Neue Zürcher Zeitung - 18.02.2020

(Darren Dugan) #1

INTERNATIONALIDienstag, 18. Februar 2020 Dienstag, 18. Februar 2020 NTERNATIONAL


Früher handelten
Gläubige und Priester
das Honorar selber aus.
Jetzt werden «Gebets-
Packages» online oder
am Schalter verkauft–
die teuersten für
mehrere
hundert Franken.

Baumaschinen haben eine Schneisedurch die Altstadtvon Varanasi gefräst, um Platz zu schaffenfür den Pilgerkorridor.

verwüstet. «DerVerlust unsererWoh-
nung und meines Quartiers schmerzt»,
sagtPande. Zusammen mit vier Ge-
schwistern, Vater, Mutter, Grossmut-
ter, Onkel undTante bewohnte er zwei
Zimmer, eines davon mitBalkon. In
den Gässchen habe er alles gefunden:
Freunde, Gelegenheitsjobs, Lebensmit-
tel, Gespräche mitTouristen.Vom Stadt-
teil, den er liebte, ist nur noch dieAus-
sicht auf den Ganges geblieben.Als Ent-
schädigung erhielt dieFamilie, die wäh-
rend vier Generationen am Fluss lebte,
1,6 MillionenRupien (22000 Franken).
Ohne Zögern stimmtPande demVor-
schlag zu, ihn an seinem neuenWohnort
zu besuchen. Der 21-Jährige dirigiert ein
Taxi durchVaranasis Aussenbezirke. Die
Strasse gleicht einem niemals ruhenden
St rom ausVelo-Rikschas undLasten-
trägern,Früchteverkäufern undAuto-
fahrern. Sie alle buhlen um die wenigen
Quadratmeter der Strasse. Auf Strom-
kabeln in den Seitengassen turnen Affen
umher. Eine Pilgergruppe beugt sich an
einem Stand übereine Auswahl von
Kanistern, die an einer Schnur hängen.
Sie werden die weissen Plastikbehälter
mit Wasser aus dem Ganges füllen und
mit nach Hause nehmen.
Nach einer halben Stunde errei-
chen wir Bhojpur, ein Dorf mit Stein-
häusern imRohbau,PandesFamilie be-
wohnt eines davon. Fensterscheiben gibt
es keine, dafür mehr Platz als am alten
Ort. Die Grossmutter im grün-roten Sari
winkt unsherein und lächelt.Wie gefällt
ihr das neue Haus? «Ich fühle mich ein-
sam.» Sie vermisst ihre Nachbarn, den
täglichen Gang zumVishwanath-Tem-
pel, eine Umgebung, die ein halbesJahr-
hundert lang ihr Leben war. Seit sechs

Monaten lebt die Grossmutter im Dorf.
Das Quartier am Ganges hat sie nie
mehr besucht. «Ich müsste weinen, und
all meine früheren Bekannten sind so-
wieso weg.»
Ihr Enkel dagegen verbringt die
meiste Zeit am Ganges. Oft schläft er
in einem Zelt, bei einem Holzhänd-
ler in der Nähe des Kremationsplatzes.
Manchmal braust er mit einem Motor-
rad ins Dorf, isst mit derFamilie und
fährt nach einer Stunde zurück an den
Fluss.

Zweihändergegen Skeptiker


Anderen Altstadtbewohnern ist es
schlimmer ergangen alsRohit Pande
und seinerFamilie. Manche sollen aus
ihren Häusern geworfen worden sein.
Eine Historikerin, die auf Anonymität
besteht, beobachtete, wie auf die Haus-
eigentümer Druck ausgeübt wurde:
«Wer nicht verkaufen wollte, erhielt
jeden AbendTelefonanrufe, zei tweise
wurdenWasser und Strom abgestellt.»
DieBauherren bestreiten dieVorwürfe.
Für die Planung und Umsetzung des
Projekts seien bedeutende Professoren
beigezogen worden.Auch könne man
nicht die Meinung aller einholen, schon
gar nicht die der Ungebildeten.
Doch derKorridor stösst nicht nur
bei vertriebenen Altstadtbewohnern
auf Ablehnung. «Braucht Varanasi
wirklich einesolchePilger-Autobahn?»,
fragt der Chef einerKulturstiftung, auch
er möchte aus Angst vorRepressalien
anonym bleiben. Er beantwortet seine
rhetorischeFrage selber:Das Geld wäre
besser in Gesundheit, Bildung oder die
Säuberung des Ganges investiert wor-

den. Im Fluss, wo täglichTausende ein
spirituellreinigendesBad nehmen, trei-
ben Chemikalien, Unrat, Leichenteile
undFäkalbakterien. Die «Clean-Gan-
ges-Initiative», eine von vielen Kampa-
gnen derRegierung Modi, bleibt weit
hinter den Erwartungen zurück.
Kri tik erregte auch der öffentliche
Konsultationsprozess.Von Komitees aus
Ja-Sagern ist dieRede, die abgenickt hät-
ten,dassAltstadtgassen aus dem18. Jahr-
hundert, eine Bibliothek und Klöster
verschwänden.Vishwambhar Mishra,
ein Priester und Uni-Dozent,spricht von
einer «Shoppingmall-Kultur».

Einzorniger Hohepriester


In einem der letzten verbleibenden
Häuser der Abbruchzone, einen Stein-
wurf vomVishwanath-Tempelentfernt,
harrtKulpatiTiwari aus. Seine Haus-
tür grenztan eine Sicherheitszone und
ist nur mit einer Spezialbewilligung zu-
gänglich.Wir erreichen ihn über einen
Nebeneingang. An dergegenüberliegen-
den Seite pickelt einBauarbeiter an
einerWand, die noch wegmuss.
Tiwari empfängt im Schneidersitz auf
demTeppichboden. «Mahant», Ober-
priester, steht auf seinerVisitenkarte.
Formell haben in seinem Tempel seit
langem andere das Sagen. Die Gläubi-
gen erweisen dem Hindu-Priester je-
doch noch immer dieReverenz. Man
würde annehmen, Tiwari empfände
Sympathien für die Hindu-zentrierte
Politik derRegierung, dieim Pilger-
korridor zumAusdruckkommt. Doch
der Priester ist wütend.
«Modi drückt seineVision durch»,
sagtTiwari schimpfend. Wer sich da-
gegenstelle, dem hänge man das Etikett
«Verräter» an. Der Priesterstör t sich
nicht nur an den baulichenVeränderun-
gen, ihn ärgert, dass dieRegierung dem
TempelVorgaben macht. Ginge es nach
ihm, dürften nur Hindus denTempel be-
suchen.DieRegierung hingegen will die
religiöse Stätte für alle offen halten, weil
das gut für denTourismus ist.
Auch sonst mischt sich diePolitik für
Tiwaris Geschmack zu sehr inreligiöse
Belangeein. Früher handeltenGläubige
undPriester selberaus, welches Hono-
rar ein Geistlicher für ein bestimmtes
Gebet erhält.Jetzt werden «Gebets-
Packages» online oder am Schalter ver-
kauft – die teuersten für mehrere hun-
dertFranken.Dafür erhalten die Geist-
lichen ein festes Salär. Transparenz statt
Geschäftemacherei, sagen die Promoto-
ren, zuTiwaris Unmut.
Der Priesterredet sich richtiggehend
in Rage. Manchmal bete er, dass Shiva,
der Gott der Zerstörung, ModisRegie-
rung den Garaus mache. Als wäre er
über seineAussage erschrocken, schickt
Tiwari den ausländischen Besucher ab-
ruptweg. Der Oberpriester erwarte
Pilger, flüstert uns sein Assistent ent-
schuldigend zu.
Was der Premierminister als Befrei-
ungsschlag für Shiva anpreist, nimmt
nicht nur der Hindu-Priester Tiwari
als Bedrohung wahr. Denn derKor-

ridor, denBaumaschinen durchVara-
nasi gefräst haben, hebt zwar den gol-
denenTempel aufsPodest. Er entblösst
aber gleichzeitig ein islamisches Gottes-
haus: die Gyanvapi-Moschee, 1664 er-
baut unter dem MogulkaiserAurang-
zeb, einem muslimischen Eroberer.
Hindu-Hardlinern ist das Gebäude
mit den zweigrauen Kuppeln ein Dorn
im Auge, da es auf dem Boden eines zer-
störtenTempels errichtet wurde. Ob es
sich um eine frühereVersion desVish-
wanath-Tempels handelte, ist umstrit-
ten. Muslime befürchten, dass die nun
freigelegte Moschee zur Zielscheibe
von Mobs werdenkönnte. Abwegig ist
die Sorge nicht:1992 stürmtenFanatiker
die Babri-Moschee inAyodhya, rund 20 0
Kilometer vonVaranasi entfernt, und
machten sie dem Erdboden gleich. Sie
stand auf einem Grundstück,das Hindus
als Geburtsortdes GottesRam verehren.
DerFall bewegt Indien bis heute.
Die offiziellenVertreter vonVara-
nasis muslimischer Gemeinschaft äus-
sern sich vorsichtig. Erst nach mehre-
ren Nachfragen stimmtSyed Hassan
von der Moscheenvereinigung einem
Interview zu. Der Mann um die sech-
zig empfängt in seiner Schreinerei. Has-
san stösst dieTür zu einem fensterlosen
Raum auf; Marmorboden, dieWände
rot und grün gestrichen, Neonlicht.Von
draussen dringt das Kreischen der Sä-
gen herein. Ein Angestellter serviertTee
und Biskuits. «Im Moment bereitet mir
der Pilgerkorridorkeine Sorgen», sagt
der Sekretär der Moscheenvereinigung.
«Aber was die Zukunft bringt, weiss
ich nicht.» Es ist eineWendung, die der
Mann mit dem grauen Kinnbart meh-
rereMale brauchen wird.
Hassan erzählt von einemVorfall
bei der Nordmauer der Moschee, die an
denTempel grenzt. Im März 2019, nur
Tage vor Modis Besuch inVaranasi, gru-
ben Hindus bei der Moschee einereli-
giöse Statue ein. Als liesse sich aus der
Präsenz des Bullen Nandi, desReittiers
von Shiva,ein Anspruchauf das mus-
limische Gotteshaus ableiten. Dieselbe
Taktik hatten Extremisten auch inAyo-
dhya angewandt. InVaranasi wurden die
Provokateure aber auf frischerTat er-
tappt, Arbeiter buddelten den Bullen
wieder aus.
Danach wurden die Sicherheitsmass-
nahmen rund um das muslimische Got-
teshaus verstärkt. Zehn Meter hohe
Metallzäune, Eisengitter und Stachel-
draht schirmen die Moscheeab. Aus
denWachttürmen, die auch vor einem
Hochsicherheitsgefängnis stehenkönn-
ten, lugen Gewehrläufe. Polizisten in
schusssicheren Westen patrouillieren.

Ideologen geben denTon an


Ein Shiva-Heiligtum, das «befreit» wird,
und eine Moschee, die wie eineFestung
geschützt werden muss?Für manche bil-
det dies beispielhaft die Stimmungslage
in Modis «neuem Indien» ab. Das Land
bewegt sich unter dem Hindu-nationa-
listischen Premierminister weg von der
mul tireligiösenVision der Gründungs-
väter. Im Machtzentrum Delhis geben
Ideologen denTon an, die Indien als
Land der Hindus sehen.Religiöse Min-
derheiten habensicheinzuordnen oder
besser: unterzuordnen.Viele der rund
200 Millionen Muslime fühlen sich als
Bürger zweiter Klasse.
«In denvergangenenJahren sind in
Indien Dinge geschehen,die sich eindeu-
tig gegen Muslime richten», sagt Syed
Hassan, der Sekretär der Moscheenver-
einigung. Er nimmt einen Schluck stark
gesüssten Milchtee und nennt als Bei-
spiel das Bürgerregister von Assam. Die
30 Millionen Einwohner des nordöst-
lichen Gliedstaats, unter ihnen ein Drit-
tel Muslime, mussten beweisen, dass
sie indische Staatsbürger sind. Beinahe
zwei MillionenPersonen scheiterten an
denAuflagen der Bürokratie, bei längst
nicht allen dürfte es sich um illegal an-
wesende Migranten handeln.
Den Muslimen droht nun die Staa-
tenlosigkeit,während Angehörige ande-
rer GlaubensrichtungenAussicht auf
den indischenPass haben – so sieht es
das neue Staatsbürgerschaftsgesetz vor,
das heftige Proteste gegen Modi aus-
gelöst hat. «DieRegierung muss die
Scharfmacher an die Kandare neh-
men», fordertSyed Hassan am Schluss
des Gesprächs. Allerdings sitzen die
Scharfmacher nicht bloss auf den Hin-
terbänken imParlament, sie sitzen an
den Schalthebeln der Macht.

Pande sagt, derVerlust
des Quartiers schmerze,
in den Gässchen habe
er alles gefunden:
Gelegenheitsjobs,
Freunde, Lebensmittel,
Gespräche
mit Touristen.

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