AM ANFANG DREI FRAGEN
- Wie viele müssen
dasselbe tun, damit
es normal ist?
Irgendwie beruhigend, wenn andere sich genauso
verhalten wie ich. Aber auch irgendwie beunruhigend:
Ich will doch einzigartig sein! Also, was denn jetzt?
einen die Annahme von Normalität als wertfrei mehr-
heitlich. Und auf der anderen Seite die Norm, die mit
sollen‹ zu tun hat.« Was wir als normal verstehen, sagt
sie, hänge besonders davon ab, was wir für gewünscht
halten, für so zial akzeptiert. Normal wird so zum Quali-
tätsurteil, es gilt als ›gut‹, ›angemessen‹ oder ›richtig‹.
Doch warum wollen wir überhaupt normal sein?
»Es ist keine Frage des Wollens«, entgegnet Villa Braslav-
sky. »Wir brauchen die Gesellschaft, das Mit ein an der.
Ohne Interaktion können wir nach der Geburt kaum
ein paar Stunden überleben. Eine Orien tie rung an an-
deren, an Gruppen, Regeln, Vorstellungen und Erwar-
tungen, ist für unser Leben ganz entscheidend.«
Im Umkehrschluss kann das Absprechen von Nor-
malität zu Ausgrenzung, Stigmatisierung und Diskrimi-
nierung führen. Denn Menschen definieren sich über
Unterschiede, um ihre eigene Identität zu festigen.
Selbst empirische Fakten werden von subjektiver Wahr-
nehmung übermalt. »Wir gehen davon aus, dass es im
- Jahrhundert normal war, dass Frauen zu Hause
bleiben«, erklärt Villa Braslavsky, »dabei ist belegt, dass
auch damals Frauen, gerade aus proletarischen Familien,
zu großen Teilen arbeiten gingen.« Entscheidend ist also
nicht nur, wie viele Menschen etwas tun, sondern auch,
ob sie damit die allgemeine Wahrnehmung prägen. Ob
also genug Menschen daran glauben.
Wie viele müssen denn nun dasselbe tun, damit es
normal ist? Das hängt stark davon ab, was wir eigentlich
meinen – eine statistische Häufigkeit oder eine Norm-
vorstellung. Hinzu kommt: »Wir streben alle nach In-
dividualität, nach Einzigartigkeit, nach Originalität«,
sagt Braslavsky, »Es ist Teil unserer Normalität geworden,
einzigartig sein zu wollen. Sonst gäbe es ja keine Liebe,
keine Kreativität, keine technischen Innovationen.«
Auch Individualität ist vor allem eins: normal. —
N
ennen Sie bitte möglichst schnell eine
Vogelart! Na, wer hat Spatz gesagt?
Taube? Oder Amsel? Das waren die
häufigsten Antworten bei einem Expe-
riment der Psychologin Eleanor Rosch
aus den frühen Siebzigerjahren. Die
Studie zeigt, dass alle eine bestimmte Vorstellung davon
haben, was typisch, was normal ist. Pinguine sind zwar
Vögel – aber irgendwie nicht normal. Oder?
In vielen Naturwissenschaften, in der Psychologie
und auch in der Wirtschaftsforschung wird die Frage
nach der Normalität recht eindeutig beantwortet. Sie
alle verlassen sich auf eine Norm, um Abweichungen
erkennen und auf sie reagieren zu können: bei der Dia-
gno se von Lernschwierigkeiten, der Bestimmung des
Blutdrucks oder von Aktienschwankungen. Wie sehr
etwas vom Durchschnitt abweicht, berechnen sie mit
der Gaußschen Normalverteilung. Vereinfacht gesagt
werden dafür alle erfassten Ausprägungen eines Phäno-
mens in ein Diagramm eingetragen. Dort bilden sie eine
Glockenkurve: Um den Scheitelpunkt sammeln sich die
am häufigsten vorkommenden Werte. Je weiter man
sich vom Mittelwert entfernt und je näher man somit
den Extremen kommt, desto mehr nimmt ihre Anzahl
ab. In der einfachen Berechnungsvariante gelten die mitt-
leren 68,27 Prozent der Werte als erwartbar, sprich nor-
mal. Wie viele Menschen müssen also dasselbe tun, damit
es normal ist? Statistisch betrachtet etwa zwei Drittel.
Im Alltag hilft die Rechnerei wenig. Stattdessen
stützen wir uns auf Schätzungen, Erfahrungen, Gefühle.
Kaum etwas ist so subjektiv wie die Normalität. »In dem
Begriff Normalität steckt eine widersprüchliche, fast
paradoxe Ambivalenz«, sagt Paula-Irene Villa Bras lav sky,
Professorin für Soziologie und Gender Studies an der
Ludwig-Maximilians-Universität in München. »Zum
Text Jakob Wittmann Foto Siegfried Hansen