Neue Zürcher Zeitung - 18.02.2020

(Darren Dugan) #1

SCHWEIZSDienstag, 18. Februar 2020 Dienstag, 18. Februar 2020 CHWEIZ


Missverständnis


zweier


Geheimdi enste?


50 Jahre nach dem Swissair-Absturz in Würenlingen


bleiben viele Fragen unbeantwortet. Jetzt sind in den


USA neuebrisante Hinweise aufgetaucht


In einemHangar am Flughafen Zürichwerden im März 1970die Trümmerteile der abgestürztenCoronado ausgelegt. ULLSTEIN / GETTY

Flughafen verweigerte die El Al just an
jenemTag die Annahme vonPaketpost.
Und in München fiel der El-Al-Linien-
flug gleich ganz aus.
Angeblich wurde er über den Flughafen
Köln-Bonn umgeleitet, da dort eine grös-
sereReisegruppe hätte zusteigen wol-
len.Dassdie in München aufgegebene
Bombe nicht schon auf demTr ansferflug
nach Zürich explodiert war, erklärtendie
Ermittler später mit dem Umstand, dass
die für dieAuslösung nötige Flughöhe
nicht erreicht worden sei.

Sie gehen also davon aus, dass die israe-
lische Seite vorinformiertwar?

Die Indizien sprechen jedenfalls eine
klare Sprache. Bemerkenswert ist etwa,
dass dieFrankfurter Kriminalpolizei
bereits amTag nach den zwei Bomben-
anschlägen, am Abend des 22.Februar
1970, den präzisen Hinweis eines israe-
lischen Medizinstudenten auf die beiden
Haupttäter und ihre beiden Unterstüt-
zer erhielt. Unmittelbar darauf stellte
dann die israelische Botschaft in Bonn
dem Bundeskriminalamt ein Fahn-
dungsfoto und biografische Details des
mutmasslichen Haupttäters, Sufian Kad-
doumi, zurVerfügung.

In der Schweiz ist die Debatte um den
Flugzeugabsturz beiWürenlingenin den
vergangenen 50Jahren immer wieder
aufgeflammt. Die Schwere und dieTr a-
gik des Anschlags bewegen die Öffent-
lichkeit bis heute. Für Irritation sorgt
vor allem dieTatsache, dass nie jemand
fürdasVerbrechen zurRechenschaft
gezogen wurde. Es gab zwar eindeu-
tige Hinweise darauf, dass sich die bei-
den mutmasslichen Haupttäter (Sufian
Kaddoumi und MusaJawher) nach ihrer
Flucht inJordanien aufhielten. Doch die
Fahndungs- undRechtshilfebemühun-
gen der Strafverfolgungsbehörden blie-
ben erfolglos.
Auch eine ausgesetzte Belohnung
führte nicht zur Ergreifung der beiden
Palästinenser.Ja hre später berichtete
ErnstSulser, der1970 für die Ermittlun-
gen der Kantonspolizei Zürich verant-
wortlich gewesen war, dass die israeli-
schePolizei ihm mitgeteilt habe, sie wisse,
wo sich Sufian Kaddoumi aufhalte. Sie
sei «jederzeit bereit, ihn für uns ausJor-
danien zu holen». Der damalige Bundes-
anwalt, so Sulser, habe aberkeine «sol-
cheRechtshilfe» gewollt.
1995 veranlassten Medienberichte
zum 25. Gedenktag die amtierende Bun-
desanwältin Carla DelPonte, denFall
wieder aufzunehmen. Sie erklärte, die
Tat sei «unverjährbar», und erneuerte
den internationalen Haftbefehl gegen
die beiden mutmasslichen Täter. Doch
auch DelPontes Intervention brachte
keinenDurchbruch, die Bundesanwalt-
schaft stellte das Ermittlungsverfahren
imJahr 20 00 ein.
Die Veröffentlichung des Buchs
«SchweizerTerrorjahre» brachte 20 16
noch einmal Bewegung in die Sache.
Aufgeworfen wurde darin dieFrage, ob
die Schweizer Behörden durch ein Ge-
heimabkommen mit derPalästinensi-
schen Befreiungsorganisation (PLO)
möglicherweise auch Straffreiheitfür
die Attentäter vonWürenlingen zuge-
sichert hatten. Zwei daraufhin einge-
setzte Untersuchungsbehörden kamen
jedoch beide zum Schluss, dass eskeine
Hinweise auf eine politisch motivierte
Behinderung der Strafuntersuchung ge-
geben habe.
Im Sommer 20 18 schliesslich erliess
Bundesanwalt MichaelLauber, von der

Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt,
eine «Nichtanhandnahme- und Nicht-
wiederaufnahmeverfügung» – zuvor
hatte der langjährige Gemeindeammann
vonWürenlingen um eine erneuteAuf-
nahme des Strafverfahrens ersucht.
Im Einklang mit den zwei Unter-
su chungsbehörden kam Lauber zum
Schluss, es fänden sichkeine Hinweise
darauf, dass «sachfremde Motive» Ein-
fluss auf denkorrekten Gang der Straf-
untersuchung gehabt habenkönnten.
Auf merkwürdigeVorgänge in den da-
maligen Ermittlungen gingLauber in
seinerVerfügung nicht ein. So bleibt es
bis heute unerklärlich, wieso zwei drin-
gend tatverdächtige Gehilfen des Atten-
tats bereits imJuni1970 aus Deutsch-
land abgeschoben wurden. Die Bun-
desanwaltschaft schrieb dazu lapidar,
den deutschen und den schweizerischen
Strafverfolgungsbehörden sei es nicht
gelungen, «rechtsgenügliche Beweise für
eine Mittäterschaft zu erbringen».
Das schätztWolfgang Kraushaar
anders ein.

Herr Kraushaar, wie erklären Sie sich
die merkwürdigen Abschiebungen?
In einemFall lautete die Begründung
doch tatsächlich, dieAufenthaltsbewil-
ligung desJordaniers sei abgelaufen –
er halte sich illegal in Deutschland auf
und müsse deshalb abgeschoben wer-
den. Eine andere Erklärung lautete, die
Verdachtsmomente hätten nicht erhär-
tet werdenkönnen. Beides ist nun wirk-
lich an den Haaren herbeigezogen.Wer
die Vernehmungsprotokolle der bei-
den liest, erkennt zweifelsfrei: Nach an-
fänglichenVersuchen, alles abzustrei-
ten, hatten sie immer mehr eingeräumt


  • schliesslich waren sie so gut wie über-
    führt.Tr otzdem liess man sie frei und
    schob sie mit fadenscheinigen Grün-
    den ab.


Wie wurde die Abschiebung denn be-
gründet?
Nun, man hat den Eindruck, dieVerant-
wortlichen hätten förmlich nach einer
Legitimation gesucht, um den Entscheid
rechtlich akzeptabel zu machen. So
teilte die deutsche Bundesanwaltschaft
demAuswärtigen Amt geradezu ent-
schuldigend mit, dieAusweisungen seien
trotz einem «nicht ganz von der Hand
zu weisendenTatverdacht» erfolgt.Für
mich bleibt an diesem Entscheid der
Eindruck einesrechtsstaatlichen Defi-
zits haften. Mir scheint, als habe es im
Hintergrund womöglich eine politische
Entscheidung gegeben, der dann das
oberste Strafverfolgungsorgan des Bun-
des gefolgt ist.

Ist das eine quellengestützte Annahme
oder bloss Spekulation?
Beim fragwürdigen Entscheid, zwei
dringend tatverdächtige Gehilfen ab-
zuschieben,könnenwirin den Doku-
mentenwohl blossdie juristischeAus-
senhaut erkennen – nicht aber die poli-
tischen Überlegungen, die dahinter ge-
standen haben dürften.Dazu muss man
wissen, dass die sozial-liberaleKoali-
tion mit BundeskanzlerWilly Brandt
undAussenministerWalter Scheel da-
mals ja erst wenige Monate im Amt war.
Neben einer neuen Ostpolitik arbeitete
man auch auf eine neue Nahostpolitik
hin.Das geht jedenfalls aus den Kabi-
nettsprotokollen hervor. Darin sieht
man aber auch, dass die Bundesregie-
rung grosse Angst vor Anschlägen durch
Palästinenser hatte. Möglicherweise hat
man die beiden Abschiebungen also
aus Sicherheitsgründen vorgenommen,
ohne dass die politischVerantwortlichen
dafür direkt in Erscheinung treten muss-
ten. Bemerkenswert ist zudem, dass der
Entscheid, die zwei inhaftiertenPalästi-
nenser freizulassen, erst nach deren Ab-
schiebung in den Nahen Ostenkommu-
niziert wurde.

Eine mögliche Erklärung für den
seltsamen Vorgang bringen Recher-
chen der NZZ in amerikanischen Ge-
heimdienstkreisen. So erklärt ein Infor-
mant, derviele Jahre für einen Diensttä-
tig war, in US-Archiven gebe es stapel-
weise Akten zu«Würenlingen», die aber
noch unterVerschluss seien. Gemäss
seinen detaillierten Schilderungen liegt
den zwei Bombenanschlägen eine tragi-
scheKommunikationspanne zugrunde.
Daran beteiligt seien insbesondere der
israelischeAuslandgeheimdienst Mos-
sad und der lokale Inlandgeheimdienst,

dasLandesamt fürVerfassungsschutz
(LfV) Hessen.Das würde erklären,
wieso die deutschen Behörden nicht das
Risiko eines Straf- und Gerichtsverfah-
rens eingehen wollten:Damit hätten sie
riskiert, dass die verhängnisvollePanne
ansTageslichtkommt.
Wie der amerikanische Insider im
mehrstündigen Gespräch mit der NZZ
erläuterte, habe der Mossad die paläs-
tinensischeTerrorzelle um Sufian Kad-
doumi inFrankfurt auf ihremRadar
gehabt.Einzelne Mitglieder der Zelle
hätten während ihresAufenthalts in
Deutschland häufig mit ihrenFamilien zu
Hause telefoniert. DieseTelefongesprä-
che soll der Mossad abgehört und so von
den Anschlagsplänen erfahren haben.
Aufgrund dieser Geheimdienstinfor-
mation ergriffen die israelischen Sicher-
heitsbehörden die bekannten Massnah-
men, mit denen sie die Flugzeuge der El
Al aus dem «Schussfeld» nahmen: die
Umleitung des Fluges in München und
die vorübergehende Nichtannahme von
Paketpost inFrankfurt.
Wie der Insider weiter festhält,gaben
die israelischen Behörden die «intelli-
gence» auch nach Deutschland weiter.
Diesbezüglich gibt es eine gewisse Un-
schärfe:Partnerdienst und somit direk-

ter Ansprechpartner für den Mossad ist
in derRegel der Bundesnachrichten-
dienst (BND), der deutscheAusland-
geheimdienst. Involviert war möglicher-
weiseaberauch der Inlandgeheimdienst,
das Bundesamt fürVerfassungsschutz
(BfV).Laut Angaben des Insiders steht
aber fest, dass die Information aus Israel
zum Schluss an das LfV Hessen gelangt
sei. Dieses ist fürVorgänge inFrankfurt
zuständig.
Doch in derFolge wurden offenbar
weder die vier Mitglieder derTerror-
zellefestgenommen, noch wurden die
zwei präpariertenPaketbombenkon-
fisziert und unschädlich gemacht.Der
Insider spricht von einem fatalen Miss-
verständnis. Über die Hintergründe die-
ser verhängnisvollenKommunikations-
panne kann nur spekuliert werden. Eine
mögliche Erklärung wäre,dass man in
Deutschland, im Gegensatz zu Israel, da-
mals zu wenig sensibilisiert war fürTer-
roranschläge und man dem Hinweis des-
halb zu wenig Beachtungschenkte.
Auch dieFrage zur möglichenVer-
antwortung ist aufgrund der dünnen
Quellenlage vorläufig nicht zu klären. In
dieWeitergabe derhochsensitiven Infor-

mationen waren offensichtlich verschie-
dene Geheimdienste in Israel und in
Deutschland involviert. ImFokus steht
in erster Linie das LfV Hessen. Doch
die anderen involvierten Dienste tragen
mindestens eine Mitverantwortung. In
einem Punkt waren sich laut Insider alle
Beteiligten einig: Angesichts derTr agö-
die, die 47 Menschen das Lebenkostete,
sei es unmöglich gewesen, dieKommu-
nikationspanne offenzulegen.
Ohne von diesenVorgängen zu wis-
sen, hatteRobert Akeret bereits Ende
201 4 gegenüber der NZZ gesagt, über
denFall Würenlingen sei «ein Mantel
des Schweigens» ausgebreitet worden.
Als Angehörigerder Bezirksanwalt-
schaft Bülach hatte Akeret1970, imAuf-
trag der Bundesanwaltschaft, den Flug-
zeugabsturz derSwissair untersucht. Be-
reits wenigeMonate später schloss er
die Untersuchung ab und übergab den
Bericht persönlich dem damaligen Bun-
desanwalt – HansWalder. Danach hat
Akeret nichts mehr aus Bern gehört.Für
ihn blieb es stets unerklärlich, wieso das
Verfahren nicht weiter vorangetrieben
worden ist. «Da müssen auf höchster
Ebene Dinge passiert sein, die ich nicht
durchschaue», sagte er damals wörtlich
im Interview mit der NZZ.
Die Schweiz hatte in den1970erJah-
ren nochkeinen eigenständigen Nach-
richtendienst. GeheimdienstlicheAufga-
ben nahm die Bundespolizei wahr, die
damals in die Bundesanwaltschaft inte-
griert war. Wie weit die SchweizimFall
«Würenlingen» an einer allfälligen Ab-
sprache der deutschen und der israeli-
schen Geheimdienste involviert war,
ist ungewiss. Dokumentiert ist zumin-
dest, dass die Abschiebung der zwei tat-
verdächtigen Gehilfen in Deutschland
im Sommer1970 in Absprache mit der
Schweizer Bundesanwaltschaft erfolgte


  • gegen denWillen der Ermittler vor
    Ort. Akerets engster Mitarbeiter, der in-
    zwischen verstorbene Ernst Sulser von
    der Kantonspolizei Zürich, beschwerte
    sich bei der Bundesanwaltschaft noch
    vieleJahre später über die für ihn un-
    erklärliche Abschiebung. Dadurch blieb
    Sulser eine persönliche Befragung der
    mutmasslichen Gehilfen verwehrt.
    Die neuen Informationen aus den
    USA sind ebenso brisant wie stim-
    mig. Sie zu verifizieren, ist allerdings
    schwierig. Die involvierten Amtsstel-
    len in Deutschland verweisen allesamt
    auf dieAufbewahrungsfrist von dreis-
    sigJahren.Allfällige Dokumente befän-
    den sich längst nicht mehr in den jewei-
    ligen Archiven, sondern hätten dem
    Bundesarchiv übergeben werden müs-
    sen.Auf Anfrage der NZZ antwortet
    das Bundesarchiv inKoblenz in schrift-
    licherForm wie folgt: «Für IhreFragen
    kämen möglicherweise zwei Akten in
    Betracht. Allerdings sind diese alsVer-
    schlusssachen eingestuft,und die Einstu-
    fung wurde zudem verlängert.Daher ist
    nicht damit zurechnen, dass in nächster
    Zeit eine Deklassifizierung zum Zwecke
    der Einsichtnahme erfolgt.»
    Auf Nachfrage präzisiert das deut-
    sche Bundesarchiv, es handle sich um
    Akten des Bundeskanzleramtes, die
    Verlängerung derVerschlussakten sei
    Anfang 2017 erfolgt. Auch die israe-
    lische Seite hält sich in der Sache be-
    deckt. Israels Botschaft in Bern rich-
    tet aus: «Die Anfrage betrifft Informa-
    tionen über israelischeGeheimdienste.
    Das sind Informationen, zu denen wir
    keinen Zugang haben und die wir nicht
    weitergeben dürfen.»
    Für denTerrorismusexpertenWolf-
    gang Kraushaar sind die Hinweise aus
    den USA eine interessante neue Spur:
    «DieThese, dass es ein Missverständnis
    zwischen zwei Geheimdiensten gegeben
    habe, istanschlussfähig an meine eigenen
    Recherchen. Sie wäre eine plausible Er-
    klärung für eine Leerstelle meinerFor-
    schung. Mit ihr würde eine Antwort auf
    dieFrage gegeben werdenkönnen, wieso
    die Israeli von den geplanten Anschlägen
    offenbar gewusst, aber ihre europäischen
    Partner nicht darüber informiert haben.
    EinFragezeichen bleibt für Kraus-
    haar allerdings stehen: wieso die betei-
    ligten Geheimdienste nach der Notlan-
    dung der Maschine derAustrian Air-
    lines inFrankfurt an jenem 21. Februar
    1970 keine generelleWarnung an an-
    dere Fluggesellschaften erteilten, ob-
    wohl noch rund zwei Stunden Zeit ge-
    wesen wäre.«So hätte der fatale Start
    derSwissair-Coronado in Zürich viel-
    leicht doch noch in letzter Minute ver-
    hindert werdenkönnen.»


Wolfgang Kraushaar
IMAGO Politikwissenschafter

«Dem israelischen
Aussenminister
sollten sozusagen
zwei Bomben
beziehungsweise
die Überreste zweier
El-Al-Maschinen
vor die Füsse
geworfen werden.»

Wolfgang Kraushaar

Angesichts
derTragödie,
die 47 Menschen
das Leben kostete,
sei es unmöglich
gewesen, die
Kommunikationspanne
offenzulegen.

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