffflasche,
Kanülen, Spritzen. An der Wand lehnt ein
Holz ta blett für das Bett.
Lissy Braun: Eigentlich sind wir hier eine
Intensivstation.
Siegfried Stoll: Seitdem wir hier bei einem
Stromausfall mal Alarm hatten, haben wir
unser eigenes Notstromaggregat.
Lissy Braun: Ich habe in den drei Jahren,
die ich jetzt hier bin, nur einmal erlebt, dass
er wollte, dass ich ihm beim Malen die
Hand führe. Aber das wollte er nie wieder.
Siegfried Stoll: Das hat nicht so geklappt
mit den Ölfarben ...
Im Flur hängen mehrere Bilder an der Wand.
Alle wurden von Gerhard Stoll gemalt – bevor
er krank wurde. Wiesen, Fachwerkhäuser,
Bäume. Sein Bruder deutet auf das Bild von
der Dorfkirche, das letzte, das Gerhard Stoll
angefangen hat. Im Vordergrund hat er noch
die Felder mit Furchen und Ähren skizziert.
Weiter ist er nicht gekommen. Im Souterrain,
am Ende des Flurs, betreten wir einen Raum.
Siegfried Stoll: Das war Gerhards Zimmer.
Das haben wir so gelassen. Das war sein
Bett, und hier lag die Kopfschmerztablette.
Jetzt ruht ein Plüschbär auf dem Kopfkissen,
die Bettdecke bis unter das Kinn hochgezogen.
Rechts und links vom Teddykopf stehen Mar-
meladengläser.
Siegfried Stoll: Hier hat Gerhard gelegen,
und hier hat er gebrüllt, laut. Wir sind zu
ihm gelaufen. Er erbrach sich. Wir haben
das Erbrochene aus dem Mundraum ge-
räumt und die Hausärztin gerufen. Sie kam
sofort und hat den Notarzt aus Siegen alar-
miert. Der Hubschrauber landete auf der
Wiese vor unserem Haus. Dann haben sie
Gerhard rausgebracht.
Auszug aus dem Buch der Brüder:
Siegfried Stoll: Wenn es zu Hause wieder,
wie manches Mal, eine lebensgefährliche
Situation gibt, dann soll alles getan werden,
damit du weiterlebst. Habe ich das so richtig
verstanden?
Gerhard Stoll: Ja.
Siegfried Stoll: Wir alle müssen einmal
sterben. Hast du vor dem Sterben Angst?
Gerhard Stoll: Nein. Gott lässt mich erst
dann sterben, wenn es am besten ist. Des-
halb habe ich vor dem Sterben überhaupt
keine Angst. (...) Je länger die Krankheit
dauert, desto mehr füge ich mich ihr.
Die Diagnose damals: massive Blutung durch
ein nahe am Hirnstamm gelegenes Aneurysma.
Das ist eine Art Ausbuchtung der Blutgefäße,
die platzt und aus der große Mengen Blut aus-
treten, was zusammen mit einer Kleinhirn-
blutung einen erhöhten Hirndruck verursacht.
Gerhard wurde am selben Tag im Marburger
Uni-Klinikum operiert. Dann fiel er ins Koma.
Wir gehen in den Garten, setzen uns zu Ger-
hard Stoll und dem Vater. Der Wein, der am
Pavillon rankt, hat dicke Trauben gebildet.
Siegfried Stoll: Das ist Mutters Garten.
Gerhard Stoll: Nein, das ist unser Garten.
Wie man allgemein weiß, kann man auch
die Blätter des Weins genießen. Mein Blick
geht auf die Weide zu den schwarzen kana-
dischen wilden Rindern. Und zu den ver-
führerisch duftenden Blumen an der Per-
gola. Den Geruch kann ich mir vorstellen.
Sie genießen die Natur, Herr Stoll?
Ich finde die bergige Gegend des Lahntals
romantisch: wenn im Sommer der Nebel
weicht und die rote Sonne sich langsam in
einen goldenen Kugelkubus verwandelt.
Haben Sie eine Lieblingsblume?
Vergissmeinnicht.
Auf meiner Fahrt hierher fuhr ich durch
viele schöne Wälder.
Schön ist, wenn ich durch Norddeutsch-
land fahre, durch die ach so langen Alleen,
dann wird man so richtig von den Alleen in
den Arm genommen.
Siegfried Stoll: Gerhard, ich habe Frau
Kemper dein Zimmer gezeigt und die Ge-
räte, die du brauchst. Ich hatte dich ja vor-
her gefragt, ob ich das darf.
We l c h e s G e r ä t i s t f ü r S i e b e s o n d e r s w i c h-
tig, Herr Stoll?
Der Lift, der gibt mir die Mobilität.
Sie hatten geäußert, dass Sie sich etwas
wünschen, worüber sich auch Kinder
freuen. Denken Sie an ein Kuscheltier?
Eine ganz besonders eindrucksvolle Tierart
ist für mich das Nashorn, wenn es gefangen
wird und noch seine Stoßkraft zeigen kann.
Anfang September fahre ich wieder nach Mar-
burg. Ich werde Gerhard Stoll hier auf dem
Sommerfest treffen, zu dem der fib (Verein zur
Förderung der Inklusion behinderter Menschen)
eingeladen hat, der seine Pflege organisiert.
Volker Strümpe arbeitet beim fib und kennt
die Familie seit vielen Jahren.
Volker Strümpe: Die Situation von Ger-
hard Stoll ist ziemlich einzigartig. Was die
Stolls leisten, kann kein Krankenhaus. Er
ist erstaunlich gesund. Nur zu Hause kann
er ein selbstbestimmtes Leben führen, am
Leben von uns allen teilnehmen.
Was kostet eine Intensivpflege zu Hause?
Wenn ein Patient wie Gerhard Stoll – wir
sagen ja lieber Kunde – rund um die Uhr
versorgt wird, sind es etwa 23.000 Euro im
Monat. Reine Personalkosten.
Ich habe beobachtet, dass die Pflegerinnen
recht unterschiedlich arbeiten.
Die einen machen das konservativ, die
pflegen ihn heute wie vor 30 Jahren, was
Gerhard Stoll ja überleben lassen hat; andere
gestalten das eher flippig, die probieren was
aus. Ich glaube, Gerhard Stoll weiß, wie er
das Beste der jeweiligen Assistentin für sich
nutzen kann. Er hat jetzt einen Computer,
mithilfe dessen er kommunizieren kann. Er
wird ihm neue Welten eröffnen. Eine der
Assistentinnen hat erzählt, dass sie zum
ersten Mal von Gerhard nebenan gerufen
wurde – mit Computerstimme. Bisher
mussten die Assistentinnen alle fünf Minu-
ten schauen, ob er etwas will.
Als wir das Fest erreichen, bekommt Gerhard
Stoll gerade etwas zu essen: Streuselkuchen, ge-
mischt mit Kaffee.
Wü rd e n S i e g e rn w i e d e r s c h l u c k e n k ö n n e n?
Ja.