Die Zeit Wissen - 01.2020 - 02.2020

(Barry) #1

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ie American Academy in
Berlin, eine Villa am Ufer
des Wannsees. Im Foyer
hängen Fotos von Film-
stars, Schriftstellerinnen,
US- und Bundespräsiden-
ten, die hier zu Besuch waren. Nicholas
Christakis, Freundschaftsforscher, Soziologe,
Arzt und Allround-Professor an der Yale
University, betritt das Kaminzimmer und
schwärmt von der Suite im Obergeschoss.
Normalerweise steige er auf Reisen in Uni-
versitätswohnheimen ab. Am nächsten Tag
wird er an der Universität der Künste über
die »evolutionären Ursprünge einer guten
Gesellschaft« reden, davon handelt auch
sein neues Buch Blueprint, das gerade auf
Deutsch erschienen ist. Der Kellner bringt
einen hausgemachten Eistee.


Professor Christakis, vor einiger Zeit haben
Sie Ihren Karate-Unterricht auf Twitter
erwähnt. Karate ist nicht gerade die Sport-
art, die man von einem Yale-Professor er-
warten würde, der über das Gute im Men-
schen forscht.
Nicholas Christakis: Bei Karate geht es
darum, den Kampf zu vermeiden. Für mich
standen bei dieser Kampfsportart immer
Gemütsruhe und Selbstbeherrschung im
Vordergrund. Manchmal lassen sich Kon-
flikte natürlich nicht vermeiden.
Wa r e n S i e m a l i n e i n e r s o l c h e n S i t u a t i o n?
Im Jahr 2015 war ich einmal von einer
Menschenmenge umzingelt ...
Meinen Sie den Streit darüber, welche
Halloween-Kostüme auf dem Campus er-
laubt sein sollten? Auf You Tube kann man
sehen, wie die Studierenden Sie be-
schimpfen. Sie wirken erstaunlich gefasst.
Ich hoffte, dass die Leute meinem Vorbild
folgen und ruhig bleiben würden. Hat leider
nicht wirklich funktioniert.
Eine Studentin schreit, Sie seien »ekel-
haft« und sollten nachts nicht schlafen.
Das ist die Ironie: Ich habe mein Erwachse-
nenleben damit verbracht, soziale Phäno-
mene und die Ursprünge des menschlichen
Mit ein an ders zu erforschen. Woher kommt
die Liebe? Wie kooperieren wir? Was lehren
wir ein an der? Wie freunden wir uns an?
Aber es ist auch wahr, dass ich mich in grö-
ßeren Gruppen noch nie wohlgefühlt habe.
Warum nicht?
Es klingt kontraintuitiv, aber damit unser
soziales Zusammenleben funktioniert, muss


eine wichtige Voraussetzung erfüllt sein:
Wir müssen uns evolutionär zu Individuen
entwickelt haben. Wir Menschen können
in einem Meer von Tausenden Gesichtern
zwischen dem einen Gesicht und einem
anderen unterscheiden. Wir haben diese im
Tierreich seltene Fähigkeit entwickelt, damit
wir unsere Identität kommunizieren kön-
nen. Du willst nicht, dass deine Eltern ver-
sehentlich ein anderes Kind füttern; du willst
nicht vergessen, mit wem du Sex hattest; du
willst dir merken, wer nett zu dir war. Da-
für brauchen wir die Möglichkeit zu kom-
munizieren: Das bin ich, nicht jemand an-
deres. Die individuelle Identität ist sehr
wichtig. Aber manchmal stellen wir sie
hintan, um die Bedürfnisse der Gruppe über
unsere eigenen zu stellen. Unsere Vorfahren
bildeten Gruppen, um Großwild zu töten
oder sich gegen Raubtiere zu verteidigen.
Aber das ist doch eine gute Sache.
Sicher. Nur wenn wir es übertreiben, dann
werden wir ein Mob, und das ist gefährlich.

Viele der schlechten Dinge, die wir tun, sind
Auswüchse unserer guten Eigenschaften.
Zum Beispiel können wir Informationen
austauschen, aber wir können uns auch ge-
genseitig anlügen und über andere Men-
schen lästern. Gleiches gilt für Gruppen.
Ich halte es mit den alten Griechen: alles in
Maßen, nichts im Übermaß.
Der letzte Satz Ihres neuen Buchs »Blue-
print« lautet: »Der Bogen unserer Evo lu-
tions ge schich te ist weit, aber er neigt sich
zum Guten« ...
... in Anlehnung an Martin Luther King. Er
sagte: »Der Bogen des moralischen Univer-
sums ist weit, aber er neigt sich zur Gerech-
tigkeit.« Was ich sagen will: Wir Menschen
haben diese lange Geschichte, und über den
Zeitraum von Hunderttausenden Jahren
führt sie in Richtung des Guten.
Woher nehmen Sie diesen Optimismus?
Steven Pinker und andere argumentieren,
dass die historischen, kulturellen und tech-

nologischen Kräfte seit der Aufklärung die
Menschheitsgeschichte zum Besseren ver-
ändert haben. Die Erfindung der Dampf-
maschine, demokratische Prinzipien, philo-
sophische Ideen über die Gleichheit der
Menschen: Sie haben unser Leben sicherer
und friedlicher gemacht. Der Wohlstand
und die Lebenserwartung nehmen zu. Das
stimmt alles. Aber mein Punkt ist, dass
mächtigere und tiefere Kräfte am Werk
sind, die eine gute Gesellschaft vorantrei-
ben. Kräfte, die die Evolution geprägt hat:
unsere Fähigkeit zu Freundschaft, Liebe,
Kooperation. Wir finden sie in allen Gesell-
schaften der Welt.
Wenn Sie aus diesem Fenster über den
Wannsee schauen, steht auf der anderen
Seite der Bucht das Haus der Wannsee-
Konferenz, in dem die Nazis den Massen-
mord an der jüdischen Bevölkerung in
Europa abgesegnet haben. Wenn das Gute
in unserer DNA verwurzelt ist, wie konnte
das passieren?
Es ist wichtig, zu unterscheiden zwischen
unseren Fähigkeiten und den Zielen, für die
wir diese Fähigkeiten nutzen. Die Nazis
kannten Freundschaft und Kooperation.
Aber sie verfolgten damit verwerfliche
Zwecke. Ich gebe zu, dass die moralische
Schlussfolgerung, etwas »gut« zu nennen,
nachträglich geschieht. Evolution hat keinen
Zweck. Aber die Evolution hat uns soziale
Fähigkeiten gegeben, sonst könnten wir
nicht zusammenleben. Es ist wichtig, daran
zu erinnern, dass der Mensch keine natür-
lichen Feinde hat. Unser gefährlichster
Gegner sind andere Menschen. Wir sind
unsere schlimmsten Raubtiere.
Wa s i s t m i t L ö w e n u n d S ä b e l z a h n t i g e r n?
Sie waren harmlos im Vergleich zu Men-
schen, die andere Menschen töten. Das war
ein wichtiger Selektionsdruck: Wir mussten
lernen, mit der Gegenwart anderer Men-
schen umzugehen. Viele der sozialen Werk-
zeuge, die wir auf diese Weise ausgebildet
haben, ermöglichen uns ein friedliches und
effektives Zusammenleben.
Wiederum mit Ausnahme von Pogromen,
Kriegen, Sklaverei, Folter.
Mit dieser Frage haben Theologen lange
Zeit gerungen. Es ist die Theodizee: Wie
können wir an einen allmächtigen und
gütigen Gott glauben, wenn es doch so viel
Leid und Gewalt auf der Welt gibt?
Sind Sie religiös?
Eher nicht. Ich halte es mit Shakespeare,

Unser gefährlichster
Gegner sind andere
Menschen. Das hat
Auswirkungen auf die
Evolution gehabt
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