Frankfurter Allgemeine Zeitung - 18.02.2020

(Jacob Rumans) #1

SEITE 10·DIENSTAG, 18.FEBRUAR2020·NR.41 Literatur und Sachbuch FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


Alt fühle er sichnur,wenn er sein Licht-
double ansehe.Während früher ein junger
Mann als Doppelgänger beim Einleuchten
diente, sei es heuteein älterer Herr, dem
aus dem Stuhlgeholfenwerden müsse.
Trotzdem schreibt Michael Caine: „Ich
bleibe jung, indem ichmichweigere, alt zu
sein.“ Seine Autobiographie „Die ver-
dammtenTürensprengen und andereLe-
benslektionen“ istein Ratgeber für alle,
die „sichnicht hinsetzen“,aufhören, in
den Ruhestand gehen wollen.
Woher rührtsein Optimismus? Caine,
Jahrgang 1933, sagt über sich, er habe im-
mer alle Gelegenheiten ergriffen, wasbe-
deute, dasserinvielen schlechtenFilmen
zu sehen sei. Dafür bescherte er derFilm-
geschichtezahlreiche Archetypen: vom
Womanizer Alfie in „DerVerführer läßt
schö ngrüßen“ (1966)und dem Bond-Kon-
kurrenten Harry Palmer in „Ipcress–
streng geheim“ (1965) über den Gangster
Charlie Croker in „Charliestaubt Millio-
nen ab“ (1969) bis zu Ebenezer Scroogein

der Muppet-VerfilmungvonCharles Di-
ckens’„Weihnachtsgeschichte“.
Caine, der aus dem ArbeiterviertelEle-
phant and Castle im Süden Londons
stammt,verbrachteseine Kindheit und
Jugend in einfachsten Verhältnissen. Er
erlebte dieZerstörung Londonswährend
desZweiten Weltkriegs und wurde im Al-
tervon achtzehn Jahren eingezogen, um
im Korea-Krieg seinenMilitärdienst ab-
zulei sten.ImAnsch luss begann er Thea-
terzuspielen,sein Rollenstudium habe
er vorallem in Bus und U-Bahn absol-
viert, durch BeobachtungseinerMitrei-
senden. Schließlichumgab er sichmit
den„Angry YoungMen“, jenenKünst-
lernaus de rMittel- und Arbeiterklasse,
welche im Englandder sechzigerJahre
gegengesellschaftlicheKonventionen an-
schrieben. AusdieserZeit hätteman ger-
ne mehrerfah ren, es bleibt jedochbei
schlaglichthaftenErinnerungen.
Caine serviertetliche Maximen,vonde-
nen sichmanchevorallem am Setoder

auf der Bühne beherzigen lassen–jede Re-
quisiteund jedeTürvor dem Spielen tes-
ten, denn „ein Moment des Zögerns zer-
störtdie Illusion“ –, anderewiederum sich
an jedermannrichten: Vorbereitung und
Zuverlässig keit sind alles,sei es beim Spie-
len, Sprechen, Schreiben oder Kochen.
Die„Probe istdie Arbeit, die Aufführung
istEntspannung“–erstdie Vorarbeit er-
mögliche Spontanität im Spiel.
In nonchalantemTon berichtetCaine
vonseinemWeg nachHollywood undzum
großenCharakterdarsteller .Ererzählt, wie
er si ch vonVivien LeighTipps zur Aneig-

nung eines Akzentsholte ,von Liebessze-
nen mit ElizabethTaylor,von seinemsech-
zigs tenGeburtstagmit Quincy Jonesund
vonseiner Angstdavor,Laurence Olivier
beim Dreh zu „Mord mit kleinenFehlern“
(1972) anzusprechen.Formell wurde der
dreifacheOscar-PreisträgerLordOlivier ge-
nann t. Er lie ßCaine,dessen Ängste erah-
nend ,gleichwohl eineNachrichtzukom-
men:„Sobaldwir unsdieHandgegeben ha-
ben, binich auf ewig nur nochLarry.“
Bei allseinenErfolgen entpupptsich
Cain eals ausgesprochener Familien-
mensch. Großvaterzusein seidie be ste
Rolle seinerlangenKarriere. Di eBalance
zwischenArbeit undFamili ehabeerda-
durchgefunden, dass er Er sterestets am
Setgelassen, seineFamilie aberimmermit
anden Drehortgenommenhabe.
Gleic hzuBeginndes Buchsheißtes:
„Für alle,die versuchen,reichund berühmt
zu werden, lautetmein Rat: LassenSie es.“
Eine Maxime,andie si ch Michael Caine
selb st nicht gehalten hat. LILI HERING

E


inem größeren Publikum istder
SoziologeAndreasReckwitz vor
zwei Jahren mit seiner Diagnose
einer „Gesellschaftder Singula-
ritäten“ bekanntgeworden. In ihrverbrei-
te sich„großflächig eine soziale Logik
der Singularisierung“, die darauf hinaus-
laufe, dassqualitativeDifferenzen, Indivi-
dualität, Unverwechselbarkeit, der
Wunsch nachSelbstentfaltung und die Er-
wartung eines außergewöhnlichen Le-
bens das Signum derZeit ausmachten.
Reckwitz nennt das eine „Kulturalisie-
rung der Lebensformen“.
Mit dieser Diagnose beginnt auchdas
nun vorgelegteBuch. Das Hauptmotiv frei-
lichbesteht in der titelgebendenFigur ei-
nes „Endes der Illusionen“. Gemeint ist
die Illusion eines Liberalismus, der offen-
sichtlichandie Grenzen seines eigenen
Fortschrittsoptimismus gerate.Reckwitz
dekliniertdiesinfünf Aufsätzen durch. Zu-
nächs tunterscheideterzweiForme nder
Kulturalisierung, eine öffnende und eine
eher essentialisierende. Daran schließt
sicheine Klassenanalysean, die eine neue
Mittelklassevoneiner alten Mittelklasse
und einer prekären Klasse unterscheidet.
Der dritteAufsatz widmetsicheiner Ana-
lyse des kognitiv-kulturellen Kapitalis-
mus, hauptsächlichbestehend aus dem
Nachweis, dassProdukte und Dienstleis-
tungen neben dem Materiellen nicht nur
kognitiveWertschöpfungsanteile haben,
sondernzunehmendkulturelle dazukom-
men. Danachwerden in zweiKapiteln Lö-
sungsperspektivenformuliert. Mit Aus-
nahmedes er sten Kapitels sind dieAufsät-
ze eigens für diesen Bandverfasstworden.
Stärkerals in demVorgängerbuchgeht
Reckwitz hier auchauf dieKosten einer

singularistischen Lebensformein: Sätti-
gungserfahrungen, Stei gerungslogiken
und Konkur renz der Singularitäte n,
Zwang zur Selbstoptimierung und nicht zu-
letzt das Zu-Markte-Tragen der eigenen
Unverwechselbarkeit.Der Er folg und die
Anschlussfähigkeit dieser Diagnose hän-
genganz offensichtlichdamit zusammen,
dassReckwitz hier einenNervgetroffen
hat.Dem Rezensenten sind dabeiTexte
vonUlric hBeckaus den neunziger Jahren
in den Sinngekommen. Dessen süffige
Diagnosen habenletztlichdem damaligen
urban-rot-grünenMilieu die entscheiden-
denChiffren der Selbstbeschreibunggelie-
fert –nicht nur als Apologie des Eigenen
inszeniert,sondernmit einer gutenPorti-
on Selbstkritikversehen. So ähnlichfunk-
tioniertauchder AnsatzvonReckwitz,
der einen vonkreativwirtschaftlichen,
linksliberalen und -libertären Elementen
geprägten Lebensstil insVisier nimmt, ein
Milieu mit ziemlicher semantischer Durch-
setzungskraft. Am Erfolg der Diagnose
kann man sehen, wie anerkennungsbe-
dürftig auc hdieses Milieu ist.
Undwie damals wird heute in derfach-
wissenschaftlichenKritiköfter darauf hin-
gewiesen,dassReckwitz’Diagnosewomög-
lich nur für dieses Milieutaugt. Reckwitz
geht auf solche Kritiken nicht explizit ein,
aber als eineimplizi te Reaktion darauf
kann man das neueBuchdochlesen. Denn
denFokus richteternun au fdie Grenzen
derdiagnostizierten Lebensform: aufin-
trinsische Grenzen, die sich derenSteige-
rungslogik undSättigungsgradverdanken,
undauf äußereGrenzen,die vorallemmit
derTendenzzur Schließung eines anrech-
temund linkemPopulismusund entspre-
chenden identitären Angebotenorientier-
tenMilieus zu tunhaben. Reckwitzsiehtso-
wohl in einer übertriebenenKultur der Öff-
nung als auchinder übertriebenenKultur
derSchließungReaktionenauf das Ende
der industriegesellschaftlichen Sicherhei-
ten, In stitutionenarrangementsundAner-
kennungsbedingungen unterschiedlicher
Klassen. Letztlich relativierter damitseine
Diagnose einer Gesellschaft der Singulari-
tät en, indemerexplizi tauf de renmilieu-
spezifische Basisverweist.
Bestechend sindReckwitz’Beschreibun-
gendes kognitiv-kulturellenKapitalismus
und seinerFolgen, vorallem der Hinweis

darauf, dassesnicht nur umkognitiveGü-
tergeht, sondern explizit um derenKultu-
ralisierung. Hiergelingen ihm überzeugen-
de Einsichtenund Diagnosen.Aber wo er
Lösungsvorschlägemacht, wirddie Be-
grenztheit seines soziologischen Modells
sichtbar.
In demKapitel über „erschöpfte Selbst-
verwirklichung“ istReckwitzganz in der
Binnenlogik jenesMilieus, in demwohl
die stärkstenResonanzen auf seine Dia-
gnosen erwartbar sind.Nachvollziehbar
werden die Belastungen des spätmoder-
nen Selbstund seine Enttäuschungen be-
schrieben. AlsRemedium freilichwirdaus
der soziologischen Diagnose schlichteRat-
geberliteratur:Man solle dochversuchen,
die Widersprüche auszuhalten, einestärke-
re Distanz zu den eigenen Emotionen ein-
nehmen und solidarische Dauerbeziehun-
genaufbauen. Hörtsichgut an, behauptet
aber,dassdie Erschöpfung des Selbst
durch gutenWillen aufgehobenwerden
kann. Wardas nicht die Logik,die zu je-
ner Überlastunggeführt haben soll?
Das letzteKapitel, in dem politische Lö-
sungen andiskutiertwerden, bleibtähnlich
unentschieden. Reckwitz argumentiert,
dassder „apertistische“, alsoöffnendeLibe-
ralismusder urbanen linksliberalenSingu-
larier sich zugunsten eines „einbettenden
Liberalismus“ zurücknehmen solle. Ganz
ähnlichwie da serschöpfte Selbs tmüsste
solcher Liberalismus Distanz zu den eige-
nenFortschrittsideen einüben undkulturel-
le Regelwer ke schaf fen, um soetwaswie
kollektiveIdentitäten zu ermöglichen.
Das istlogischgedacht:Wenn der links-
liberaleUniversalismus der „singulären“
Milieus eineÜberforderung für die ande-
renKlassen ist, mussdas Allgemeine eben
etwasentgegenkommender,inkludieren-
der eingerichtetwerden.Aufder Ebene
derHerstellung wirtschaftlicherundmate-
riellerSicherheitist da etwasdran –aber

auf der Ebene derkulturellen Differenzen
bleibt auchdieser Vorschlagauf demTer-
rain derRatgeberliteratur.
Das Buch schließt mit einem Appellan
die „Arbeit ankulturellen Grundwerten
und einervonallen geteilten kulturellen
Praxis sowie deren Vermittlung und
Durchsetzung“–was einwenig an Leitkul-
tur erinnert. Reckwitz’Rede vonden „Re-
geln“, auf die man sichzueinigenhabe, ist
dabei in schönstem scholastischem Habi-
tus verfasst,wie PierreBourdieugesagt
hätte: Der Intellektuellestellt sich die Ord-
nungder Gesellschaftals das Problem der
Konsistenz verbindlicher Regeln vor.
Schon dieFrage, warumsichwer in wel-
cher Situation an dieRegelhaltenkann
und will,kommt hier nichtvor, obwohl
Reckwitz betont, sein Liberalismusrechne
„mitder Eigendynamik und Nichtdetermi-
nierbarkeit de rGesellschaft“.Aber worin
soll sichdieser neue Liberalismus dann
einbetten? In denStaat? In denNational-
staat? Oderdochindie Gesellschaft? Und
washeißt das dann?
Es is ttatsächli ch nurein kurzesluci-
dum intervallum,indem jene Eigendyna-
mik und Nichtdeterminiertheit aufscheint
–ist dochgerade das diegesellschaftstheo-
retische Herausforderung,die ein ekultu-
ralisierende Soziologie wie dievonReck-
witzgar nichtrecht sehenkann. Sorech-
nen die Lösungsvorschlägevon Reckwitz
nicht wirklichmit der Eigendynamik poli-
tischer,ökonomischer,rechtlicherund
nicht zuletzt medialerLogiken.Nurdes-
halbsehen sie so plausibel aus. Sie tun so,
als könne mankulturelle Selbstverpflich-
tungendekretieren, alskönnten sichLe-
bensformen durch gutenWillen ändern–
und treffensodas Selbstbildgenau jenes
Milieus,an dem die Diagnose ansetzt,wel-
cheeben dieses Milieu so beeindruckt.Als
Begriff vonGesellschaftbleibt dannnur
die Common-Sense-Idee des„Wir alle“,
bestimmt durch vonallen geteilte Rege ln.
So stellt man sichGesellschaftsdesign
vielleicht als kreativwirtschaftlichen Akt
vor, aber soziologischkann das nicht über-
zeugen. Vonder Eigendynamik und Nicht-
regierbarkeit einer funktional differenzier-
ten, dezentralen, bisweilen steuerungsre-
sistenten Gesellschaftwirdman vordie-
sem Hintergrund eher überraschtwerden.
Selbsterschöpfung istdann geradezuvor-
prog rammiert. ARMINNASSEHI

Ein Mannbetracht et sichimSpiegel.
„Das Gesicht einesRächers“, findeter,
waszuseinemVorhaben passt,das aus-
zuführen ergerade sein Hausverlässt.
Zugleichbeobachteter, wie diese Ein-
schätzung „vollkommen lautlos aus
mir“kam,ineinemjenertagelangen,
stummenSelbstgespräche, in denen der
Mann seit Jahrengeübt is t. Dieses aber
istanders. Denn mit dem Gesprächer-
scheint „ein menschlichesWesen, wel-
ches dabeiwar, nachvielenJahren des
Zögerns, desAufschiebens,inden Zwi-
schenzeitenauchdes Vergessens, aus
dem Haus zugehen und die längstfälli-
ge Rachezuexekutieren“ –es„er-
scheint“ also einWesen, das dem Erzäh-
ler zu eigen ist, aber nichtvöllig kongru-
ent, so dominant in diesemMoment wie
es zu vorverborgen gewesen ist.Und die-
se sSpannungsverhältnis prägtPeter
Handkes schmalenRoman „Das zweite
Schwert“, der dieser Tage erscheint,
vomersten Absatz an.
Der Anlassfür den plötzlich so über-
mächtigenRachewunsch liefertein lang
zurückliegender Zeitungsartikel, der für
den Erzählergleichwohl immer präsent
geblieben ist. In demText, der sichmit
demErzählerbeschäftigt, hattedie Jour-
nalistin auchkurzseine Mutter er-
wähnt, die mit denNationalsozialisten
sympathisiert habe. Belegtworden sei
das, so der Erzähler,mit einemgefälsch-
tenFotoder beim Einmarschder Fa-
schi sten jubelnden Mutter. Jedenfalls
nehme er die „öffentliche“ und „ohne
Anrempelworte daherkommende
Schriftsprache,verkürzt gesagt, derZei-
tungen“ als „Gewaltakte“ wahr,die
„wehrlosen Opfernnie wiedergutzuma-
chendesUnrecht zufügte“.
Das klingt durchaus nachPeter Hand-
ke,der auchsonstmit dem Erzähler des
Romans einigesBiographischeteilt, dar-
unter denWohnort in derNähe vonPa-
ris. Vondortbrichtnun der Erzähler
auf, umRachezunehmen, denn jene
Journalistinwohnt ebenfallsinder Regi-
on Île deFrance. DerWegführtihn zu
Fußzur Tram, die hierzur Unte rgrund-
bahn wird, mit Bus undTaxi zum ehema-
ligen KlosterPortRoyal de sChamps
und schließlichnacheiner wahren Irr-
fahrtmit einemErsatzbus zu einer
Bahnhofsgaststätte, in der er denAbend
ausklingen lässt.
Wasesmit der schönen Gattungsbe-
zeichnung der „Maigeschichte“ auf sich
hat, erschließt sichraschvon der Ober-
fläche her undvonder,davon nicht zu
trennenden, heilsgesch ichtlichen Grun-
dierung. Handkes Erzähler entwirft
eine mitunter beinaheanmutigeFrüh-
lingslandschaft, ohne die Spuren des
Menschen zuvertuschen, im Gegenteil,
er vergleicht die erinnerte,wenigerbe-
rührte Gestalt eines Seitentals mit dem
Ergebnis desTrambahnbaus an dieser
Stelle und macht seinenFrieden.Erhat
ein waches Ohr und Augefür dieVögel
bis hin zur Deutung ihrerRufe oderre-
gistriertein Schmetterlingspaar,das ein-
ander schwebend umkreist. Tatsächlich
istder Roman wie durchwebt mit Bil-
dernvon Paaren undkontrastierendvon
überraschenden Einzelgänger n–ein
ganzerAbsatzist Sportlerngewidmet,
vomBasketballer bis zum Boulespieler,
die ihrWerk allein ausüben.
Kein Zufall,natürlichnicht, und die-
ser Rissbildetsichauchinder Sprache
des Erzählersab. Immer wiedertastet
er sic hvor und nimmt das eben Gesag-
te zurück,oder aber eine zweiteStim-
me fällt ein, sagt „Unsinn“ oder
beginnteine Widerlegung mit„Ande-
rerseits“, mahnt dann wiederum „Nur
nicht spitzfindigwerden!“, gefolgt von
„Das istkeineSpitzfindigkeit !“, so dass
man mitunterseiten weise einem Dia-
log zu lauschen meint.
Tatsächlichist es dieses im Grunde
simple, hier jedochganz vorzüglic hein-
gesetzt eStilmittel, das demText eine un-
tergründigeSpannungverleiht und die-
sen anfangs so bestimmt auftretenden
Protagonisten als durchaus zweifelnd
entlarvt, mehr noch,geradezu entlarven
soll. Wasanfangs daherkommt wie zwei
innereInstanzen, die einanderrelativie-
ren, kann man allerdingsgenau so gut

als Abbild desVerhältnisses ansehen,
das der ErzählerzuseinerUmgebung
pflegt, die ihn, so scheint er es zu sehen,
maßregelt undkorrigier t: Als er in einer
beschreibendenPassagedas Wort „da-
bei“verwendetund sichselbstzurecht-
weistmit denWorten „Wieder sagstdu
,dabei‘“, und der unterbrochene Spre-
cher nimmt ungerührtden Faden wie-
der auf, dasWort „dabei“ruhigund
selbstbewusst ein weiteres Mal wieder-
holend.Ich rede hier,so kann man sich
das deuten,unter bric hund kritisiere
michruhig, es wirdanmeinerRede
nichts ändernund auchnichts daran,
wie ic hdie Welt erlebe.
Das istein zentralerMoment für das,
wasinder „Maigeschichte“geschildert
wird, derenTitelsicheiner Stelle im
Lukasevangeliumverdankt.Nachdem
letz tenAbendmahl undvordem Gang
nachGethsemane bereitet Jesus die Jün-
gerauf dasvor, waskommen wird, und
fordertsie auf, sichdafürSchwerter zu
verschaffen. Als dannimGarten die
Häscher kommen, fragen die Jünger,die
zwei Schwerter mit sichführen, ob sie
diese nun benutzensollen, und führen
sie dann auchgegen einen der Knechte,
der einOhr einbüßt. Jesus heilt die Wun-
de und hinterlässt den Jüngerndas Rät-
sel, wofür denn die Schwerter eingesetzt
werden sollten,wenn nicht um ihn zu
schützen.
Handkes Geschichteist in zweiAb-
schnittegeteilt, die „Späte Rache“ und
„Daszweite Schwert“ heißen, und ne-
ben die Gewaltphantasie tritt baldet-
wasanderes, das diese Geschichte auch
vonvielen eher solipsistischen Werken
des Autors abhebt.Esist die Neugier
des Erzählersauf die anderen, die ihm

begegnen,etwaander Endhaltestelle
der Tram, als es umsUmsteigen in einen
der Bussegeht, und dieFrageauftau cht,
wohin es die jeweils Beobachtetenziehe
–„es warenviele, denenauf denFersen
zu bleiben es michdrängte, undvondie-
sen vielen nahm ein jeder denWegin
eineanderePlateaurichtung.“
Dieses Interesse, so scheint es,
wächst im Laufedes Textes, undgeht
einher mit demVerstummen der ande-
ren, zweifelnden,relativierendenStim-
me –wozu solltedie sic hauchmelden,
während er so ersichtlich eins mitsich
geworden ist? In der Bahnhofsgaststät-
te,in der er sichniederlässt,triffterauf
„nichtwenigederer ,die mir tagsüberbe-
gegnetwaren“,und dass siedas „in an-
derer Gestalt, und trotzdem dieselben“
tun,ist das Werk seinerPerspektive. Es
istein geglückterTag, der an sein Ende
kommt, der vielleichtsogar einzigim
Licht dieses Endes geglückt genannt
werden kann, und dasverdankt sich
dem Willen des Erzählers,wie er in die-
sem Moment auf dieWelt schaut: „Mir
kamder Gedanke, ja die Erkenntnis,
daß ichesall die Zeit mitkeinem einzi-
genbösen oder schlechtenMenschen zu
tun gehabt hatte,und das nicht bloß an
diesem einenTag, sondern schon seit
Monaten, seit Jahren!Warich über-
haupt je mit einemBösewicht, mit je-
mandGrundschlechten inPerson zu-
sammengeraten? Nicht inPerson, nie in
Fleisc hund Blut.“
Das letzte, dieUnterscheidung zwi-
schen gedachten und tatsächlichen
Kontrahenten, gibt dann auchdie Rich-
tung vor, wie künftig dieNotwendig-
keit einer Rachevermieden werden
kann. Als einFriedensangebotkann
man dasverstehen, aber als eines an
die Welt an sich: unterUmgehung der-
jenigen ihrer Bewohner, die nicht un-
terder mildenAbendsonne verklärt
werden, sondernmit ihrenFragen und
Einwänden auchweiterhingehörtwer-
den wollen. TILMANSPRECKELSEN

Michael Caine:
„Die verdammten Türen
sprengen“.Undandere
Lebenslektionen.
Ausdem Englischenvon
Gisbertund Julian Haefs.
AlexanderVerlag,
Berlin 2019. 310 S.,
geb., 24,– €.

AndreasReckwitz:
„Das Ende der Illusionen“.
Politik,Ökonomie und
Kultur in der Spätmoderne.
Suhrkamp Verlag,Berlin
2019.305 S., br., 18,–€.

PeterHandke:
„DaszweiteSchwert“.
Eine Maigeschichte.
Suhrkamp Verlag, Berlin
2020.158 S., br., 20,– €.

Werzögert, zerstört die Illusion


Lektionen inNonchalance: Michael Caine zeichnetseinenWegzum Charakterdarsteller nach


Der Agent weiß nochnicht, dass eineAgentin im interessanten Hauskleidsteckt :Michael Caine mit EvaRenzi in „Finale in Berlin“ aus dem Jahr 1966 FotoPictureAlliance

SanftesWinken ins Publikum:PeterHandke bei derNobelpreisrede FotoReuters

Selbstverwirklichung istanstrengend


Geteiltekulturelle


Grundwerte müssen


sein :Der Soziologe


AndreasReckwitzhat


einig eWünsche an das


linksliberale Milieu.


Voneinem,der auszog,


um Rachezunehmen


Wenn dieWiderworteleiser werden: PeterHandkes


metafiktionale Maigeschichte „Das zweiteSchwert“

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