Frankfurter Allgemeine Zeitung - 18.02.2020

(Jacob Rumans) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Feuilleton DIENSTAG, 18.FEBRUAR2020·NR.41·SEITE 11


Das diesjährigeFestivalplakat iststren-
ger und abstrakter ausgefallen.Keine
knuddeligen Bären mehr, dieSäulen
umarmen oderaus derU-Bahnsteigen.
Sollman das programmatisch verste-
hen?
MarietteRissenbeek:Das Grafikde-
sign istimmer aucheine persönliche Ge-
schmacksfrage.Natürlichwillman mit
dem visuellen Designetwa svermitteln,
aber ichfand das Design sehr luftig und
ansprechend in derFarbges taltung–eine
Offenheit vonKino,das Publikum anspre-
chen, daswäre jetzt die Message. Ichfin-
de es übrigens auchspielerisch.


Haben Sie sich vonvornhereingegenei-
nen Bären entschieden?
Carlo Chatrian:Nein, wir habenver-
schiedeneVorschlägediskutiert. Der Bär
warimletzten Jahr sehr präsent, wirwoll-
tenstattdessen hervorheben, dassesdie



  1. Berlinale ist. Wirwollen den Bären
    nicht loswerden!


War es schwierig,sichanden im Ver-
gleich zu Locarno großen Apparatder
Berlinale zu gewöhnen?
Chatrian:Ich hoffe,eswar nicht zu
schwierig, sichanmeine chaotische Ar-
beitsweise zugewöhnen. Es isteine neue
Situation,und ic hversuche, dieseVerän-
derung positiv zu sehen. In Locarno habe
ichnicht in einem Bürogearbeitet,weil es
nicht nötigwar.


Aberesgibthierschonein stärkeres me-
dialesRauschen, wie etwa bei der Ernen-
nungvon Jeremy Ironszum Jurypräsi-
denten.
Chatrian:Naja, in Locarno haben wir
Roman Polanski eingeladen. Am Ende
gabessovielAufruhr,dassPolanskibe-
schloss, nicht zukommen. Ichwill die bei-
den jetzt aufkeinen Fall miteinanderver-
gleichen, sondernnur sagen: An soetwas
bin ic hgewöhnt.Mariette und ichhaben
Ironsgefragt,weil wir ihn für eine gute
Wahl halten und seineKarrierebewun-
dern. Mirgefällt, dassereinen sehr popu-
lärenFilm wie „Mission“gemacht und da-
nachmit David Cronenberggearbeitet
hat, für mich einer der aufregendstenRe-
gisseure. Mankann solche Entscheidun-
genfällen, indem man sichalles wie ein
Diagramm anschaut.Oder man entschei-
detmit dem Herzen.WasJerem yIrons’
Äußerungen zur Homoehe und sexuellen
Belästigung angeht:Erhat das schonvor
Jahrenrevidiert, das einschlägigeZitat re-
präsentiertnicht seine Haltung.


Sie entscheiden also mit dem Herzen?
Chatrian:Wie entscheidenSie denn?
Es is timmer eineKombination.Wir re-
den vomHerzen, aber am Ende entschei-
detder Kopf. Wenn Sie einenFilm anse-
hen, hat man zwar einenWissenshinter-
grund, kennt den Regisseur,aber am
Endereagiertman emotional. So arbeite
ichzumindest. Unddas Spannende daran
ist, dassdiese Reaktionbei jedemFilm an-
dersist. Die Filmaus wahl is tResultat die-
ser Prozesse.


Sie haben auchangekündigt,die ausge-
wählten Filme „schärfer“betrachten zu
wollen. Was bedeutet das?
Chatrian:Habe ichwirklich„schär fer“
gesagt?
Rissenbeek:Ich glaube, du hastmanch-
mal erwähnt, duwollesteinen schärferen
Blic kauf das Programm haben, um dieZu-
schauer durch das Programm zu führen.
Chatrian:Essind zwei Aspekte.Zumei-
nen die Entscheidung für den einzelnen
Film. Jeder istein Unikat .Wir,und ic hbe-
trachte michals Teil einer Gruppe,fällen
eine Entscheidung. Manchmal urteile ich
andersals die anderen. Oder lasse mich
umstimmen. In diesem Momentsind die
Gefühle wichtig.Wenn einen einFilm be-
wegt, hat das seinen Grund.Undden ver-
suche ichzuverstehen. Der zweiteAs-
pekt istdas Festival als eineStruktur: War-
um läuftein Filmindieser Sektion und
nicht in einer anderen?Aufdieser Ebene
benutze ichden Begriff „scharf“, in dem
Sinne, dassman auf dasfokussiertsein
soll, wasman anbietet.


Wie spiegelt sich dasimProgramm?
Chatrian:Das Programm istkein Spie-
gelder Vorliebenvonmir oder meines
Teams. Daswäre falsch. IchkannFilme
aussuchen, die mir nicht liegen,vonde-
nen ichaber glaube, siegehören auf das
Festival, denn dasFestival istgrößer als
ein Einzelner.Andererseits, da ichjeden
ausgewählten Film zu sehen versucht
habe, bringt jederFilmauchein Urteil
vonmir und anderen zumAusdruc k.


Sie habenzentraleMitgliederder Aus-
wahlkommission aus Locarno mitge-
bracht. Das dürfte sich im Programm
niederschlagen.Gibt es eineArt „Locar-
noisierung“der Berlinale?
Chatrian:Dadas Programm nun be-
kannt ist,können Sie selbsturteilen.Aber
das Auswahlgremium besteht nur zur
Hälfte aus Personen, die ichkenne.Von
der anderen Hälfte habe ichwährend der
Auswahl vielgelernt.


Sie haben voneiner „Handschrift“ ge-
sprochen, die sichtbar werden solle. Sie
haben zum Beispiel zwei Filme aus dem
„Dau“-Projekt ausgewählt, es gibtNa-
men und Stoffe, die man bei den vergan-
genen Berlinalen nicht gefunden hätte.


Chatrian:Das is tdochganz normal.
Aber ic hmache jakeine Auswahl, um ihr
meinenStempel aufzudrücken. Ic hsuche
die Filme aus,weil ic hsie unterstützen
will undweil sie gut für das Programm
sind. Anschließendkann man sagen: Das
istdie AuswahlvonCarlo Chatrian und
seinemTeam. Natürlic hkommtetwa san-
deres heraus,wenn neue Leutedie Aus-
wahl treffen. Die eingereichten Filme
sind ja auchandereals im Vorjahr.

Wieist Ihr Eindruck vom deutschen
Film, hat er sichverändert?
Chatrian:Klar.Ich habe Menschen wie
Marietteummichund andereinden übri-
genSektionen, die sichgut auskennen.
Zwar gucke ichinersterLinie, aber ich
habe auchoft diskutiertüber dieFilmein
der Reihe „Perspektivedeutsches Kino“.
Da is teine starke neue Generation sicht-
bar.Nur manchmal habe ichden Ein-
druc k, sie könnten nochmehr erreichen,
wenn sie ein bisschen mehr auf ihr Land
schauten.Wenn ic hjetzt mal alsFilmkriti-
kerspreche,kümmernsie sic hzusehr um
die Innenperspektive. Das italienische
Kino,PietroMarcellooderAliceRohrwa-
cher etwa ,hat Filmegemacht, die nicht
nur über ihr Landreden, sondernauch
hinsehen. Die beidendeutschenFilme im

Wettbewerb, „Berlin Alexanderplatz“
und „Undine“ wiederum habeneinen an-
deren Blickauf Berlin.Unddie Filme von
HeinzEmigholz und Alexander Klugein
der Sektion „Encounters“richten einen
anderen Blickauf das Kino.

Frau Rissenbeek, welchenEinfluss ha-
benIhre Interessenauf die Auswahl? Es
istoffenkundig, dassder rote Teppich
und das Staraufgebotdiesmal nicht so
im Vordergrund stehen.
Rissenbeek:Esi st völlig klar,dassCarlo
und seinTeam dieFilmauswahl machen.
Aber ab und an setzen wir uns zusammen
und sprechen über dieAuswahl. Carlo
fragtmichnachmeiner Meinung. In dem
Kontextredenwir auchüber Stars, weil
wir beide derÜberzeugung sind, dass
Starsund Menschen, die man aus dem
Filmgeschäftkennt, zu einemFestival ge-
hören. Sie spieleneine wichtigeRolle für
uns.

Hatesauchökonomische Konsequen-
zen, dass es in diesem Jahr60 Filme we-
nigersind als imVorjahr?
Rissenbeek:Die Zahl derVorführungen
istaber im Großenund Ganzen nicht so
viel geringer.
Chatrian:Esist eigenartig, wir haben
nie darüber diskutiert, dieZahl derFilme
zu reduzieren oder zu erhöhen. Eswaren
dreihundertvierzig als dieAuswahl been-
detwar.Das warein or ganischer Prozess.

DieKritikvieler Medien, aber auch aus
derBrancheanDieterKosslick war ja,
es gebezuvieleFilme und ein zu unstruk-
turiertes Programm.
Rissenbeek:Durch unsereAufgabentei-
lung und die Schaffung derPosition eines
künstlerischen Leitersist es nun möglich,
das Profil einzelner Sektionen zu schär-

fenund für die einzelnenSträngedes Fes-
tivals eine Geschichteerzählen.
Chatrian:Von Beginn an haben wir mit
den Sektionsleiterndiskutiert, dasswir in
der Lagesein müssen, jeden einzelnen
Film zu unterstützen. Dasist das entschei-
dende Kriterium.

Die Zahl der verkauften Tickets sollte al-
lerdings nicht fallen, weil das Festival
etwazweiDrittel seines Budgets von
MillionenEuro selbsterwirtschaften
muss.
Rissenbeek:Das stimmt.Aber um ehr-
lichzu sein: Nicht jedeVorführung in der
Vergangenheitwarausver kauft. Wirmüs-
sen uns die Publikumsreaktionen sehrge-
nau ansehen.

Was ist die mittelfristige Perspektive für
die Berlinale? Wie dringend brauchen
Sie eineneueHauptspielstätte?
Rissenbeek:Eine guteFrage.Wir haben
langemit denVeranstalter nvon „Magic
MikeLive“ verhandelt, um sicherzustel-
len, dasswährend desFestivals imUnter-
geschos sdes Berlinale-Palasteskeine
Live- Abende stattfinden. Mit dem Cirque
du Soleil, der ab Sommerdas Theaterbe-
spielt, wurdevonvornhereinvereinbart,
dassder Berlinale-Zeitraum immer spiel-
frei bleiben wird, wir sind im Gespräch

über die praktischen Details. DerPotsda-
mer Platz istimmer nochein sehr guter
Standort, es gibt nochein Multiplex-
Kino, viele Hotels und den Gropius-Bau
für denFilmmarkt .Ich glaube, es würde
sehr schwierigwerden, in einem anderen
Teil der Stadt eine auchnur annähernd so
gut geeignete Umgebung zufinden.Aber
sollteeshier ir gendwann nicht mehrwei-
tergehen,werden wir eine andereLösung
finden müssen.

Zurückzum Programm:Wennman die
Liste derBeiträge im Wettbewerb, in der
neuen Reihe „Encounters“und im Fo-
rum betrachtet, fragt man sich, worin ge-
nau das Unterscheidungskriterium für
die Auswahlbestanden hat.Fehlt da
nicht die nötigeTrennschärfe?
Chatrian:Für michnicht .Ich habe vie-
le der Beiträgedes Forums gesehen, das
einen eigenenAuswahlprozesshat.Wenn
man so vieleFilmezeigt, sind ein paar
Überlappungen unvermeidlich.Aber die
Gesamtrichtung istziemlichklar.Die Fil-
me, die wir für denWettbewerb gesicht et
haben, sind nicht dieselben,die für „En-
counters“ inFragekamen.Wenn einFilm
nicht in denWettbewerb passte,wurde er
nicht zu „Encounters“ durchgereicht .In
dieserReihe laufenFilme,die darüber
nachdenken,wasder Wechsel vonanalog
zu digital für das Kino bedeutetoder was
es heißt, einenFilm ohnegroßes Budget
zu drehen. HeinzEmigholz beispielswei-
se hat einen sehr erzählerischenFilmge-
dreht,etwasganz anderes als dieFilme,
die ervorher imForumgezeigthat. Der
polnische Animationsfilmwarein klarer
Kandidat für „Encounters“. Cristi Puiu
hattezuletzt einenFilm imWettbewerb
in Cannes, aberwenn Sie seinen neuen
Film sehen, der eine ArtEssay mit narrati-
venElementen ist,werden Sieverstehen,

warumerinden „Encounters “läuft. Das-
selbe gilt für denWettbewerb. Tsai Ming-
liangs neuerFilm hatkeine Dialoge, ist
aber trotzdem narrativ. Er hat eine einzig-
artig eArt,mit langen Einstellungen um-
zugehen.

DasEssayistische, nach neuen Formen
Suchende wärealsoein Unterscheidungs-
merkmal. Aberesgibt ja auch neue For-
menderProduktionund Distribution
vonBildern in denStreamingdiensten,
für die die Berlinale nur in der Nebenrei-
he „Berlinale Series“ Platzhat. Wielan-
ge können Siediese Trennungzwischen
Kino und Streaming oder auchFilm und
VirtualReality noch durchhalten?Muss
sichdasFestival an dieser Stelle nicht
grundsätzlich verändern?
Chatrian:Ich musseine Sachevoraus-
schic ken: „Encounters“ istkeine Sektion
gegenden Markt.Es isteine Sektion mit
Filmen, die den Markt auf eine guteWei-
se herausfordern.Wirhoffen, dassauch
dieseFilmeverliehenwerden, und man-
chehaben auchschon einenVerleih. Ihre
Fragekann man auf zwei Artenbeantwor-
ten. Zumeinen glaube ich, dassneue For-
men der Bildproduktion auf demFestival
präsent sind. „Dau“ istein Projekt mit ei-
ner großen immersiven Kraft. Es gibtkei-
ne Virtual Reality,aber einenganz neuen

Zeit- undRealitätsbegriff .Manchmal ist
das geradezu schmerzhaft. Das istnur ein
Beispielvon vielen. Andererseits haben
wir keine Virtual-Reality-Sektion, denn
dafür bräuchten wir eine eigene Infra-
struktur.Unser Budget lässt das nicht zu.
Trotzdem haben wirgesagt, wenn einVir-
tual-Reality-Projekt auftaucht, das uns
wirklichbegeis tert,finden wir dafürei-
nen Ort. Aber das istnicht passiert.

DieFilmfestspieleVenedig haben Net-
flix-ProduktionenimWettbewerb ge-
zeigt, auch Amazon und andereDienste
drängen mit Macht auf denMarkt. Wie
lange kann sich die Berlinale mit diesen
neuen Playern arrangieren?
Chatrian:Wir habenkeine Mauer um
das Festival gezogen, im Gegenteil, wir
wollen es nochweiter öffnen.Ind er Be rli-
nale-Special-Sektion läuftdie Miniserie
„Hillary“ über HillaryClinton. In der „Se-
ries“-Reihe zeigen wir eine Serie, die eher
ein überlanger Spielfilm ist,Athina Ra-
chel Tsangaris„Trigonometry“. Es istgut,
dasssichdie Grenzen zwischen denfilmi-
schenFormen verwischen.

Andererseits ist das Kino eine kulturelle
Praxis, die man nichteinfach aufgeben
kann, ohne auch die Festivalszu beschä-
digen. WennFilmegucken nur noch vor
dem Smartphoneoder demiPadstattfin-
det,können dieFestivals einpacken.
Chatrian:Gleichzeitigwäre es eingro-
ßer Fehler,uns vonden Leuten insbeson-
dere in de njüngeren Generationen zuver-
abschieden, die einverändertesVerhält-
nis zu bewegten Bildernhaben.Wirselbst
nehmenjaandieserVeränderungteil.
Wenn ic hmir einenWitz auf Instagram
anschaue, sind das auchbewegteBilder.
Die Erfahrung im Kino istnatürlichet-
wasvöllig anderes, tiefer,immersiver.
Aber wir haben diesmalaucheine däni-

sche Serie im Programm, „Sex“, die für
das Netz gemacht ist, für den kleinen Bild-
schirm.Wenn sie sichdennochauf der
Leinwand behauptenkann, warumsollen
wir sie nicht zeigen? Die Berlinale hat da-
bei vielleicht mehrKarten im Ärmel als
andereFestivals,weil es hier mehrVor-
führungen, Sektionen und Spielorte gibt.
Wirleben in spannendenZeiten für die
bewegten Bilder,und diese Spannungkön-
nen wirvermitteln.

Redenwir jetztüberAlfred Bauer.Sie
habenden Alfred-Bauer-Preis wegen
der Nazi-Vorgeschichte desNamensge-
bers ausgesetzt.Zugleich hatdie Deut-
sche Kinemathekdie Präsentation einer
bereitsfertigen Biographie abgesagt.
Brauchtdie Berlinale eine eigene histori-
sche Kommissionzur Erforschungihrer
Geschichte?
Rissenbeek:Ich glaube, wir brauchen
tatsächlicheine externeExpertise. Die
Enthüllungen über Alfred Bauer wurden
amgleichenTagveröffentlichtwiedas
Prog ramm desWettbewerbs. Deshalb
blieb uns nurwenig Zeit, auf die neue Si-
tuation zureagieren.
Chatrian:Ich bin bei diesem Thema in
einer unangenehmen Situation. Ichbin
kein Deutscher,dies is tmeine erste Berli-
nale, und deshalbwäreesanmaßend, so

zu tun, als hätteich ein fertiges histori-
schesUrteil in der Schublade. Ichkenne
die Geschichteder Berlinale auchnur aus
Büchern. Andererseits scheint die Sache
nachdem Artikel in der „Zeit“ ziemlich
klar zu sein. Deshalb haben wir schnell
reagiert, aber eben nicht unwiderruflich.
Wenn wir den Alfred-Bauer-Preis abschaf-
fenwürden,wäre das endgültig.Wirwer-
den nun eineexterneExpertise einholen,
dann sieht manweiter.

Wäre es nichtabgebracht,den Bauer-
Preisgleich untereinemanderenNamen
zu vergeben?
Rissenbeek:Zum siebzigstenJubiläum
brauchen wir nochkeinen neuenNamens-
geber.Imnächs tenJahr können wir dar-
über nachdenken.
Chatrian:Das alles istnochzufrisch,
als dasswir uns endgültigfestlegen soll-
ten. Natürlic hsind wir überrascht und
auchein wenig schockiert. Aber der Scha-
den für das Imageder Berlinale hält sich
in Grenzen,soweit ic hsehen kann. Zwi-
schen uns und Alfred Bauer liegen mehr
als vierzig Jahreund dreiweiter eFestival-
direktoren.

Wie nervös sind Sievor Ihrerersten ge-
meinsamen Berlinale?
Rissenbeek:Wir sind beide aufgeregt,
aber in einem guten Sinn.Wirhaben so
langeandem Programm gearbeitet,dass
wir uns darauf freuen, dassesendlichlos-
geht.
Chatrian:Esist wie bei einem Sport-
wettbewerb, für den man intensiv trai-
nierthat:Man weiß, dassesstressig wird,
aber mankann denStressinpositive
Energie umsetzen.Wirwollen, dassdie-
ses Festival gelingt, und wirwerden alles
dafür tun.

Die Fragen stelltenPeterKörte
undAndreasKilb.

Wirwollenden Markt herausfordern


MarietteRissenbeek und Carlo Chatrian, die neuen Leiter der Berlinale,verraten, wassie mit demFilmfestival vorhaben


Die Filmweltverändertsich, also muss sichauchdas größte deutscheFilm fest ändern,finden MarietteRissenbeek und Carlo Chatrian. FotoLena Mucha/TheNewYorkTimes/Laif

Vojtěch Kynclis tverär gert:„FrauLeh-
mannováhat nichts anderesgemacht,
als den Ergebnissen historischerFor-
schungvertraut“ ,sagt der Historiker
der TschechischenAkademie derWis-
senschaften. Das mussteMartina Leh-
mannováallerdingsteuer bezahlen.
Sie is tnicht mehr Leiterin der Ge-
denkstätteLidice, die an den Massen-
morderinnert, den dieNationalsozia-
listen im Juni 1942 in dem Dorfinder
Nähe vonPrag begangen haben. Der
tschechischeKulturministerLubomír
Zaorálek hattedie Historikerin, so
schreibt diese selbstineiner persönli-
chen Erklärung, am 20. Januar zu sich
bestellt undvordie Wahl gestellt:Ent-
weder sie trete freiwillig zurück, oder
er werdesie abberufen.
Lehmannovámussteihren Posten
räumen,weil sie in Lidice auchan
ŠtěpánkaMikešováerinnernwollte.
Über die Geschichte der Jüdin, die
nochvor dem Massaker nachAusch-
witz deportiertund dortermordet
wurde, berichtetHistorikerKyncl Be-
klemmendes:Die jungeFrau sei von
einer Dorfbewohnerinverraten wor-
den. Es sei um persönlicheStreitigkei-
tengegangen:„Siehatsichgeweigert,
weiter kostenlos Kleider zu nähen.“
Weil der GendarmEvžen Ressl
sein Journal erst im Dezember 1945
geschrieben hat, zieht der Historiker
VojtechŠustekdie Quelle in Zweifel.
Kyncl und diegeschas steGedenkstät-
tenleiternhaben jedochauchJarosla-
va Skleničková auf ihrer Seite. Die
letzt elebendeZeugin des Massakers
missbilligteimFernsehen dasVorge-
hen desKulturministers.
Diesersprechevon„fehlender Em-
pathie“ Lehmannovásg egenüber den
Opfernund deren Angehörigen. Die-
se Einschätzungist schon deswegen
merkwürdig,weil sic hdie letzteÜber-
lebende für die frühereLeiterinstark
macht.Nochbedenklicher erscheint
jedoch,wasMinisterZaorálek imWo-
chenmagazin „Respekt“ sagte:„Ich
beurteile die Direktorin nicht da-
nach, wie sieforscht. Es geht darum,
wie sie sichgegenüberden Überleben-
den verhält.“
Manmusswissen, dassder Ortsver-
band Lidice des„Tschechischen Bun-
des der Kämpferfür die Freiheit“
(ČSBS), der die Entlassung Lehman-
novásg eforderthat u nd si ch beim Kul-
turminister ausdrücklichbedankt hat,
kein reiner Opferverband ist, sondern
ganz bestimmtepolitische Zielever-
folgt. Vorsitzende derČSBS-Sektion
Lidice istJana Bobošíková.Sie mach-
te sicheinstals populistischePolitike-
rinund Präsidentschaftskandidatin ei-
nen Namen. Undder nationaleČSBS-
Vorsitzende JaroslavVodika warč
Agent derkommunistischenStaats-
sicherheit und sorgte2016 für Aufse-
hen, als er ausgerechnetimKonzen-
trationslager TheresienstadtvonMi-
granten als einer Bedrohung sprach.
Der HistorikerJaromírMrňka vom
Prager Institut für dasStudiumtota li-
tärerRegime sagt, derVorgänger ver-
band des heutigenČSBS sei einTeil
des kommunistischen Machtapparats
gewesen. „Er hat dieÜberlebenden
organisiert, Literatur herausgegeben
und an offiziellen Gedenkaktenteil-
genommen.“Nach 1989 hat derNach-
folgeverband eine Erinnerungskultur
beibehalten, die vielRaum für Hel-
denerzählungen, aberwenig Platz für
die Auseinandersetzung lässt,inwie-
fern auchTschechen mit den natio-
nalsozialistischen Besatzernzusam-
mengearbeitet haben.
Entsprechendreagieren derČSBS
undseine Verbündeten in der heuti-
genKommunistischenPartei undver-
schiedenen rechtspopulistischen Sub-
jekten sehr heftig,wenn jungeHistori-
kerdas Narrativ derTschechen als rei-
ne Opfer auswärtiger Mächte inFrage
stellen.Werdas tue, betreibe die „Um-
schreibung der Geschichte“, lautet
der Vorwurf, den sie auchimFall Lidi-
ce erheben. DieseStr ömungen sind
einflussreicher denn je. DieKommu-
nistenstützen seit 2018 die tsche-
chischeRegierung. Historiker Mrňka
sagt, der tschechische Geschichtsdis-
kurs sei sehr politisiert. Nach wie vor
bestehe in Bezug auf die Protektorats-
zeit von1939 bis 1945 eine For-
schungslücke,weil viele Historiker
nach1989 zunächstdamit beschäftigt
waren, sic hmit der emotionalstärker
im Gedächtnis präsentenkommunisti-
schen Herrschaftzubeschäftigen.
Wiehitziginder Tschechischen
Republiküber dieVergangenheit de-
battiertwird, verdeutlicht aucheine
am Montag entbrannteKontroverse
überdas zukünftigePragerMuseum
der Erinnerung an das zwanzigste
Jahrhundert: MikulášKroupa,Lei-
terdes Zeitzeugenprojekts „Ge-
dächtnis derNation“, trat aus dem
Aufsichts ratdes Museums zurück
und deutetepolitischen Einfluss auf
das Gremium an.Hier habenaber de-
finitiv nicht Apologeten deskommu-
nistischenRegimes ihreHände im
Spiel. Unterden Ratsmitgliedern
sind drei liberal-konservativePoliti-
ker. Der zurückgetretene Kroupa ist
Sohn des früherenDissidenten Da-
niel Kroupa. NIKLASZIMMERMANN

Gespaltene


Erinnerung


Tschechien hadertmit


seinerVergangenheit

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