Neue Zürcher Zeitung - 18.02.2020

(Darren Dugan) #1

Dienstag, 18. Februar 2020 ∙ Nr.40 ∙ 241. Jg. AZ 8021Züri ch∙ Fr .4. 90 ∙ €4.


Gentechnologie: Die Lautstärke der Gegner übertönt die Vernunft Seite 12


Neue Spuren im Fall «Würenlingen»


Undurchsichtige Rolle der Geheimdi enste beim ungeklä rten Anschlag auf die Swissair


-yr./tri.· AmkommendenFreitag jährt
sich der Absturz einesPassagierflug-
zeugs derSwissair in der Aargauer Ge-
meindeWürenlingen zum 50. Mal. Die
Convair Coronado war am 21. Februar
1970 von Zürich nachTel Aviv unter-
wegs, als kurznach dem Start eine
Bombe imFrachtraum explodierte. Weil
daraufhinFeuer ausbrach undRauch ins
Cockpit drang, misslang die angestrebte
Rückkehr nach Kloten.Das Flugzeug
stürzte in einWaldstück,alle 47 Insas-
sen waren sofort tot.
Die Paketbombe war von einer paläs-
tinensischenTerrorzelle inFrankfurt
präpariert und vermutlich in München


zur Post gebracht worden. Über Um-
wege landetesie im Linienflug der Swiss-
air nach Israel. Ermittlungen wurden so-
wohl in Deutschlandwie in der Schweiz
geführt. Obwohl die vier mutmasslichen
Täter schnell bekannt waren und zwei
von ihnen in Deutschland sogar einige
Monate lang in Untersuchungshaft sas-
sen, kam es nie zu einer Anklage. Das
nährte Spekulationen über Abspra-
chen oder über eine Appeasementpoli-
tik gegenüber den palästinensischen
Attentätern.
Neue Hinweise aus amerikanischen
Geheimdienstkreisen liefern nun eine
mögliche Erklärungfür die Passivität

der Justizbehörden.Laut diesen Hin-
weisen soll es zwischen zwei ausländi-
schen Nachrichtendiensten zu einem
folgenschweren Missverständnis ge-
kommen sein. Die Mitglieder derTer-
rorzelle sollen während derVorberei-
tungen des Anschlags zwar überwacht,
aus unerklärlichen Gründen aber nicht
festgenommen worden sein. Ein Insider
spricht von einer verheerendenKom-
munikationspanne, die angesichts der
Tragödie unmöglich habekommuniziert
werdenkönnen. ImFokus steht in erster
Linie der Verfassungsschutz eines deut-
schen Bundeslandes.
Schweiz, Seite14, 15

ALTAF QADRI / AP

Eine Schneise


für fromme Hindus


Baumaschinen fressen sich durch die Altstadt vonVaranasi, dem einst Benares ge-
nanntenWallfahrtsort am Ganges. Hunderte von Häusern sollen einem Pilgerkorri-
dor vom heiligen Fluss zu einem der wichtigsten Hindu-Tempel weichen. So hat es
der indische Premierminister Narendra Modi angeordnet, um ein Zeichen für sein
«neuesIndien» zu setzen. International, Seite 6, 7

«Das ist ein Marktversagen»


Der Schutz des Klimas erfordert la ut dem Verhaltensökonome n Nick Netzer Staatseingriffe


tf.· Die Ernährung ist in der Schweiz für
rund einViertel der CO 2 -Emissionen
verantwortlich. Um diesenFussabdruck
zu verringern, versuchen verschiedene
Kantinen in Zürich ihreKunden mit-
tels Nudging, also sanften Stupsens, zu
einer klimafreundlicheren Ernährung zu
bewegen. DerVerhaltensökonom Nick
Netzer von der Universität Zürich hält
diesen Ansatz aber für unpassend,wie er
im Interview mit der NZZ erklärt.
Zum Schutz des Klimas brauche es
nichtein blosses Stupsen, sondern direk-
tere und mit Zwang einforderbare Mass-
nahmen,sagt Netzer. Denn der Klima-
wandel verursache Kosten für die Ge-


se llschaft. «Das ist ein Marktversagen
undrechtfertigt staatliches Eingreifen,
etwa über Lenkungssteuern.» Er sehe
nicht ein, warum man bei der Klima-
frage nur sanft stupsen solle– un d jede
Person weiterhin frei entscheidenkönne,
wie stark sie die Umwelt belasten wolle.
In einem verhaltensökonomischen
Experiment hatten zuvor sechs Zürcher
Personalrestaurants mit diversen Mass-
nahmen versucht, die Besucher für die
Wahl von klimafreundlichen Menus zu
begeistern. Die Massnahmen setzten
auf Freiwilligkeit und verzichteten auf
preisliche Anreize. DerVersuch stiess
auf grosseAkzeptanz.Während des acht-

wöchigenTests konnte der CO 2 -Ausstoss
um durchschnittlich19 Prozent gesenkt
werden;beim erfolgreichstenRestaurant
betrug das Minussogar 42 Prozent.
Eine Nachmessung sieben Monate
nach dem Experiment zeigte jedoch,
dass vieleKunden wieder zu ihrem
früheren Essverhalten zurückgekehrt
waren. DieWirkung der Massnahmen
liess alsorelativrasch nach. Netzer zeigt
sich von diesemResultat wenig über-
rascht. Er betont, dass vieleVerhaltens-
änderungen aufgrund von Nudging bei
weitem nicht so stabil seien, wie dies bis-
weilen dargestellt werde.
Wirtschaft, Seite 23

Coronakrise kommt

Trump gelegen

US-Konzerne verlager n Produktion au s China


Die Epidemie in China
beschleunigt den Strukturwandel.
Von derVerlegung der
Produktion profitieren neben
anderenLändern auch die USA.

CHRISTOF LEISINGER, NEWYORK

In China breitet sich das Coronavirus
weiterhin aus, das Ausmass der volks-
wirtschaftlichenFolgen lässt sich noch
ga r nicht abschätzen. Die Quarantäne-
und anderen Massnahmen werden das
Wachstum kurzfristig, aber sicher be-
lasten.Fachleuterechnen auch damit,
dass dieSeuche den Strukturwandelim
Welthandelbeschleunigt, der interna-
tional tätigeFirmen immer öfter dazu
bewegt,Teile der Produktion aus China
abzuziehen.

Der Welthandel ist gestört


Die Coronakrise hat deutlich gemacht,
wie nachteilig dieKonzentration der
Produktion vonWaren und Dienstleis-
tungenoder von wichtigenBauteilen in
einemLand wie China sein kann. Sobald
die Fabriken dort länger als geplant still-
stehen, bringt das die Lieferketten, das
operative Geschäft des ganzenKonzerns
und letztlich auch den gesamtenWelt-
handel durcheinander. In den vergange-
nen Jahren der scheinbar unaufhaltsa-
men Globalisierung ist dieser aufgrund
der NutzungkomparativerVorteile bei
fast friktionslosen Handels- und günsti-
gen Transportmöglichkeiten immer ver-
netzter und offensichtlich auch verletz-
licher geworden.
In den USA wird damit gerechnet,
dass derVerkauf von Hightech-Pro-
dukten, von Kleidern und Schuhen,
von elektronischenKonsumgütern, von
Haushalts- undBastelprodukten, aber
auch von Medikamenten im ersten
Quartal aufgrund der Produktionsver-
zögerungen in China zurückgehen wird.
Grössere Umsatzeinbussenkommen auf
Anbieter hochwertiger Produkte zu, auf
Firmen wie Apple oder Qualcomm, die
ihre Smartphones und elektronischen
Chips schwerpunktmässig imReich der
Mitte bezogenund per Luftfracht in die
USA transportiert haben, um sie mög-
lichst schnell auf den Markt zu bringen.
Aber jetzt ist der Luftverkehr stark ein-
geschränkt.
Gegen solche Unwägbarkeiten hilft
nur die Diversifikation, also die Pro-
duktion in verschiedenenLände rn –
vorzugsweise näher an den Absatz-
märkten als bisher. So können interna-
tional tätigeKonzerne «produktions-
technische Klumpenrisiken» vermeiden
und zügig auf handelspolitischeFriktio-
nen oder andere Störfaktoren reagie-
ren. Dieser Strukturwandel hat schon
vor einerWeile zögerlich eingesetzt
und die Globalisierung gebremst, weil
die Produktionskosten in China auf-
grund steigender Löhne und zuneh-
menderRegulierung tendenziell anzie-
hen. Gleichzeitig erlaubt der technolo-
gischeFortschritt heute die individua-
lisierteAutomatisierungkomplexester
Prozesse – das ermöglicht dieRückkehr
von Produktionsanlagen inWeltgegen-

den mit hohenPersonalkosten und ent-
sprechend hoher Kaufkraft.
Dieser Trend hat sich beschleu-
nigt, seit der amerikanische Präsident
DonaldTrump den Handelskonflikt mit
China losgetreten hat.Auch die Sorge
um eine technologischeTrennung der
Welt in West und Ost, wie sie sich in den
Diskussionen um die chinesischeFirma
Huawei offenbart, mag dazu beitragen,
dass derWert amerikanischer Importe
aus China in den vergangenen Monaten
zurückgegangen ist. Gleichzeitig ist die
Zahl der offenen Stellen bei amerikani-
schen Industrieunternehmen gesunken.
Diese Entwicklung widerspricht der
verbreiteten Meinung, wonach einmal
aus Industrieländern in Schwellenländer
verlagerte Arbeitsplätze nie wieder zu-
rückkehren.Laut einer Umfrage, die die
InvestmentbankBank of America Mer-
rill Lynch unter 3000 nichtchinesischen
Unternehmen durchgeführt hat, planen
gut 80 Prozent der international täti-
gen Firmen in Nordamerika, in Europa
und im asiatisch-pazifischenRaum zu-

mindest einenTeil ihrer Lieferketten zu
verlegen. Die meisten dieserVerschie-
bungenschienen geringen Umfangs zu
sein, schreibt dieBank. Aber die Breite
des Strukturwandels lege nahe, dass der
Trend von der Globalisierung zur Loka-
lisierungreal sei.

EinetektonischeVerschiebung


Die vonTrump verhängten Zölle tragen
zu diesemWandel bei.Auch technolo-
gische Innovationen spielen eineRolle.
So lässt der mögliche Einsatz von intel-
ligentenRobotern oder sonstigen auto-
matisierten Produktionsprozessen be-
stehende Lohnkostengefälle in neuem
Licht erscheinen – vor allem angesichts
der Erfahrung, wie schnell dieVergütun-
gen inLändern wie Tschechien oder
Polen in den vergangenenJahren gestie-
gen sind.Auch steuerliche Überraschun-
gen dürfte es geben,sobald die Organisa-
tion für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung ihre Reformpläne für
die Besteuerung internationalerKon-
zernekonkretisiert. Standen ursprüng-
lich dieRegeln für Internetkonzerne wie
Facebook,Amazon und Google im Zen-
trum, wurde das Spektrumauf amerika-
nisches Bestreben hin auf zahlreiche wei-
tere Unternehmen ausgeweitet.
Während China dieLast dieser tek-
tonischenVerschiebung zu spüren be-
käme, würden andere asiatische Staaten
wie Vietnam oder Indien davon profi-
tieren. Manche amerikanische Unter-
nehmen, insbesondere im Hightech-
Bereich, erwägen jetzt sogar die Heim-
holung der Produktion.

Die Krise zieht Kreise
Ein reiseverbot:Studenten aus China
sind inAustralien unerwünscht. Seite 5

Eingesperrt:Ein Westschweizer erzählt
über sein Leben inWuhan. Seite 20

Versicherungen:Epidemierisiken
sind höchstkomplex. Seite 25

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