Frankfurter Allgemeine Zeitung - 18.02.2020

(Jacob Rumans) #1
FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Feuilleton DIENSTAG, 18.FEBRUAR2020·NR.41·SEITE 9

D

as wäre einTriumvi ratgewe-
sen:AnnegretKramp-Kar ren-
bauer ,Ursula vonder Le yen
undAngela Merkel. Die EU-Chefin
zurLinken, dieKanzlerin zurRechten
undmittend rinihrepotentielleNac h-
folgerin. Hätte,könnte,wäre–war.
Für die Erbauer der Motivwagen, die
amRosenmontag durch die Karnevals-
hochburgennicht nuramRhein zie-
hen, botsichdiese starke Frauenriege
an,insbesondereinKöln,als weibli-
ches Gegenstückzum Dreigestirnmit
Prinz ,Bauer und Jungfrau, für deren
Besetzung es seit Anbeginn im Jahr
1870 bis heutenochimmerkeine Frau-
enquote gibt. Nach Kramp-Karrenbau-
ersangekündigtemRückzug wird aus
derKarne vals-Aufstellung wohl
nichts, es seidenn, manwollteein Bild
mitGefälle zeichnen–miteinerStrip-
penzieherin,deren eine Marionette
aufsteigt, wohingegen dieander enie-
derpurzelt.Stattdessen drängensich
denKarne valistennun gleichzweian-
dere Trifolie nan. ZumBeispiel Armin
Laschet, Friedric hMerzund Jens
Spahn als CDU-Musketiere, die einan-
derausstechen.Wobeisichdabis zum
Rosenmontag alsVierterimBunde
auch Markus Söderins Bildschieben
könnte,der zurFastnacht inFranken
in Veitshöchheim in diesemwie schon
imverg angenen Jahrgänzlic hunkostü-
mier tals er selbstauftr eten will und
nichtmehrals Ma rilynMonroe ,Ho-
merSimpson,MahatmaGandhi,
Shrek od er PrinzregentLuitpold.Und
werweiß, ob Laschet,gerade erst mit
demOrden wider den tierischen Ernst
ausgezeichnet, nicht schonvorAscher-
mittwochals alleiniger Unions-
Schwellkopp auf der Bühne steht?
Oder Merzoder Spahn?Die Motivwa-
genmacher müssen bi szur letzten Se-
kunde mit allemrechnen undeventu-
ell noch am Wochenendeumbauen.
DasPersonaltableau inThüringen frei-
lich dürftefests tehen,mit Thomas
Kemmerich und Björn Höcke als
Stammbesetzung und wahlweise –
kommtauf dieavisier te Stoßrichtung
an –Alexander Gauland, MikeMoh-
ring undBodo Ramelo w. Auch hier
liegt dieFrauenquote bei null.Auf ei-
nen, an dem in diesem Jahrkein
„Zoch“ vorbeigeht, haben sichdie
sonstkonkurrierendenKarnevalis ten
in Aachen,Bonn, Düsseldorf und
Kölnindesgeeinigt:unser aller Beetho-
ven,alsFigurgestaltetvondembe-
kannten DüsseldorferMotivmacher
JacquesTillyund DirkSchmittvon
denKölner „Kritzelköpp“. Geboren
undaufgewachse nist derKomponist
in Bonn,inKöln gabermal einKon-
zert,oberAachener Printen oder Düs-
seldo rfer Alt mochte, istnicht überlie-
fert.Mit grimmiger Mieneund EU-
blauer,sternbesetzter Löwenmähne se-
henwir das Genie,ind er Hand Schil-
lersvon ihm vertonte„Ode an die
Freu(n)de“. DerenAusblic kwärein
Berlinund Erfurtgerade besondersge-
fragt, frei nach demBonnerSessions-
mott o„Jötterfunkeövverall“.

Dreigestirne


VonMichaelHanfeld

W


ann istein Opfer ein Opfer?
Zu welchemZeitpunkt ent-
scheidetsichdas? ZumTat-
zeitpunkt? In einer E-Mail
davoroder danach? AmFrühstückstisch
am nächsten Morgen? Gibt es einenNor-
menkatalog derVerhaltensweisen für Op-
fersexueller Gewalt? Dürfensie ehr geizig
sein? Skrupellos? IhrePläne verfolgen,
auchwenn derTäterTeil da vonist und
bleibt? Müssen sie den Berufwechseln?
MussihreScham unüberwindlich sein?
Wasdürfensie fühlen? Müssen sie mora-
lischunanfechtbar sein? Wasbedeutet
das? Dürfensie den Blickjewieder he-
ben? Fürden Täterstellen sichall diese
Fragen nicht.
In dem Prozessgegen HarveyWein-
stein,den Filmproduzenten und einsti-
genMogul,der vermeintlichvieleOpfer
hat,hat seineVerteidigung dafürgesorgt,
dass dieseFragen imZentrumstehen.
EineZeugin bliebmit Weinstein in Kon-
takt. DerMitbe wohnereiner anderen
konnteamMorgennachder vermeintli-
chen Vergew altigungkeine Veränderung
an ihrfeststellen.Esgab berufliche Bit-
teneiner Zeugin an denmächtigen
Mann, sogar Sympathiebekundungen.
Wasdarfein Opfer, wasmussestun, da-
mit esglaubwürdig ist?
Bei sexueller Gewalt sind es immer zu-
erst die Opfer,andenen gezweifelt wird.
Als die #MeToo-Bewegung inFahrtkam,
wardie er steFragefür langeZeit:Warum
haben dieFrauen so langegeschwiegen?
Weil Opfer sprechen,wenn sie sprechen
können,wardie Antwort, die sichlang-
sam durchsetzte, an die aber immer wie-
der erinnertwerden muss.
Das Sprechen erleichterthat die Solida-
ritätandererFrauen, denen dasselbe wi-
derfahren warund diegedacht hatten, sie
seien allein. Manchevonihnen allerdings
hatten ja sofortgesprochen, hatten sexuel-
le Nötigung oderVergewaltigung ange-
zeigt undwarenbei den Behörden abge-
wimmeltworden, unter ihnen Battilana
Gutierrez, dievonder NewYorkerStaats-
anwaltschaftsogar verkabelt in ein Hotel
zu HarveyWeinstein, der sie belästigthat-
te,zurückgeschickt wurde, nur um an-
schließend zu hören, eswerdedochkein
Strafantraggestellt.Esg ab, auchdas kam
durch #MeTooans Licht, ein System des
Beschweigens sexuellerÜbergriffe,nicht
nur innerhalb derFilmbranche, sondern
auchimmer wieder bei den Behörden. Se-
xuelle Belästigungwarein Stützpfeiler
des Systems Hollywood, das brachtedie
Bewegung ebenfalls an denTag, ein Mit-
telzur Machtsicherung und zur Betonie-
rung dervonMännerngeschaffenen und
beherrschten Verhältnisse nicht nur im
Filmgeschäft.
Wenn in denvergangenenWochen der
Mann, der einstder „KönigvonHolly-
wood“ genannt wurde, auf eine Gehhilfe
gestützt, gebeugt mitvorgestrecktemKopf
mit wenig Haar,dickund in einem
schlechtsitzenden Anzug insNewYorker
Gerichtsgebäude schlurfteoder aus ihm
herauskam,gaberdas Bild einesrundum
Impotenten ab. Daskonntenicht unge-
wollt sein.Weinstein warnicht umsonst
ein begnadeter Produzent, der nicht nur
die Macht hatte, sichüberall in den Mittel-
punkt zustellen und sichzunehmen,was
er wollte, und der dazu einKartell anUn-
terstützernund Mitwissernumsichscharr-
te,sondernerkennt sichauchaus mit den
Repräsentationsformen, den Bildernfür
die Öffentlichkeit.
Weinstein warimmer und istweiterhin
ein Manipulator auchder Images, die er er-
zeugt .Hatte diesergebückteManntatsäch-
lichjemals eine solche Macht, wie es die
Frauen, derenAussagen ihn möglicherwei-
sefür langeZeit ins Gefängnis bringen, be-
haupten?
Als erfiel, weil immer mehrFrauen ihn
und eine langeReihe weiterer mächtiger
MedienleutesexuellerÜbergriffe beschul-
digten, wuchs die Hoffnung auf zweierlei:
eine neueKultur derZusammenarbeit zwi-
schen Männernund Frauen auchinder
Filmindustrie.Undeine neue Machtvertei-
lung dortund anderswo. Zu #MeTookam
#TimesUp"–für gleiche Bezahlung,glei-
cheChancen.
Es warenviele Syste me und ihreStruk-
turen, di edazu beitrugen, dassjahrzehnte-
lang sexualisierte Gewalt als Teil des tägli-
chen Umgangs mitFrauen in derFilm-

branche angesehen wurde und niemand
Anstoßdaran nahm. Lässt sichimGanzen
aufdröseln, inwieweit sic hdaran etwasge-
änderthat, ob die Machtverteilung tatsäch-
lichkippt, die Bezahlung sichangleicht?
NurimEinzelfall. Dochdarumgeht es in
dem Prozessnicht.Darum wirdesbei dem
Urteil nichtgehen.
ZumProzessgegen Harvey Weinstein
kamesnachden Anzeigen mehrerer muti-
gerFrauen –mehr als hunderthaben zu
Protokoll gegeben, vonihm begrapscht, be-
lästigt,genötigt odervergew altigtworden
zu sein, und auchinLos Angeles wirder
vorGerichtgestellt werden. Über dieVor-
würfe vonzweien vonihnen wirdinNew
York verhandelt: über denVorwurfdes ge-
waltsam ausgeübten Oralverkehrsgegen-
über der Produktionsassistentin Mimi Ha-
leyi und denVorwurfder Vergewaltigung
einer ehemaligenSchauspielerin, die heu-
te Friseurin istund anonym bleibenwollte
(ihr Name is tinzwischen bekannt).
SechsWochen dauerte die Beweisauf-
nahme, die Ende letzterWocheinNew
York abgeschlossen wurde.Ab morgen
werden die Geschworenen, fünfFrauen

und sieben Männer,zuentscheiden ha-
ben, wemund wassie Glauben schenken
werden. Der Anklageoder derVerteidi-
gung. DenFrauen, die ihnvorGericht
brachten, oder Harvey Weinstein, der
selbstnicht ausgesagt hat.Seine Verteidi-
gung allerdings hat allesdarangesetzt,
dassbei der Entscheidung einzig die oben
skizziertenFrageneine entscheidendeRol-
le spielen. Nicht, wasHarvey Weinsteinge-
tanhat.Sondernwie die Opfer sichverhal-
tenhaben, nachdemgeschehenwar, was
sie als Belästigung, Angriff ,Nötigung,Ver-
gewaltigung erlebt haben.Weil ihr eReak-
tion dieTatzuetwas macht,wassie nach
Aussagen derFrauengerade nichtwar:
einvernehmlich.
ZurErinnerung: Dem Prozessgingen
detaillierte Veröffentlichungen in der
„New York Times“ und im „New Yorker“
sowie zwei Bücher derselben Autorenvor-
aus, die jeweils jahrelang umfangreichim
Film- und Mediengeschäftrecherchiert
hatten (JodiKantor und MeganTwohey,
„She Said“wardas eine,Ronan Farrow,
„Durchbruch. Der Weinstein-Skandal,
Trumpund dieFolgen“ das andere). Die-
sen Büchernist zu entnehmen, dassWein-
stein unzähligeFrauengegenihren Willen
befingert, erniedrigt, sexuell bedrängt, ei-
nigeauchvergewaltigt hatte, und sein Sys-
temder Bespitzelung, Erniedrigung, der
Drohungen und Schweigevereinbarungen
wurde ebenfalls offengelegt.
Wardas tatsächlichso, und ist,wasge-
schehen ist,strafbar? Sind dieGesetze so,
dasssie Frauen schützen?Wenigstens an-
hand der beiden Einzelfälle soll dieser Pro-
ze ss das klären. Gleichzeitigallerdingswa-
rendie Berichterstattung und Medienprä-
senz, die denStei nüberhauptins Rollen
brachten, auchdie Gründe,warumder
Prozesszunächstnicht in Gangkam: weil
sichersteinmalkeine vermeintlichunvor-
eingenommenen Geschworenen fanden,
weil vorabschon so viel klar zu sein
schien,weil Weinsteins Anwälteund An-

wältinnen selbstverständlichjedenWin-
kelzug undTrickkannten und anwandten,
den Beginn hinauszuzögern,weil Richter
undS taat sanwaltschaftihrerseits nicht im-
mer geschickt agierten.
Als es endlichlosging, zeigtesich, es
wargar nicht so sehr dieFrage, ob dieser
Prozesswirdanden Tagbringen können,
wastatsächlichgeschah. Darüber besteht
offenbar Einigkeit.Kein einzigerAuftritt
im Bademantel,keine exhibitionistische
Masturbation,keine orale odergenitale
Berührung wurdenvonWeinstein und sei-
nem Team abgestritten.Nurwirdgesagt,
die Frauen wollten das auch. Esgeht also
einzig darum, ob die Ereignisserichtig,
das heißtgerecht, gedeutet werden kön-
nen. Forensische Beweise liegen, wie in
den meistenMissbrauchsfällen, nichtvor.

W

irdesGerechtigkeitgeben,
für Weinstein, für dieFrau-
en, die behaupten, seine Op-
ferzusein? SechsFrauen
sagten schließlichaus, um einVerhaltens-
mustersexuellen Machtmissbrauchs und
Nötigung offenzulegen. Darunterwardie
Schauspielerin Annabella Sciorra.Seit
der Serie„The Sopranos“ sei ihreKarrie-
re nicht sehr eindrucksvoll verlaufen, so
Weinsteins Anwältin, nachihrem Auftritt
vorGericht aber habe sie einen neuen,
einflussreichenAgenten.Kann man ei-
ner solchenZeugin Glauben schenken?
Deutungsmacht.Darumgeht es, und
darum allein. Deutungsmacht darüber,
wasals Ge walt zwischen zwei Menschen
anzusehen ist.Wiedas OpfervonGewalt,
wenn es sichals solches empfindet, mit
dieser Erfahrung umgeht.Wie sic hdie Be-
ziehung zwischenTäterund Opfergest al-
tet, nachdem ein Akt der Gewalt verübt
wurde, und ob das den Gewaltakt in ei-
nem anderenLicht erscheinen lässt.Die
Vertreterinder Anklage, Bezirksstaatsan-
wältin Joan Illuzzi, sagteinihrem Schluss-
plädoyerüber jene jungeSchauspielerin
und Friseurin, dieWeinstein Vergew alti-

gung vorwirft,später abermit ihm inKon-
takt blieb: „Siehätte ihm täglicheine Lie-
besnotiz schreibenkönnen. Sie hättemit
ihm verheiratet sein können.Eswürde die
Sache nicht ändern. Er hättesie immer
nochnicht vergew altigen dürfen.“
So is tdie Lage.Folgt man hingegen den
Versuchen derVerteidigungWeinsteins,
vorallem den abschließenden Ausführun-
genseiner Anwältin Donna Rotunno,
macht diesesVerhalten dieZeuginnenvöl-
ligunglau bwürdig. Sie zu diskreditieren
warihreeinzigeStrategie, die sichmögli-
cherweise als wirksam erweisen könnte,
weil darin eine merkwürdigePrüderieam
Werk war. Pointiertgesagt: Wervergewal-
tigt wird, darfdanachnicht frühstücken.
Undfallsder Täterderjenigeist,der eine
Karriereverheißt,darfdie Karrierenicht
verfolgt werden. Werden Schadenhat,
hat den Schaden.
Dassüber solcherlei überhauptdisku-
tiertwird, zeigt, wiewenig dieFolgen sexu-
eller Gewalt letztlichzur Kenntnisgenom-
men werden und wie viel denFrauen, die
sie erdulden, zugemutetwird: Während
der Angreifer die Moral einerKakerlake
haben mag und damit möglicherweise un-
geschoren davonkommt,sollendie Opfer
sichmit damenhafterKonsequenz den Me-
chanismen der Industrie, in der sie arbei-
ten, durch Branchenwechsel entziehen?
Dennfolgt man den Argumenten derVer-
teidigung, wirdnur erneut das Macht-
system Hollywoo ds sichtbar,für das sexu-
elle Übergriffe unterschiedlichen Charak-
ters konstitutiv sind. DieFrauen wussten
das, suchten trotzdemweiter Kontakt und
nahmen also inKauf, wasbereitsgesche-
hen war?
Mussten dieFrauen damitrechnen, se-
xuellen Übergriffenunterschiedlichen
Grades ausgesetzt zu sein,wenn sieweiter-
kommenwollten? Solltedas am Ende die-
ses Prozesses als Urteil der Geschworenen
gegendie Opferstehen –eswärefür lange
Zeit das Endealler Hoffnungen aufVerän-
derung. VERENALUEKEN

Natur undWissenschaft
Nunlässt sichauchGlas drucken
und nachBeliebenstrukturieren

Geisteswissenschaften
Beethovenals Hofmusiker des
BonnerKurfürsten MaximilianFranz

Einevolle Stunde mitSophieRois. Das
istdas große Privileg der Theaterhaupt-
stadtBerlin, dasshier dieWege zu den
Heroenund Diven der Schauspielkunst
so kurz sind. Dennauch, wenn hier und
da betriebsinterndavon geraunt wi rd,in
Zukunftalles ganz andersmache nzuwol-
len am Theater,mit mehr VR-Brillen und
wenigerStars –die Zuschauerströmen
nachwie vorzui hren Lieblingen.Undrei-
sen dafür mituntervonweit an.
FürSophieRois lohnt sichjede An-
fahrt. Mit kariertem Rock undKopftuch
sitztsie am Anfang ihres neuen Solo-
abends „nachdem Roman ,DieWand‘
vonMarlen Haushofer“ amTeetischchen
und rauchtmit gespreiztenFinger ndie
tausendneunhundertneunundneuzigsteZi-
garette. Sie istHaushoferseinsameFrau
im Wald, die sichnacheiner Wanderung
in die Berge plötzlichhinter einerun-
sichtbarenWand wiederfindet, nur in Ge-
sellschaftvon einerKuh, einem Hund
und einerKatze. „Et wasscheinthier
möglichzusein“, stellt sie beim Blickins

menschenleereTal zunächstzufrieden
fest undprobt denabsichtslosen Gang
über dieFelder.
Als Aussteigerin fühltsie si ch,be-
schenkt mit viel freierZeit zur Selbst-
beobachtung.Sie drehtEntspannungs-
runden, schießt alteBöcke und beißtin
Waldhimbeeren.Aber baldschon packt
sie die Sehnsucht nach„schwarzem Brot,
Orangen undEiskaf fee“,bald denkt
sie vielandie Frau, die sie einmal
gewesen ist, undtrauert um diefortge-
zogenen Menschen, die einmal ihreKin-
der waren. Harttritt ihr vorAugen,
wieschmerzhaft das Alleinsein auf Dau-
er is t.
Ungefähr in der Mittedes Abends
schwebt eine überdimensionalgroße Erd-
beersahneschnittevon der Decke herab
undbiete tder Einsiedlerin Anlasszum
Klettern. Das dumpfeUnbehagenvonfrü-
her, „dass dasallesnochzuwenig ist“,
wandeltsichzudem ungefähren Gefühl,
dort angekommen zu sein,wo nichts
mehr zählt.Die Luft,die Weite, der

Schnee–alles, waseinmalwar,vergeht
wieder. Nichts bleibt.Nichts überdauert.
„Und einmal“, sorezitiert Rois aus
HaushofersRoman, „einmalwerdeich
nicht mehr sein,und niemand wird die
Wiesenmähen“.Keinerwirdwissen,
dass es einmal jemandengab, de rhier
auf demStein in der Sonnesaß und „ja,
ja“ oder„nö, nö“ zu sichsagte.
Rois spielt dieRolle de rsteti gbetrüb-
terwerdenden Aussteigerin mitgrandio-
ser Grandezza. Mitjenerunverkennba-
renStimme, die irgendwozwischen sanf-
temBauchgrummeln und jubilierendem
Kehlkrächzenangesiedeltist.Die V irtuo-
sität,mitder sie immerneueTöneher-
vorbringt,ist umwerfend.
StetsklingtihreStimme dabei leichtge-
pres st,soals ob siesichgegen einen ima-
ginären Widerstand bildete, aber nie
wirkt dasangestrengt, sondernnur grazil
resolut.Sowie sie sichdie Haarsträhne
aus demGesichtstre icht, so spricht sie
auch: Anziehendselbstbewusst,wie eine,
die selbstniemanden braucht, abervon

allengeliebtwird. Zwischendurchsingt
die LinzerinRois österreichisc hSelbstge-
dicht etes auf Bob-Dylan-Melodienoder
lässt eineKirchenkantatevon Bach ein-
spielen.Unddann, ehe man auchnur ein-
mal dieGedankenabschweifen oder das
Augenlid zucken lassenkonnte, istder
Abend schon wieder zu Ende. Mit einem
„Das war’s, Folks“ verlässt die Rois unter
tobendem Applaus die Bühne.
Nur, um wenig später zu den Klängen
vonChuckBerrys„C’estlavie“ mit
Schnipsenund Swingbewegungenwie-
der aufzutreten un dnocheinmalalleBli-
ckeganzauf sich zu ziehen.Das is tkein
Texttheaterabend, den man hiererlebt,
keineausgefalleneStoffinszenierung
oder besondereRegie-Idee, aber dafür
sieht man eineStunde lang einergrandio-
sen Stilistin beim Spielen zu.Das, was
auf der Berliner Bühnevor gut dreißig
Jahren einmal LibgartSchwarz war, ist
heuteSophieRois –die große Eigenarti-
ge,mit einerStimme,gebildet wieaus al-
len Wunder nder Welt. SIMONSTRAUSS

Umgebenvoneinem perfekt besetztenTeam: HarveyWeinsteinverl ässtdas NewYorkerGericht, linksseine Anwältin DonnaRotunno. FotoAP

Einstentstanden hier Schiffskurbel-
wellen derFirmaKrupp, später baute
AEG in dem um 1900 errichteten
Backsteingebäude Gas- und Dampf-
turbinen. Zwischen 1996 und 2010
dientedie Halle amRand der Essener
Innenstadt als Musicaltheater mit
1400Plätze n, bescherte denVeran stal-
tern jedochfast durchwegroteZah-
len. Jetzt hat der Musicalproduzent
StageEnter tainment,der das denk-
malgeschützteGebäude zuletzt als
Event Location betrieb, das Areal an
die RAG-Stiftung und den Energie-
konzernEon verkauft. Geplant sei
eine Art„Zentrum für Innovation“,
auchaneine kulturelleNutzung wird
gedacht. Man solltejedoch nicht zu
viel erwarten: Wiedie Stiftung mit-
teilt, wirdder Er werb des Theaterge-
bäudesvorallem alsTeil einerKapital-
Tortenbesteigerin: SophieRois FotoB.Braun anlagestrategie betrachtet. igl

Morgen


Diese Frau is tein Ensemble


Wunderbarwandelbar:SophieRois sitzt im Deutschen Theater Berlin amTeetischund erzähltvoneiner unsichtbarenWand


Es geht ums System Hollywood


Geldanlage


Colosseum


RAG-Stiftungkauftein


Im Prozessgegen


HarveyWeinstein


sind dieFakten klar.


Die Beweisaufnahme


istvorbei, die


Inszenierung nicht.


WasdürfenOpfer?


Das istdie Frage.

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