34 FEUILLETON Dienstag, 18. Februar 2020
Auch starke Männer treten einmal ab
Die Geschichte lehrt uns, dass gerade Dikta toren eher nicht im Bett ster ben.Von Niall Ferguson
Es gilt als fast allgemein anerkannte
Wahrheit,dass inzwischen starkeMän-
ner dieWelt regieren. Es istlange her,
dass«T he Economist» Angela Merkel
schmeichlerisch als «unentbehrliche
Europäerin» titulierte und die«Finan-
cialTimes» sie als «Anführerin der
freienWelt» pries.
Wie der kürzlich ausgezeichnete
amerikanische Talkradio-Star Rush
Limbaugh anmerkte, ist DonaldTr ump
als dreimal verheirateter Mann in
Washington «Mr. Man» (auch als sar-
kastische Bezeichnung für «Macho» ge-
braucht). Dies im Gegensatz zum ehe-
maligen Bürgermeister von South Bend,
Indiana,Pete Buttigieg, seinem poten-
ziellen Rivalen um die Präsidentschaft,
der nur einmal verheiratet ist, und das
mit einem Mann.
In London hat BorisJohnson derweil
gerade sein Kabinett gesäubert, womit
er – möglicherweise früher als beabsich-
tig t – seinen Schatzkanzler und mehrere
andere unabhängig denkende Minister
verloren hat. InPeking hat Xi Jinping
schon damit angefangen, die Schuld an
der Coronavirus-Epidemie auf Provinz-
beamte in Hubei abzuwälzen, anstatt
dem übertrieben zentralisierten,repres-
siven und zwanghaftlügenden politi-
schenSystem, in dem er denVorsitz hat,
dieVerantwortung zu geben.
In Riad hat nach wie vor Kronprinz
Mohammad bin Salman das Sagen, ob-
wohl er allem Anschein nach die Ermor-
dung desJournalistenJamal Khashoggi
angeordnet hat. Und Nicolás Maduro
lässt keine Absichtenerkennen, aus
Caracas zu fliehen, obwohl er es ge-
schafft hat, dieWirtschaftVenezuelas so
katastrophal zusammenbrechen zu las-
sen, dass mehr als vier Millionen Men-
schen aus demLand geflohen sind.
DerobersteBossheisstPutin
Starke Männer, wohin man schaut: von
Jair Bolsonaro in Brasilien undRodrigo
Duterte in Manila zu Narendra Modi in
Delhi und KimJong Un in Pjongjang–
nicht zu vergessenViktor Orban in Buda-
pest.An der Spitzeder autoritären Gilde
sitzt Wladimir Putin, der russische Prä-
sident, der (so sagt man) privat das Le-
ben eines laszivenrömischen Impera-
tors lebt. Reicher, als selbst Krösus sich
hätte träumen lassen, Herr von allem,
was er inRussland überblickt, und bei
weitem der geschickteste Mitspieler in
dem grossen Spiel, das wir Geopolitik
nennen. Putin ist der «Boss der Bosse».
Erst kürzlich hat er fast spöttisch eine
Umstrukturierung angekündigt, gegen
dieJohnsons jüngste Bemühungen wie
dasHerumbasteln an der Sitzordnung für
eine smarte Londoner Dinnerparty er-
scheinen. Der russische Präsident zwang
seine ganzeRegierung zumRücktritt.
Doch dasDasein als starker Mann
bringt drei Probleme mit sich.Ers-
tens:Je stärker einer wird, desto para-
noider muss er werden, da seine Riva-
len nur mithilfe finstererVerschwörun-
gen darauf hoffenkönnen, ihn zu erset-
zen. Zweitens: Je paranoider einer wird,
desto weniger verlässlich werden die In-
formationen, die er bekommt. Wer wagt
es wirklich, dem Boss dieWahrheit zu
sagen? Drittens:Irg endwann wird es
ziemlich wahrscheinlich, dass einer ge-
waltsamzuTode kommt, denn erst
wenn er mausetotist, können sich seine
Feinde sicher fühlen.
In seinem brillanten neuen Buch,
«How to Be a Dictator», erläutert der
niederländische HistorikerFrank Di-
kötter, dass der starke Mann selten mit
einem friedlichenRuhestand gleichsam
imRosengartenrechnen kann. Benito
Mussolini erlebte das auf die harteTour.
Im April1945 wurden er und seine Ge-
liebte ClaraPetacci standrechtlich er-
schossen; ihre Leichen wurden später in
Mailand mit demKopf nach unten an
einemBalken aufgehängt.
ZweiTage darauf starb Hitler von
eigener Hand, als die rachedurstige
Rote Armee seinen Berliner Bunker
umstellte. Um zu verhindern, dass er am
Ende von einemBalken baumelte, hatte
er angeordnet, dass seine Leiche zusam-
men mit der seiner langjährigen Gelieb-
ten EvaBraun, die er einenTag zuvor
geheiratet hatte, eingeäschert werde.
Josef Stalin gewann den Krieg, starb
aber im März1953 im Alter von74 Jah-
ren – mitunter deshalb, weil Mitglieder
seiner eigenen Entourage zu erschro-
cken waren, als dass sie sofortige medi-
zinische Hilfe angeordnet hätten, nach-
dem er einen Schlaganfall erlitten hatte.
Es heisst gelegentlich, die meisten
Diktatoren würdenim Bett sterben.
Das mag in den1970erJahren so gewe-
sen sein.François «Papa Doc»Duvalier,
der Diktator von Haiti,starb1971 in
Frieden.FranciscoFrancosTo d imJahr
1975 hatte natürliche Ursachen, ebenso
wie der von Mao Zedong imJahr 1976.
«OhneFurcht gibt eskeinen [Persön-
lichkeits-]Kult», schreibt Dikötter, ein
Kenner von MaosSystem derTy rannei.
Dem chinesischen starken Mann war
es gelungen, einFünftel der Mensch-
heit in Angst und Schrecken zu verset-
zen. Doch den starken Männern, die ihre
Macht verlieren oder aufgeben, stossen
fast immer üble Dinge zu.
Das gilt für viele Diktatoren in
den1980er und1990erJahren. Nico-
lae Ceausescu starb1989 durch ein Er-
schiessungskommando. Im Dezember
2006 endete Saddam Hussein am Gal-
gen, Oberst Muammar al-Ghadhafi
wurde 2011 erschossen, als er versuchte,
derrevolutionärenWelle zu entfliehen,
die wir fälschlicherweise als Arabischen
Frühling bezeichnen.
Imperatoren leben gefährlich
Um zu sehen, wie gefährlich absolute
Macht sein kann, sollte man sich die
To desursachenrömischer Imperatoren
und britischer Monarchen ansehen.Von
den18 Kaisern, diedasfrüherömische
Imperium (27v. Chr. bis193 n. Chr.)
regierten, starben laut einer faszinie-
renden Studie zu diesemThema 10 auf-
grund natürlicher Ursachen, 6 wurden
ermordet, und 2 begingen Suizid. Der
Spitzenjob wurde nicht sicherer – ganz
im Gegenteil.
Von den 59 Imperatoren des späten
römischen Imperiums (193–476) star-
ben 15 aufgrund natürlicher Ursachen,
32 wurden ermordet oder hingerichtet,
5 begingen Suizid, 5 starben in Schlach-
ten oder anVerwundungen, die sie im
Kampf erlitten hatten. Einer starb in
Gefangenschaft und ein anderer er-
trank, als er vom Schlachtfeld einer mili-
tärischen Niederlage floh.
Von den 105 Monarchen der Briti-
schen Inseln wurden 19 ermordet, hin-
gerichtet, von ihren Ärzten eingeschlä-
fert, oder sie wurden Opfer von An-
schlägen;15 starben im Kampf.
Osmanische Sultane erfreuten sich
vermeintlich einer grösseren Sicher-
heit als ihre westeuropäischenKolle-
gen. Dennoch fand eine überraschend
grosse Zahl ein gewaltsames Ende. Von
den 36 osmanischen Sultanen wurden
meiner Schätzung nach 11 ermordet, im
Kampf getötet oder erlitten aus anderen
Gründen ein vorzeitiges Ende.
Entscheidend für das Überleben als
starker Mann ist neben Unzugänglich-
keit ein vertrauter Kreis vonPersonen,
die wissen, dass sie ebenfalls dran glau-
ben müssen, wenn man gestürzt wird.
Doch man muss auch jeden potenziellen
Nachfolger davon abhalten, ungeduldig
zu werden.Das erreicht man beispiels-
weise, indem man mehrere Söhne hat,
die man gegeneinander ausspielt. Eine
weitere Option besteht darin,keinen
Erben zu haben und die eigeneLang-
lebigkeit so glaubwürdig zur Schau zu
stellen, dass eskeiner wagt,die Nach-
folge anzustreben.
Wenn man sich unseren heutigen Be-
stand starker Männer ansieht,könnte
man sich zu dem Schluss verführen las-
sen, die demokratisch gewählten unter
ihnen –Tr ump undJohnson – seien ver-
wundbarer als dieAutokraten. Schliess-
lich müssen sie sich alle vier oder fünf
Jahre denWählern stellen. Dochbin ich
mir da nicht so sicher.
Die Geschichte legt nahe, dass eine
erhebliche Zahl der undemokratischen
starken Männer innerhalb des lau-
fendenJahrzehnts verschwunden sein
wird – und es wird nicht das Corona-
virussein, das sie dahinrafft.Ausser
die Epidemie vonWuhan erweist sich
als Xis Tschernobyl, was durchaus sein
könnte. Nach Maduro, der baldkeine
Bevölkerung mehr haben wird, die er
ausplündern kann, und dem saudischen
Kronprinzen, dessenReformpläne für
Saudiarabien zum Scheitern verurteilt
sind, sehe ich Xi als die verwundbarste
Figur an.
Und überlegen Sieeinmal – ist er
nicht einst vom «Economist» als «der
mächtigste Mann derWelt» bezeichnet
worden?
NiallFergusonist Senior Fellow am Zentrum
für europäische Studien in Harvard und forsch t
gegenwärti g als Milbank Family Senior Fellow
an der Hoover I nstitutio n in St anford, Kalifor-
nien. Der obenstehende Essay ist eine
Kolumne, die Fergusonfür die britische«Sun-
day Times» ve rfassthat – sie erscheint hier
exklusiv im deutschen Sprachrau m. Wir dan-
ken der «Sunday Times» für die Möglichkeit
des Wiederabdrucks.– Aus dem Englischen
überse tzt von Helmut Reuter.
Ihr sagt keiner,
wo’s langgeht
In Südafrika ist Koleka Putuma
der Shootingstar der Lyrikszene
ANGELA SCHADER
1994.Das Ende der Apartheid in Süd-
afrika wird auch zu einerWasserscheide
zwischenVergessen und Erinnern.Was
kann, was soll man im Geist derVersöh-
nung hinter sich lassen?Was zwingt sich
der Erinnerung auf in einemLand, das
in all seinen Dimensionen von den Klüf-
ten und Spannungen derVergangenheit
durchzogen ist?
Vergessen und Erinnern ruftauch die
LyrikerinKoleka Putuma in ihrem ge-
feierten Debütband «Collective Amne-
sia» auf, dervonPaul-HenriCampbell ins
Deutsche übersetzt wurde. MitJahrgang
1993 gehört Putuma der mittlerweile
weitgehend desillusionierten Generation
der «born free» an; als lesbischeFrau und
To chter einesPastors musste sie ihren
Weg auf noch brüchigerem Boden gehen
als ihre Altersgenossen.
Die Rückeroberungder Schrift
Der «Kollektiven Amnesie», die der
Buchtitel behauptet, werden in den ein-
zelnen Sektionen unterschiedliche Er-
innerungsschichten eingezogen. «Ge-
erbtes Gedächtnis» heisst der erste
Te il, eine in differenziert ausgestaltete
Motive gefasste Kindheits- undJugend-
geschichte. Das Gedicht«Weitergereich-
tes» etwa oszilliert zwischen demVer-
langen eines in bescheidenenVerhältnis-
sen aufwachsenden Kindes nach neuen,
schönen Sachen und der Notwendigkeit,
mit dem auszukommen, was die älteren
Geschwister abgelegt haben.In diese
scheinbar mindereWare webt dieLyri-
kerin am Ende einen Glanz, neben dem
das modischste Outfit verblasst.
Eine dunklereAusprägung nimmt das
«Geerbte Gedächtnis» imLanggedicht
«Kein Ostersonntag für Queere» an, wo
sich Putuma mit dem durch ihrenVa ter
repräsentierten,konservativenChristen-
tumauseinandersetzt, das ihre Sexuali-
tät ablehnt.Dabei distanziert sie sich
nicht nur von der gottesfürchtigen Kind-
heitswelt, sondern ebenso von deren
Gegenpol: Die Klubs und die Protest-
märsche untermRegenbogenbanner, in
denen sich die progressive Szene zele-
briert,sind in ihren Augen letztlich nur
«eine neue ArtvonParanoia / Eine neue
Art, sich zu verstecken».
Nicht weniger überraschend ist «Ge-
lobtesLand» – das Gedicht amEnde der
ersten Sektion, in dem sich die Spreche-
rinaus einer gescheiterten Liebesbezie-
hung freiringt. Mit denWorten «Heute
Nacht / bin ich zumAuferstehen gekom-
men», eröffnetsieein grandiosesFinale,
das tief aus dem Alten und NeuenTe s-
tament schöpft, eine kühneRückerobe-
rung der Schriften, die in denWorten
endet: «Ich bin / das gelobteLand.»
Nachbeiden Seiten kritisch
Bemerkenswert an Putumas Dichtung
ist auch die Härte, mit der solche – sel-
tenen –Aufschwünge zurückgenommen
werden.Auf ein knappes Liebesgedicht
lässt sie die ungleich längere Geschichte
von Entfremdung undTrennung folgen;
die Ankunft im «GelobtenLand»kon-
tert dieganze zweite Sektion, die unter
demTitel «Begrabene Erinnerung» von
Schmerz,Verlust undTrauer spricht.
Im dritten, «Postmemory» genann-
tenTe il öffnet sich die Blende aufsPoli-
tische und Historische. Geschmeidig
kreist dieLyrikerin weisse Schuld an-
hand gelebter Erfahrungen ein, um sie
dann mit luzidem Zorn oder beissender
Ironie grundsätzlich abzuhandeln. Aber
auch in dieser Sektion zielt ihr kritischer
Blick nach beiden Seiten; nicht minder
heftig geisselt sie eine «schwarze Soli-
darität», dieFeminismus nur dann zum
Befreiungskampf zulässt, wenn er adrett
«auf hohen Absätzen daherkommt».
Koleka Putuma: Kollekti ve Amnesie. Aus dem
Englischen von Paul-Henri Campbell. Verlag
Das Wunderhorn,Heidelberg 2020. 203 S., Fr.
30.90. – Koleka Putuma ist im Rahmen der
«Tage südafrikanischerLiteratur» a m kommen-
den Wochenende in Zürich zu Gast. Informa-
tionenauf ht tp://www.liter aturhaus.ch/litera-
turhaus/programm.
Der russische Präsident Wladimir Putin führt die globale Gildeder Autokraten an. ALEXEI DRUZHININ / AP