Neue Zürcher Zeitung - 18.02.2020

(Darren Dugan) #1

INTERNATIONALIDienstag, 18. Februar 2020 Dienstag, 18. Februar 2020 NTERNATIONAL


Wo Hindus


sterben


und Modi


einen Gott


befreit


In Varanasi muss ein Stüc k Altstadt


einem Korridor für Hindu-Pilger weich en.


Das Bauvorhaben verrät viel


über Premierminister Modis «neues Indien».


Von Marc o Kauffmann Bossart, Varanasi


(Text und Bi lder)


DieBauarbeiten entblössenein islamisches Gotteshaus: die 1664 erbaute Gyanvapi-Moschee.

Wie Zähne eines KleinkindesragenTem-
peltürme aus der staubigen, mitTrüm-
mern übersäten Erde hervor. Sie gehör-
ten zu den 296 Häusern, die dem Pilger-
korridor vonVaranasi weichen mussten.
Nur die Gebetsstätten, früher von Mau-
ern eingefasst, wurden verschont.Zwi-
schen Steinhaufen staksenKühe um-
her. Ein Geissbockjagt, wie von Sinnen,
einem Kleinen nach.Auf dem Boden
verstreut Habseligkeiten der ehemaligen
Bewohner: das Zifferblatt einer Stand-
uhr, Plastiksandalen, Schulhefte.
Während 2500Jahren näherten sich
die Gläubigen über einLabyrinth kur-
viger Gässchen demTempelVishwanath
an, einem der bedeutendsten Hindu-
Heiligtümer.Alte Häuserzeilenschmieg-
ten sich um denTempel.Die verwinkelte
Architektur half, das Bauwerk vor Atta-
cken zu schützen.Doch in den vergange-
nen Monaten habenBaumaschinen eine
breite Schneise durch dieAltstadtgefräst
und das hügligeTerrain eingeebnet. Ab
Juni 2021 soll einKorridor das Ufer des
Ganges mit demTempel verbinden, der
Shiva gewidmet ist. Der Gott müsse frei
atmen können, verkündete Premier-
minister Narendra Modi, bevor die Bull-
dozer auffuhren. Hunderte waren ge-
zwungen, sich ein neues Zuhause zu su-
chen.Shiva symbolisiert zugleich Zerstö-
rung und Schöpfung.

«Sauberer,organisierter»


Eine Steintafel mit goldenen Lettern
erinnert an die Grundsteinlegung am


  1. März 2019 durch denRegierungschef
    Modi.Dort beginnt auch dieBaustel-
    lenbegehung mit dem CEO desTem-
    pel Trust, Vishal Singh. «Wir haben die


Bewohner fürstlich entschädigt», erläu-
tert der gutgelaunte CEO und schrei-
tet zügig durch dieTrümmerlandschaft.
Singh dreht sich kurz um und zeigt auf
die goldenenTürme desVishwanath-
Tempels. In Marschrichtung sieht man
bereits den Ganges, den für Hindus
heiligen Fluss. «Varanasi wird schöner,
sicherer, organisierter.» Es soll Schluss
sein mit den kilometerlangen Men-
schenschlangen, die sich anFeiertagen
in den Gassen bildeten.
Begleitet vonPolizeioffizieren mit
dicken Goldstreifen auf den Hemdpat-
ten, Gehilfen des CEO und einemFoto-
grafen, der jeden Schritt der Begehung
dokumentiert, erreichen wir eine An-
höhe mit Blick auf den Einäscherungs-
platz amManikarnika Ghat, einer der
bekanntenTreppenanlagen vonVara-
nasi, die zum Ganges führt.Auf einer
Bambuspritsche tragen Männer gerade
eine Leiche, in Silberfolie gewickelt
und mitrotenBändern geschmückt,
zum Fluss hinunter. Nach einer letzten
Waschung wird die Umhüllung entfernt.
Bestatter legen denToten auf einen
Scheiterhaufen.Rauchschwaden stei-
gen in den Abendhimmel.
VaranasisFeuer lodern ohne Unter-
bruch. Hindus glauben, derTod und die
Kremation in der heiligen Stadt würden
sie von der Mühsal ständigerReinkarna-
tion befreien.JedenTag werden150 bis
200 Leichen verbrannt. In Sterbehospi-
zen in der Stadt warten manche Bewoh-
ner jahrzehntelang auf denTod.
«Wir müssen die Feuerbestattung
besser organisieren», sagt CEO Singh.
Bestatter belagerten nach der Krema-
tion sofort die Brandstätte und stocher-
ten in der Asche nach Goldschmuck

derVerbrannten herum, was unwür-
dig sei. Zudem werde alles Mögliche in
den Flussgeworfen, Knochen, halbver-
brannteKörperteile. Mit der Erneue-
rung desQuartiers sollen auch Mikro-
filterinstalliert werden, damit nur noch
die Ascheim Ganges endet. Neben
demFeuerplatzist ein Steg fürTouris-
tenboote vorgesehen.Von dort gelangt
man künftig über eineRolltreppe hoch
zu einerFussgängerzone mitToiletten-
anlagen,Food-Court und Mehrzweck-
halle und schliesslich zum Tempel.
«World-class facilities» statt enge, ver-
dreckte Gassen, werben dieBauherren.
Sie versprechen sich einViertel mehr Be-
sucher. «Das Projekt verleiht der ganzen
Stadt ein neues Flair», ruft Singh enthu-
siastisch aus.
Benares, wie vieleVaranasi bisheute
nennen, ist nicht nur einWallfahrtsort,
sondern auch derWahlkreis von Pre-
mierminister Modi. In einemFilm, den
der CEO vor der Besichtigung vorge-
führt hat, haben die Initianten desKor-
ridors auch den Gründervater Indiens,
Mahatma Gandhi, eingespannt. Als
Gandhi 1916 im Vishwanath-Tempel
betete, regte er sich über den Schmutz
und die Unordnung in dem Pilgerort
auf. «Was nur würden andere über den
Charakter der Hindus denken?», so wird
Gandhi zitiert. Schmutz und Chaos in
der heiligsten der heiligen Städte. «Nun
wird sich GandhisTraum erfüllen», sagt
der Sprecherim zehnminütigen Propa-
gandastück schwärmend. Und mehr-
fach wird eingeflochten: «Dank der In-
spiration des ehrenwerten Premier-
ministers Narendra Modi.» Modi, so die
Botschaft, bringt nicht nur Indien auf
Vordermann, er wertet auch eines der

wichtigsten Hindu-Heiligtümer auf. Im
Vishwanath-Tempel beten täglich rund
60 000Personen,an Feiertagen zehn
Mal soviele.

Entschädigt, aber entwurzelt


Auf demRundgang mit CEO Singh be-
gegnen wir nur Altstadtbewohnern, die
der UmsiedlungPositives abgewinnen.
Mit der Entschädigung derRegierung
richte er sich einen neuenLaden ein,
rapportiert einer beflissen.«Diesind
alle happy», behauptet Singh.
Tatsächlich entpuppt sich Modis
Traum aber für manche aus dem Quar-
tier als Albtraum. Am nächstenTag,
ohne offizielle Begleiterim Schlepptau,
treffen wirRohit Pande, einen schlaksi-
genJünglingmit einemroten Tika auf
der Stirn, dem hinduistischen Segenszei-
chen. Wir treffen uns dort, wo einst das
Haus seinerFamilie stand.Jetzt sieht es
aus, als hätte ein Erdbeben die Gegend

Eine Historikerin
beobachtete, wie auf
Hauseigentümer Druck
ausgeübt wurde: «Wer
nicht verkaufen wollte,
erhielt jeden Abend
Telefonanrufe, zeitweise
wurdenWasser und
Strom abgestellt.»

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