Die Welt - 17.02.2020

(nextflipdebug5) #1
de, de, de, de, de, de‘ – so voll ins Ge-
sicht, hart und kalt. Und ich dachte mir:
Wenn das kein Album ist, das ich selber
auflegen würde, warum habe ich es
dann gemacht?“
Ein paar Jahre, verschlissene Produ-
zenten und Panikattacken später war
das nächste Album fertig, „Trouble in
Paradise“. Es ist der Grund, warum ich
La Roux unbedingt treffen wollte. Nach
einer Woche auf einem Segelboot mit
zehn Jungs und einem Meer voller Feu-
erquallen im Sommer 2014 brauchte ich
ein paar Tage Pause. Ich quartierte mich
in Cefalù ein, an der Nordküste von Si-
zilien, weil ich gehört hatte, dass die
Altstadt unter einem großen Felsen so
malerisch sei, dass sie sogar den geho-
benen Ansprüchen des Satanisten Aleis-
ter Crowley genügt hatte, der in der Nä-
he die Abtei von Thelema gründete.
Leider gab es keine einzige Bar, kaum
zu glauben, aber wahr. Ich fand mich al-
lein unter lauter Familien mit Kinder-
wagen, die alle um zehn ins Bett gingen.
Nicht mal ein Satanist ließ sich blicken.
So saß ich abends allein auf der Dach-
terrasse des Nonnenklosters, in dem ich
wohnte, schaute aufs Meer hinunter,
trank langsam eine Flasche Rotwein
und hörte La Roux.
Ein früher Streaming-Algorithmus
hatte „Trouble in Paradise“ auf der

D


ie Londoner Popmusike-
rin Elly Jackson alias La
Roux ist bestimmt kein
Brexit-Fan. Schon rein
äußerlich, von der oran-
gefarbenen Kunstpelzjacke bis in die ge-
gelten roten Haarspitzen, ist sie ziem-
lich das Gegenteil von Boris Johnson.
Trotzdem treibt sie energisch eine In-
selwerdung voran – ihre eigene.

VON JAN KÜVELER

Gerade ist ihr drittes Album erschie-
nen, „Supervision“. Es markiert den
ewig verkrampften, lange ersehnten,
endlich geschafften La-Rouxit. Sie hat
sich von ihrem Label losgesagt und ver-
öffentlicht fortan in Eigenregie, auf ih-
rem eigenen Label Supercolour.
In der Garderobe des bildschönen Ju-
gendstiltheaters Élysées Montmartre in
Paris, vor dem dritten Konzert ihrer
Tour, die sie an diesem Samstag auch
nach Berlin führt, streckt sie zur Begrü-
ßung die Hand aus und sagt: „Hi, I am
Elly.“ Als ob man das nicht wüsste.
Aber was sollen Leute, die, obwohl sie
erst Anfang 30 sind, schon vor zehn Jah-
ren Grammys gewonnen und ihre ers-
ten Singles sechs Millionen Mal ver-
kauft haben (Ohrwurmcheck: „This ti-
me, baby, I am bulletproof!“), auch sa-
gen: „Hi, du weißt, wie ich heiße, wie
heißt du?“? Außerdem legt sie zur Be-
grüßung linkisch-charmant den Kopf
schief, wie um zu betonen, sie sei ein
ganz normaler Mensch; dabei ist sie das
wahrscheinlich einfach.
Ihr ultramelodischer Synthie-Pop
war damals, 2009, eine vielfältig an-
schlussfähige Zeitmaschine. Sie beehrte
überlebende Achtzigerjahre-Originale
wie Heaven 17 und New Order mit Gast-
auftritten, wurde aber auch vom zu-
kunftsorientiertesten Teil der Gegen-
wart gebucht, das heißt von Kanye West
für sein Meisterwerk „My Beautiful
Dark Twisted Fantasy“.
Mit zuckersüßem Falsett sang sie
„I‘m in it for the kill“, sodass es fast gar
nicht bedrohlich klang – als würde der
Kanarienvogel ankündigen, sich gleich
die Katze zu krallen. Gleichzeitig lief al-
les aber so gar nicht nach Plan, jeden-
falls nicht nach ihrem.
Wieso, das zeigt zum Beispiel eine
Szene, ein paar Stunden nach unserem
Gespräch in der Élysée-Garderobe, mit-

Szene, ein paar Stunden nach unserem
Gespräch in der Élysée-Garderobe, mit-

Szene, ein paar Stunden nach unserem

ten im Konzert. „It’s that time again“,
sagt sie lakonisch, in einer ihrer spärli-
chen Ansagen. Hinter ihr blinken deko-
rative Neonpalmen in sinnfälliger Insel-
symbolik. „Es ist wieder so weit: ‚Bullet-
proof‘.“ Die Leute im ausverkauften
Saal johlen.
La Roux macht ungerührt weiter: „I
fucking hate that song. Also habe ich ihn
geremixt. Er ist jetzt viel besser.“ Dann
geht es los, in leicht hektischem Stakka-
to: „Been there, done that, messed
around/ I’m having fun, don’t put me
down/ I’ll never let you sweep me off my
feet.“ Und es ist wirklich sehr viel bes-
ser, organischer, wärmer und wenn
überhaupt, mit noch mehr Bums.
„Als das erste Album fertig war“, hat
sie am Nachmittag erzählt, „habe ich
gemerkt, dass es nicht die Art Platte
war, die ich jemals auflegen würde. Das
hat mich enorm gestört. Ist mir egal,
dachte ich, dass Millionen Leute das toll
finden. Ich find’s nicht toll. Ich meine,
ich hasse es nicht. Es ist nur dieses ‚De,

Playlist nach oben gespült. Und da blieb
es, wahrscheinlich wegen seiner Up-
beat-Melancholie, der romantischen
Sehnsucht, die aus dem Inneren der
Maschine zu kommen schien, Naivität
und Unschuld inmitten von ungerühr-
tem Computergeschnalze, kaltschnäu-
zigen Drums und souveränen Synthesi-
zerkaskaden, irgendwo zwischen Brons-
ki Beat, Yazoo und Depeche Mode.
Cool und uncool gleichzeitig, modern
und menschlich. Von gestern und ex-
trem zeitgenössisch. Passte perfekt zu
meiner halb selbst gewählten, halb ver-
unfallten Nonnenkloster-Dachterras-
sen-Rotwein-Isolation.
Die Kritiker liebten das Album, das
große Publikum aber blieb weg, „Trou-
ble in Paradise“ ging als Achtungserfolg
in die Popgeschichte ein, mit anderen
Worten, als mittleres Fiasko. Und dann:
nichts mehr. La Roux schwieg.
Inzwischen weiß man, dass sie eine
besonders extreme Panikattacke, übri-
gens auf einer Insel, dem winzigen Pa-
xos, südlich von Korfu, buchstäblich in
die Knie zwang. Sie und ihre Freundin,
das schwante ihr so plötzlich wie heftig,
hatten sich genauso auseinandergelebt
wie sie und ihr Label, wie sie und ihr
Produzent (schon der dritte), am Ende
wie sie und sie selbst. Es folgten allerlei
Trennungen und Neuanfänge.

Und jetzt, endlich, mal wieder fünf-
einhalb Jahre nach dem letzten, ist das
neue Album da, „Supervision“. Es er-
scheint auf ihrem eigens gegründeten
Label Supercolour und war wohl schon
seit einer Weile fertig, also die reine
Musik, aber wenn man alles selber
macht – Tour buchen, Videos produzie-
ren, Vertrieb organisieren etc. –, kann es
mit der Marktreife schon mal dauern.
Das Album klingt wie eine Fortset-
zung von „Trouble in Paradise“,
höchstens etwas gesetzter, mid-tem-
po-iger, abgeklärter, auch entspannter
und freier. Sie spielte es am Küchen-

tisch im Londoner Stadtteil Brixton
ein, mit Gitarre, Keyboard und einem
alten Computer. Nur auf Tour beglei-
tet sie eine Band.
Den Gitarristen, erzählt sie, hat sie in
einem dreijährigen Prozess aus 47 Be-
werbern gecastet. Das Kriterium: „Er
musste absolut so klingen wie ich. Da
gibt es keinen Freiraum.“ Live dabei
sind nur ein Percussionist, ein Bassist
und der geklonte Gitarrist. Keyboards
und Drums kommen vom Band. „Ich
wollte“, sagt Elly, „dass die Songs 100
Prozent so klingen wie auf dem Album.“
Auch das steckt im Titel „Supervision“,
was mit „Aufsicht“ oder „Überwa-
chung“ nicht schlecht übersetzt ist. Al-
ternativ hätte sich auch „Me, myself and
Elly“ angeboten.
„Ich hatte eine Million Gründe, es
diesmal nicht zu kompliziert zu ma-
chen“, sagt Elly. „Zum Beispiel hatte ich
keine Zeit. Vor zwei Jahren war ich ge-
zwungen, insgesamt drei Jahre Arbeit
wegwerfen. Ich wollte nicht, die Songs
waren gut. Aber ich hatte jemanden in
mein Leben gelassen, der sich als tota-
les Arschloch entpuppte. Ich habe darü-
ber noch nicht gesprochen, weil ich
nicht schon wieder so weinerlich rüber-
kommen will. Aber ja, ich habe mich
von allem gelöst, mein eigenes Label
gegründet und in nur vier Monaten ein

neues Album geschrieben und aufge-
nommen. Das ist wie ein Tagebuch. So
soll es jetzt weitergehen. Ich habe
schon drei neue Songs hinten auf dem
Computer.“
Nebenbei hat sie sich geoutet. Ihre
Sexualität war immer schon eine Art of-
fenes Geheimnis – wenn im 21. Jahrhun-
dert überhaupt noch etwas geheimnis-
voll daran sein sollte. „When the 21st
century’s gone“, singt sie im ersten
Stück, „holding on, moving on.“
Ihre Androgynität war immer schon
unübersehbar. Ein Kollege schrieb
einst, sie sehe aus wie das Kind von Til-
da Swinton und David Bowie. Ihr Künst-
lername ist ein Wortspiel mit den Ge-
schlechtern, auf Deutsch ungefähr „die
der Rothaarige“. Nur direkten Fragen
dazu war sie immer ausgewichen.
Das bereut sie jetzt vielleicht ein
bisschen. Im Fade-Out von „Automatic
Driver“, einer der drei Singles, singt sie:
„After I waited so long to find you/ Why
did I let myself run and hide you?“ Auf
dem letzten Album sang sie noch von ei-
nem – offenbar weiblichen – lyrischen
Ich, das ihren – männlichen – Freund ei-
fersüchtig in der „Sexotheque“ vermu-
tet, was immer das sein soll (angeblich
ein Sexklub in Montreux, aber wer will
das schon so genau wissen). Einordnen
lassen will sie sich jedenfalls immer
noch nicht. Das Wort „Lesbe“ passe
nicht zu ihr, sagt sie. Außerdem sehe sie
nicht ein, warum Segregation der
schwulen Sache nützen solle. In der Lie-
be ist sie sozusagen Universalistin.
Sie wollte auch nie, dass ihre Musik
als schwul gelabelt würde, aus Angst,
die Heteros würden wegbleiben. In Pa-
ris sieht man das traditionell nicht so
eng. Das Publikum am Abend ist sehr
gemischt, höchstens fehlen die ganz
Jungen. Die meisten dürften in den
Dreißigern sein. Alle nett, alle gut ge-
launt. Wenn das ein Querschnitt durch
die Menschheit wäre, Elly bräuchte nie
wieder eine Panikattacke zu haben (sie
sagt, sie habe sie sowieso überwunden).
Neben mir hinten an der Bar tanzt
vergnügt ein Grauhaariger im roten
Pullover. Über weite Teile des Abends
bleibt der Gitarrist, obwohl so sorgfäl-
tig ausgesucht, arbeitslos. Überhaupt
verschwimmt die Band mit dem Hinter-
grund. Inmitten der blitzenden Laser
und der Neonröhren-Tropicana-Ästhe-
tik, die strahlt wie Weihnachtsschmuck,
der sich in der Jahreszeit geirrt hat, glit-
zert allein Elly.
Im Paillettenanzug und mit hoch
über die Brust geschnallter Stratocaster
sieht sie aus wie ein junger Bowie, der
sich als Prince verkleidet hat. Und sie
klingt, als hätte Dave Gahan von Depe-
che Mode einen tiefen Zug aus einem
Heliumballon genommen.
Das Live-Spiel tut der Musik gut.
Nicht, dass sie auf der Platte stickig
klingen würde. Aber ein bisschen ist es,
als würde ein Fenster aufgehen oder als
trete man nach einer langen Nacht un-
ter Deck hinaus an die Reling. Hin und
wieder, besonders bei den langsameren
Stücken wie dem schönen „Gullible
Fool“, beschleicht mich die Vorstellung,
Elly wäre Alleinunterhalterin auf einem
Kreuzfahrtschiff irgendwo in der Kari-
bik. Diese Leute, allein im melancholi-
schen Rampenlicht, haben es selten
leicht. Was sie aber wollen und was ih-
nen fast immer gelingt – dass die Welt
ein bisschen schöner wird.

Die Sängerin


La Roux hat ihrer


Plattenfirma den


Rücken gekehrt und


macht ihr eigenes


Ding. Ein Gespräch


über Panikattacken,


Perfektionismus und


ein spätes Outing


„Er musste absolut so klingen wie ich“, sagt La Roux. „Da gibt es keinen Freiraum“

ANDREW WHITTON

/

Eine Bowie,


die sich als Prince


verkleidet hat


22


17.02.20 Montag, 17. Februar 2020DWBE-HP


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22 FEUILLETON DIE WELT MONTAG,17.FEBRUAR2020


V


alentinstag, Flughafen Berlin-Te-
gel. Wenn man in der Morgen-
dämmerung mit dem Taxi auf
das Flughafengelände fährt, hat es im-
mer so etwas Vertrautes, Überschauba-
res, Nostalgisches. Wie ein Spielzeug-
flughafen. Dieser Kontrollturm, auf
dem sich dieses Antennending so dreht.

VON OLIVER POLAK

Dieses gute Gefühl wird schnell wie-
der schwinden, da ich meinen Flug nach
New York verpasst habe. Immer auf den
letzten Drücker, es war nur eine Frage
der Zeit, wann genau das passiert. Ich
fahre zurück nach Hause, hole vorher
meinen Hund Arthur vom Dogsitter ab
und lege mich mit Arthur ins Bett.
Eine Benachrichtigung auf Facebook.
Das seit Wochen ausverkaufte einzige
Deutschlandkonzert der Strokes zum
Release ihres neuen Albums findet heu-
te statt. Die Strokes, eine Band, die An-
fang der Nullerjahre den Rock neu defi-
nierte und das Alte in seiner unver-
staubten Schönheit gleichzeitig zurück-
brachte. Retro-Rock mit Captain-Futu-
re-Elementen. Ihre Kompositionen wa-
ren zwei-, dreiminütige perfekte Songs,
von denen die Libertines oder Arcade
Fire immer noch träumen. Wie Tweets
als Songs, nur mit echter Liebe.

Auf der Facebook-Seite der Veranstal-
tung bieten Hunderte Typen Tickets an.
Ich schreibe einer Frau in Berlin, die
mir den Ticketlink zusenden wird,
wenn ich ihr schnell 50 Euro per Paypal
überweise. Ich biete ihr an, die Karten
persönlich abzuholen. Das
möchte sie nicht, sie möchte,
dass ich ihr erst mal das Geld
überweise.
Sie schreibt mir, dass ich ihr
vertrauen kann. Fünf Minuten
später ist ihr Profil gelöscht.
Ein anderes Mädchen fragt, wie
viel ich denn zahlen würde, und
ich frage, was es denn kostet.
Sie gibt mir zu verstehen, dass
andere 80 Euro geboten haben
und ich höher einsteigen muss,
um die Karte zu bekommen.
Mit 90 Euro bin ich dabei. Wir
verabreden uns vor der Halle
am Columbiadamm.
Arthur und ich fahren zu
Curry 36, wo wir drei Curry-
würste ohne Darm (eine für ihn, zwei
für mich) und Pommes-Mayo und Nu-
delsalat zum Mitnehmen bestellen. Wir
stellen uns auf den Parkplatz vor der
Halle.
Wir schlingen die Würste in uns rein,
um das Warten auf die Ticketübergabe
zu verkürzen. Das Licht der Leucht-

reklame der Columbiahalle „Strokes
Sold Out“ strahlt ins Auto und lässt Ar-
thurs Augen funkeln. Flauschige Valen-
tinstagsromantik.
Um acht Uhr drückt mir die Fremde
die Karte in meine Hand, ich drück ihr

die 90 Euro in die ihre. Ich frage noch,
warum ich nicht den Originalpreis zah-
len kann. „Biergeld“, ruft sie mir zu und
verschwindet in der Menge.
Oben auf dem Balkon stehe ich um-
ringt von Pärchen, gealterten Hipstern
mit Schnurrbärten und bezaubernden
strahlenden Frauen. Gemeinsam war-

ten wir auf die Strokes. 14 Jahre sind
seit ihrem letzten Berlin-Konzert
vergangen.
Es ist sehr heiß hier oben in der Halle,
der Schweiß läuft von meinem Dsqua-
red-Cap an meinen Schläfen in meinen
Mundwinkel runter. Ich rieche
kurz an meinem Schweiß, der
sich mit meinem Comme-des-
Garçons-Parfüm vermischt. Va-
lentinstagsschweiß? Strokes-
schweiß?
Dann betreten die fünf Män-
ner die Bühne. Sie beginnen ihr
Set mit einer Gitarrenattacke,
„Heart in a Cage“ von ihrem
dritten Album. Herz im Käfig.
Wie viele der Paare hier haben
wohl schon mal ein Schloss mit
ihren Initialen an eine Brücke
gehängt? Ein Schloss als ein
Symbol für eine Liebe?
Es ist, als würden sie binnen
Sekunden mein Herz nach all
den Monaten wieder beleben.
Der Stephen-Malkmus-artige Gesang
von Julian Casablancas, die Dinosaur-
Gitarren, die lauter kreischen, schreien
als der größte Liebeskummer, den man
sich vorstellen möchte, und das
monotone Strokes-Schlagzeug, das ei-
nem Schweizer Uhrwerk ähnelt und
beruhigt.

Elegant, akkurat auf der Bühne ange-
ordnet, jeder hat seinen Spot. Geklei-
det wie eine Italo-Pop-Band der Acht-
ziger. Der eine im T-Shirt, der andere
im Anzug oder Lederjacke. Casablan-
cas haucht mal chansonesk das Mikro-
fon an, leckt es dann wie ein Ed-von-
Schleck-Eis ab, um es danach, schrei-
end auskotzend, mit dem Mikrostän-
der auf den Boden zu knallen. Dann
schaut er in die Menge und sagt: „Ich
habe ein kompliziertes Verhältnis zu
Mikrofonständern.“
Was ich sehe, kann ich schwer ein-
ordnen. Genau das ist das Geheimnis
der Strokes. Als sie 2001 auftauchten,
dachten alle, die sind so und so. Aber sie
waren nie so, sondern immer dann doch
irgendwie – so. So anders! Wenn Wee-
zer Coca-Cola sind und Phoenix Fanta,
sind die Strokes Spezi. Eine Mischung
aus Eleganz und Rock. Ihr Auftritt heu-
te hat die Schönheit einer Szene aus ei-
nem Woody-Allen-Film. Die Strokes
sind wie fünf melancholische Glücks-
bärchis, die ihre Melodien in die Gehör-
gänge der anwesenden Verliebten und
Nichtverliebten schießen.
Die Band ist Julian Casablancas, und
er ist die Band. Er wendet beim Singen
dem Publikum den Rücken zu, um sich
dann gleich wieder zu öffnen und am
vorderen Bühnenrand mit einem Fuß

auf der Monitorbox zu posieren. Er nu-
schelt vor sich hin, singt so emotional,
dass es mir das Herz zerfetzt. Geistert
über die Bühne, dann läuft er mit sei-
nem langen Kabel einfach in die Menge,
fordert sie auf, ihm die Seele aus dem
Leib zu prügeln. Er bekommt Liebe.
Das Ganze hat was von einer Thera-
piesitzung zum Thema Liebe und
Schmerz. Wer Therapeut ist, wer Pa-
tient, Casablancas oder wir, wechselt
ständig – es ist, als ob Casablancas heu-
te den ganzen Liebeskummer der Halle
stellvertretend aushält.
Valentines day fuck off. Das Konzert
ist wie eine Fahrt im Musikexpress auf
der Kirmes. Bunte Lichter, laute Musik,
Typen mit schrillen Bandshirts und
Schnurrbärten. Ich will die Strokes wie
einen Karussellfahrchip nie wieder los-
lassen. Dann zum Ende ihre Hits „Last
Nite“ und „Someday“.
Ich schlendere zurück zum Auto, zu
Arthur. Stelle die neue Single „At the
Door“ laut an. Julian singt: „Arrive at
the door/Anyone home? Have I lost it
all?“. Arthur und ich schauen uns tief in
die Augen. Am nächsten Morgen sitze
ich im Flugzeug nach New York, denke
an „Last Nite“ und, ja, „Someday“.

T„The New Abnormal“, das neue Album
der Strokes, erscheint am 10. April

Liebt mich, schlagt mich, singt meine Lieder


Die Strokes haben in den Nullerjahren dem Rock die Schönheit zurückgegeben. Jetzt sind sie wieder da. Erlebnisbericht einer Therapiesitzung unter Verliebten


Hat ein gestörtes Verhältnis zu Mikrofonständern: Julian
Casablancas ist der Kopf der Strokes

DPA

/CHRISTOPHE GATEAU

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