Süddeutsche Zeitung - 17.02.2020

(Marcin) #1
Der Titelheld in Georg Friedrich Händels
Oper „Tolomeo, Re d’Egitto“ ist eine merk-
würdige Figur. Schon zu Beginn will er sich
ins Meer stürzen, und noch kurz vor Ende
leert er einen Giftkelch, dem auch die be-
kannteste, in jüngerer Zeit von einigen
Countertenören aufgenommene Arie der
Oper gilt: „Stille amare“ – bittere Tropfen.
Drei Akte lang bleibt dieser Tolomeo, an-
geblicher König von Ägypten, des Lebens
müde. Doch sterbende Schwäne, sagt man,
sängen am schönsten, was auf jeden Fall
gilt, wenn sie Jakub Józef Orliński heißen.
Der Pole gilt momentan als heißester An-
wärter auf die Position des Shootingstars
unter den Countertenören, der als neuer
Typus des hoch singenden Mannes daher-
kommt. Das Musikvideo zu seiner kürzlich
erschienenen Platte „Facce d’amore“ zeigt
ihn als lässigen, dezidiert männlich auftre-
tenden Liebhaber, der sich heiße Kissen-
schlachten mit einer asiatischen Schön-
heit liefert. Dass Orliński auch Breakdan-
cer ist, in Werbevideos von Konzernen mit-
gewirkt hat und über das entsprechende
Äußere verfügt, hilft dabei.
Es wäre aber unerheblich, wenn seine
Stimme nicht tatsächlich ein Ereignis wä-
re, wie man nun bei der Eröffnung der In-
ternationalen Händel-Festspiele in Karls-
ruhe hören konnte. Orliński gestaltet die
Partie des Tolomeo, die Händel für den
Star-Kastraten Senesino schrieb, enorm
farbenreich. Dass seine Stimme viriler
klingt als die mancher Counterkollegen,
liegt am Fundament in einer kraftvollen
Mittellage. Ebenso dunkel wie warm ist
der Stimmkern, den er auf einem schier
endlosen Atem zu entfalten vermag. Das
bringt auch jenen Effekt hervor, mit dem
schon die Kastraten mindestens den weib-
lichen Teil des Publikums regelmäßig der
Ohnmacht nahe brachten: das Messa di Vo-
ce, also das langsame An- und Abschwel-
len der Stimme auf einem Ton. Orliński
zieht auch kürzere Noten gern derart auf,
was auf Dauer zum Manierismus werden
könnte, hier aber immer dem Ausdruck
dient. Denn, und das ist wohl das Entschei-
dende, einfach nur schön klingen will
Orliński nie, obwohl er es fraglos tut. Der
junge Sänger ist von einem immensen Aus-

druckswillen getrieben, der die umfangrei-
che Partie des Tolomeo nie langweilig wer-
den lässt, jeder der vielen Arien Eindring-
lichkeit verleiht. Die leisen und langsamen
lässt er mit feinsten Abstufungen im Piano-
bereich zu Studien über haltlos schweifen-
de Sehnsucht werden, und in einer furio-
sen wie „Son qual rocca“ verwandelt er die
Koloraturen in die verzweifelte Anklage ge-
gen eine Welt, die zu schlecht ist, um in ihr
leben zu wollen. Tolomeo wird so zu einem
Seelenverwandten Hamlets, was zweifel-
los auch der subtilen Figurenbeleuchtung
durch den Regisseur Benjamin Lazar zu
danken ist.

Dabei ist die Oper, entstanden 1728 als
letzte der zusammenbrechenden ersten
Royal Academy of Music, sicher nicht Hän-
dels beste: Der zerfahrenen Dramaturgie
dient ein Machtgerangel zwischen zwei
Söhnen einer ägyptischen Königin als va-

ger Hintergrund. Die Arien bleiben einan-
der oft zu ähnlich, indem sie vor allem um
diverse Facetten der Liebe kreisen. Lazar
lässt gerade dieses Diffuse des Stücks zum
Thema werden, indem er es in einen See-
lenraum verlegt, der die Grenzen zwischen
Traum und Realität, auch zwischen Leben
und Tod auflöst. Im Bühnenbild von Adeli-
ne Caron wird ein von einem berühmten al-
ten Hotel im französischen Trouville inspi-
rierter Raum zur Insel, gegen die in den Vi-
deos von Yann Chapotel das Meer mal zar-
ter, mal heftiger anbrandet.
Vor einigen Jahren hatte der französi-
sche Regisseur bei den Händel-Festspie-
len eine aufsehenerregende Inszenierung
von Händels „Riccardo Primo“ in histori-
scher Aufführungspraxis vorgelegt. Bei
„Tolomeo, Re d’Egitto“ bleibt Lazar nun in
einer zeitlosen Gegenwart, wobei das prä-
zis gearbeitete Bewegungsrepertoire den-
noch die Stilisierung des Barock aufgreift.
Als schiffbrüchige Seelen begegnen sich
die fünf Figuren auf der meerumtosten
Rauminsel, streifen einander oft nur und
scheinen sich kaum wahrzunehmen, fin-
den dann wieder unerwartet zu Umarmun-

gen, bis sie erneut auseinandergetrieben
werden. Oft aber verweilen sie auch ein-
fach nur laut- und regungslos im Raum,
schauen starr aufs Meer hinaus. Das ewige
Spiel vom Suchen und Finden der Liebe.
Kaum glaubhaft, dass es mit dem barock-
obligatorischen Happy End tatsächlich an
sein Ende kommt, wenn Tolomeo und sei-
ne drei nicht sonderlich spannungsreiche
Akte lang gesuchte Geliebte Seleuce zuein-
ander finden. Louise Kemény verströmt in
der Partie das Unschuldstimbre ihres So-
prans am schönsten in den langsamen
Arien, wenn sie wie staunend in das eigene
Unglück hineinlauscht.
Meili Li vermag in der undankbaren Rol-
le des zweiten, von Händel deutlich knap-
per gehaltenen Countertenors mit lyri-
schem, weich gerundetem Klang zu beste-
hen. Morgan Pearse verfügt über die barito-
nale Statur für den Bösewicht Araspe, der
sich mit der anfangs koketten, aus ver-
schmähter Liebe zunehmend mordlüster-
nen Elisa verbündet. Die entsprechenden
endlosen Koloraturketten gestaltet Eléono-
re Pancrazi mit intensiver Phrasierung,
das nötige dramatische Fundament für
das Furienhafte aber geht ihr ab.
Im Graben leisten die Deutschen Hän-
del-Solisten optimale Unterstützung mit
einem nie dicken, vielmehr binnendyna-
misch reich aufgefächerten Klang. Wie der
Stil dieses Orchesters überhaupt bemer-
kenswert geschlossen wirkt – es findet
sich für die Karlsruher Händel-Festspiele
alljährlich aus unterschiedlichen Original-
klangensembles zusammen. Ihr präzises
Zusammenspiel verleiht schnellen Passa-
gen eine agile Wendigkeit, längere Linien
zeichnen sie mit zartem Silberstift. Dabei
treibt der Dirigent Federico Maria Sardelli
die Tempi mit entschlossenem Elan voran,
kommt aber dankenswerterweise ohne
das hysterisch Rumpelnde aus, das man in
vielen Barockaufführungen zu hören be-
kommt. Eher bewahrt er sich einen souve-
ränen Überblick über die Gesamtarchitek-
tur, womit er ähnlich wie die Regie dieser
wahrscheinlich nicht zu Unrecht vernach-
lässigten Oper Händels die größtmögliche
Geschlossenheit verleiht.
michael stallknecht

Es waren zwei Filme, die den italieni-
schen FilmemacherLucaGuadagnino
in den letzten Jahren bei einem größe-
ren Publikum bekannt gemacht hatten.
Zum einen war da „Call Me By Your
Name“, eine schwule Sommerromanze
im Intellektuellenmilieu, zwischen
einem Teenager und einem älteren
Amerikaner im Italien der frühen Acht-
zigerjahre. 2018 kam dann Guadagni-
nos Remake von Dario Argentos Horror-
filmklassiker „Suspiria“ in die Kinos, in
dem eine amerikanische Ballettschüle-
rin in den Siebzigerjahren nach Westber-
lin kommt, an eine Tanzschule, die von
Hexen betrieben wird.
Sein neuer Film heißt nun „The Stag-
gering Girl“ und dauert gut dreißig
Minuten. Premiere hatte er letztes Jahr
bei den Filmfestspielen in Cannes, nun
ist er seit Samstag für dreißig Tage auf
dem Streamingdienst Mubi zu sehen,
einer Plattform, die sich dem Qualitäts-
und Autorenkino verschrieben hat.
Unter diese Kategorie fällt auch das
Werk von Guadagnino. Der Titel ver-
spricht eine „umwerfende“, wenn nicht
gar „atemberaubende“ Frau. Da es sich
um einen Fashion-Film handelt, der
von der italienischen Modemarke Valen-
tino mitproduziert wurde, besteht das
Konzept darin, dass eine umwerfend
schöne Frau, gespielt von Julianne
Moore, umwerfend schöne Mode trägt.
Wer den Abspann studiert, wird dann
auch mit einer Auflistung aller Modekre-
ationen versorgt, die im Film vorge-
führt wurden. Aber es geht nicht nur
um Mode. Moore spielt eine in New
York wohnende Schriftstellerin, Fran-
cesca Moretti, die an ihrer Autobiogra-
fie arbeitet. Ihre (deutschsprachige)
Mutter ist eine erblindende Malerin, die
in Rom lebt – irgendwann macht sich
Francesca auf nach Italien, um sie zu
überreden, zu ihr nach New York zu
ziehen.
Das erzählt sich einfach, ist aber
komplizierter. Francesca bewohnt eine
Welt, die aus Träumen und Erinnerun-
gen besteht, aus Geistern und Stimmen



  • und natürlich aus schönen Kostümen,
    die sie entweder selbst trägt oder auch
    mal im Nachtwind wehen können. Aus
    dem Lüftungsschacht erzählt eine Frau-
    enstimme von einer erotischen Begeg-
    nung mit einem fremden Mann in der
    Oper. Und dann ist da noch diese ge-
    heimnisvolle Frau, die Francesca im-
    mer wieder erscheint und der sie folgt –
    durch die Flure ihres New Yorker Wohn-
    gebäudes und durch die engen Gassen
    Roms.
    Guadagnino verfrachtet Francesca in
    eine Art Spiegeluniversum. Immer wie-
    der geht sie auf die Kamera zu und ver-
    schwindet. Dann gibt es einen Schnitt
    und wir sehen, wie sie sich diesmal von
    der Kamera entfernt – wie in eine ande-
    re Welt. Zwischen New York und Italien
    scheint es somit eine direkte, unsichtba-
    re Verbindung zu geben. Francesca
    läuft durch ihr Apartment und findet
    sich auf einmal auf einer Party in Rom
    wieder. Dort wird sie von dem Gastge-
    ber in ein Arbeitszimmer entführt, in
    dem ein Gemälde ihrer Mutter hängt.


Sie nähert sich ihm. Plötzlich steht sie
vor einer Szene ihrer Kindheit: Ihre
Mutter überredet sie, ein bestimmtes
Kleid zu tragen. Man kann wohl davon
ausgehen, dass es aus dem Hause Valen-
tino stammt.
Alle Männerrollen des Films werden
übrigens von Kyle MacLachlan verkör-
pert, der mit David Lynchs „Blue Vel-
vet“ und „Twin Peaks“ bekannt wurde.
Auch hier sorgt der Schauspieler dafür,
dass der Film vom Charme des Geheim-
nisvollen und Unergründlichen heimge-
sucht wird, von Figuren, die weniger
eine eigene Identität haben, als dass sie
in verschiedenen Masken und Gestalten
wiederkehren.
Eine Wiederkehr lässt sich hier auch
mit Bezug auf Themen, Orte und Moti-
ve aus Guadagninos letzten beiden
Spielfilmen feststellen. Wie schon „Call
Me By Your Name“ spielt „The Stagge-
ring Girl“ gerade am Schluss in einem
schönen, alten, dunklen italienischen
Anwesen. Und wie in „Suspiria“ steht
im Zentrum des Films die Auseinander-
setzung einer Frau mit einer komplizier-
ten – und hexenhaften – Mutter. Ro-
mantik und Horror kommen wunder-
bar zusammen, verbinden sich in der
ebenso unheimlichen wie melancholi-
schen Filmmusik des berühmten Kom-
ponisten Ryuichi Sakamoto.
Gerade in diesem Fashion Film zeigt
sich Guadagnino damit als Autorenfil-
mer, dessen Werke thematische Ähn-
lichkeiten aufweisen. Auch, wenn er
hier hauptsächlich eine Luxuskollekti-
on vorstellt. Die Herausforderung be-
steht eben darin, hinter dem Kostüm
wieder die Schauspieler sichtbar zu
machen – und hinter dem Namen der
Marke Valentino die eigene Hand-
schrift. philipp stadelmaier


von till briegleb

R

ichard Jackson arbeitet noch auf
dem Bau, sagt sein Kurator Matthi-
as Ulrich. Dabei ist Jackson 80 Jahre
alt. Er wird von einer der wichtigsten Gale-
rien der Welt vertreten, Hauser & Wirth,
und hat gerade eine aufregende Ausstel-
lung in der Schirn Kunsthalle in Frankfurt.
Warum muss dieser Mann auf einer Bau-
stelle schuften? Warum ist er nicht Stamm-
gast in Restaurants mit kleinen Portionen
und großen Preisen? Für alle Besucher, die
Jacksons Tiraden gegen den Kunstmarkt
nicht kennen, beantwortet ein Zettel am
Eingang in Frankfurt die Fragen sehr
freundlich.
„I don’t really care about fame“, steht
da. „I just want to be proud of what I’ve do-
ne.“ Diese Haltung – sich lieber nicht allzu
sehr für den eigenen Ruhm zu interessie-
ren, dafür mehr für die eigene Arbeit – ist
bei Richard Jackson nicht kokett, sondern
fundamental. Er bezeichnet Sammler als
„Trottel“ mit „kotzblödem Lebensstil“ und
verlangt von der Kunst, dass sie sich nicht
von einer „hirnrissigen Kultur“ einverlei-
ben lässt, die alles nach „Geld und solchem
Dreck bewertet“.
Auf Akademien oder Biennalen kann
man solche antikapitalistischen Wutreden
auch hören. Aber Achtzigjährige beißen in
der Regel nicht mehr die Hand, die sie füt-
tert. Außer Richard Jackson. Der stapelt
frech hunderte Gemälde so zu Mauern,
dass man nur die Ränder, nicht die Motive
sieht. Und seine „Rooms“, die hier erstmals
gemeinsam gezeigt werden (immerhin
fünf von existierenden zwölf), kann man
nicht aus den Depots irgendwelcher Samm-
ler leihen. Sie lagern in einer Halle auf Jack-
sons Farm in Sacramento. Nur er entschei-
det, was damit geschieht.

Diese großen Installationen, die Jack-
son 1976 begann und plante, deren finale
Realisierung er aber erst von 2002 an um-
setzte, sind von dem bewusst infantilen
Trotz gegen die amerikanische Konsum-
kultur erfüllt, den so viele US-Künstler der
Nachkriegsgenerationen leitete: ob es Jack-
sons Freunde Bruce Nauman und Paul Mc-
Carthy sind oder die jüngeren, bereits ge-
storbenen Kommentatoren der amerikani-
schen Nachtseiten wie Jason Rhoades oder
Mike Kelley. So wird der Besucher von ei-
nem nackten Hintern begrüßt, der sich auf
einem Esstisch dreht. Aus dem Poloch wur-
de in der Geburtsperformance der Installa-
tion „The Dining Room“ 2007 rote Farbe
über debile Familienmitglieder gespritzt,
die mit verschmiertem Kopf auf dem Tel-
ler schlafen oder ein gelbes Smiley-Ge-
sicht zeigen, denn: „Dad shares all the shit
from work at the dining table“, wie Jack-
sons Projektskizze verrät, Vati teile alles.

Dieser verspritzte Farbauftrag, Jack-
sons Version von Jackson Pollocks „Drip
Paintings“, verbindet alle seine „Rooms“.
Im „Delivery Room“ wird auf einem Dreh-
tisch eine martialische Entbindung ge-
zeigt, wo mit dem Baby auch gleich alle In-
nereien der Frau vom Onkel Doktor heraus-
gerissen sind. Diese Figuren wurden eben-
so mit Farbe gefüllt, bis sie überlaufen wie
ein paar Disney nachempfundene Enten
mit Busenaugen in Militäruniformen im
„War Room“. Im „Maid’s Room“, eine Refe-
renz zu Courbets Unterleibsporträt, „Der
Ursprung der Welt“, sieht der Voyeur durch
einen schmalen Fensterschlitz zwischen
die Beine einer nackten Puppe, die mit ei-
nem Staubsaugerschlauch gelbe Farbe eja-
kuliert hat.

Diese Drehbühnen, Peepshows und Ta-
bleaus verraten aber nicht nur etwas vom
Zorn des Künstlers auf die verlogene Ober-
flächlichkeit des amerikanischen Traums
von Schönheit und Gier. Sein farbiger
Amoklauf erzählt vor allem vom seeli-
schen Brutkasten der Gewalt, für den er
die erbitterte Konkurrenz um Geld, Macht
und Applaus im kapitalistischen System
(und im Kunstmarkt) hält. Im Gegensatz
zu Paul McCarthy, der provozierende Stra-
tegien der Entblößung betreibt, demas-
kiert Jackson die us-amerikanischen „Tu-
genden“ aber eher mit den Mitteln der Sati-
re.
Zu dieser ironischen Haltung gehört auch,
dass Jackson sich als „Maler“ bezeichnet.
Denn bei seiner „Malerei“ handelt es sich
um willkürlich erzeugte Spuren performa-
tiver Prozesse, deren technische Apparatu-
ren das eigentliche Subjekt bleiben. Etwa
wenn in seinem „Bed Room“ ein farbbe-
schüttetes Bett zur Decke fährt und dort
kreisrunde Schlieren malt: die Gemälde
sind nur Schmiermittel einer kritischen
Idee, so wie man Spucke für einen Schmäh-
gesang braucht.
Nach der letzten großen Ausstellung
2013 in der Villa Stuck in München ist diese
erste Präsentation seiner „Rooms“ ein wei-
terer Schritt, einem Ruhm-Asketen den fäl-
ligen Ruhm zukommen zu lassen. Nicht
nur für seine unermüdlichen Versuche,
das Scheinheilige im Kunstmarkt offen zu
legen. Sondern vor allem als ein Künstler,
dem es in seinem Werk darum geht, die
Kehrseiten kapitalistischer und politi-
scher Eitelkeit zu thematisieren. Auf das
Ergebnis in der Schirn kann er jedenfalls
stolz sein – auf der Baustelle, auf der er ge-
rade ist.

Richard Jackson. Unexpected, Unexplained, Unac-
cepted.Schirn Kunsthalle, Frankfurt am Main, bis


  1. Mai 2020. Katalog (Verlag Kettler): 112 Seiten,
    32 Euro. Info: http://www.schirn.de


Der niederländische Pianist und Dirigent
Reinbert deLeeuw ist im Alter von 81 Jah-
ren am 14. Februar in Amsterdam gestor-
ben. 1974 gründete er das renommierte En-
semble Asko/Schönberg mit, dessen Chef-
dirigent er auch war. Sein Augenmerk galt
besonders zeitgenössischer Musik, die er
dem allgemeinen Publikum unermüdlich
näher brachte in Konzertreihen und Work-
shops. Auch als Pianist hatte er Erfolg, un-
ter anderem mit seinem Einsatz für das
Klavierwerk von Eric Satie. De Leeuw wur-
de vielfach ausgezeichnet, etwa 1992 mit
dem 3M-Muzieklaureaat, dem höchsten
niederländischen Musikpreis, und 2002
mit dem Edison Music Award. sz

Was für ein Mann, der so hoch singen kann


Der Countertenor Jakub Józef Orliński glänzt bei den Händel-Festspielen in Karlsruhe als Tolomeo


So etwa um 1970 wäre diese lärmende In-
szenierung des „Ubu Rex“ zwar auch schon
nostalgisch und plump gewesen, hätte viel-
leicht aber noch als anarchisches Vaudevil-
le oder als Beitrag zur Wiederentdeckung
Alfred Jarrys als Großspinner und Pionier
des absurden Theaters durchgehen kön-
nen. Heute bleibt nicht viel mehr als ein
schaler Nachgeschmack von dieser aufge-
kratzten Aufführung im Kleinen Haus des
Berliner Ensembles. Dabei hat das Stück je-
de Neuinszenierung verdient.
Die Pariser „Ubu Roi“-Uraufführung
der wilden Shakespeare-Parodie um einen
Kleinbürgerdiktator sorgte 1896 für einen
handfesten Theaterskandal. Schon mit
dem ersten Wort des Prologs, „Merdre!“
(ein verballhorntes „Merde“, also „Schei-
ße“), begann der Tumult im Zuschauer-
raum. Der einzige Theaterkritiker, der das
Stück positiv rezensierte, wurde von sei-
ner Zeitung sofort entlassen. Später feier-
ten die Surrealisten Jarry als „großen Zer-
störer“: „Wir waren uns mit ihm einig,
wenn er Gehirne zermantschte oder wenn
er sich entschloss, die ganze Welt durch ei-
ne Falltür zu werfen.“ (Philippe Soupault)

Der belgische Regisseur Stef Lernous,
offenbar ein Grobmotoriker seines Fachs,
verlässt sich in seiner rabiaten Bearbei-
tung auf den nächstliegenden Einfall. Statt
den Zuschauern zuzutrauen, die Parallelen
des offensiv verrohten und vulgären Nar-
zissten Ubu auf dem Thron seines Höllen-
königreichs zum verhaltensauffälligen Per-
sonal im Weißen Haus oder am britischen
Regierungssitz zu entdecken, setzt der Re-
gisseur auf überdeutliches Kabarett. Groß-
zügig über den Text gestreute Trump-Zita-
te, die überdimensionierte rote Krawatte
und die Boris-Johnson-Frisur demonstrie-
ren als Signalreize politische Bedeutung
und Zeitkritik. Ein verlebter Ubu (mit groß-
zügig ausgepolsterter Wampe: Tilo Nest)
fläzt auf dem Ledersessel vor dem Fernse-
her. Stefanie Reinsperger lehnt Frau Ubu
lose an Peggy Bundy an („Steck ihn rein,
rein ,rein!“), nicht unbedingt zur Begeiste-
rung des trägen Gatten: „Dieses Ge-
schlechterdingsbums ist schwieriger, als
ich dachte.“ Weil das Traumpaar nicht im
barocken Protz-Ambiente des Trump Tow-
ers, sondern in einem heruntergekomme-
nen Wohnzimmer residiert, verrutscht die
Aufführung zum billigen Hohn über eine
als restlos degeneriert dargestellte Unter-
schicht. Auch das ist eine politische Aussa-
ge, allerdings eine ziemlich arrogante.
Ein Gewissen hat Ubu erstaunlicherwei-
se auch (Cynthia Mica). Es wird zügig zum
Schweigen gebracht, was angesichts des
Lamentos kulturpessimistischer Phrasen
über das böse Internet und das Fernsehen
ein verdientes Los ist. Ansonsten wird or-
dentlich mit Kartoffelchips und Dosenbier
rumgesaut, versehentlich ein Atomkrieg
ausgelöst, monoton gebrüllt und laute Zir-
kusmusik gescheppert, die den quälende
zwei Stunden langen Abend auch nicht
amüsanter macht. peter laudenbach

Zu dieser ironischen Haltung
gehörtauch, dass Jackson
sich als „Maler“ bezeichnet

Der infantile Trotz gegen die
Konsumkultur der USA erfüllt
viele Künstler dieser Generation

Unsere

irre Farm

Vati teilt alles: Die Schirn Kunsthalle in Frankfurt


zeigt gleich mehrere „Rooms“ von Richard Jackson


Der Regisseur Stef Lernous
macht aus dem Stück ein
überdeutliches Trump-Kabarett

In der ersten Folge der neuen Staffel von
„Curb Your Enthusiasm“ des Komikers Lar-
ry David ist eine rote „Make America Great
Again“-Mütze, wie sie Trump-Anhänger
gerne tragen, der buchstäblich rote Faden
der Sendung. David setzt sie immer dann
auf, wenn er seine Ruhe haben will im
größtenteils liberalen Los Angeles. Wenn er
ein Mittagessen kurz halten oder an der
Sushibar allein bleiben will. In der Schlüs-
selszene schneidet er mit seinem Elektroau-
to einen Motorrad-Rocker. Der verfolgt ihn
mit Flüchen, schreit ihn an, er solle ausstei-
gen. Bis David die Mütze anzieht und der Ro-
cker freundlich einlenkt: „Seien Sie doch
nächstes Mal ein wenig vorsichtiger.“ Präsi-
dent Trump bettete diese Szene in einen
Tweet und schrieb dazu:

„TOUGH GUYS FOR TRUMP!“ („Harte Bur-
schen für Trump!“)
Ein Kommentar-Tweet dazu fragte:„Wer
sagt’s ihm bloß?“Und Larry David selbst
antwortete in einem Interview auf die Fra-
ge, ob er mit der Folge nicht Trump-Wähler
vor den Kopf stoße:„Stoßt euch doch selbst
vor den Kopf. Ihr habt meinen Segen. Hell,
I can give a fuck.“ sz

Dirigent Reinbert


de Leeuw ist tot


Formvollendet: Julianne Moore in „The
Staggering Girl“, modische Kreationen
von Valentino tragend. FOTO: MUBI


Diktatur


des Proleten


Ein dröhnender „Ubu Rex“ nach
Alfred Jarry am Berliner Ensemble

Es ist nicht Händels beste Oper,
aber Benjamin Lazar weiß als
Regisseur damit umzugehen

10 HF2 (^) FEUILLETON Montag,17. Februar 2020, Nr. 39 DEFGH
Der Künstler Richard Jackson
(unten in einer Installation) sagt, dass er sich mehr für jede
seiner Arbeiten interessiere als für seinen Ruhm.
Details aus der Ausstellung seiner „Rooms“ in der Schirn.
FOTO: GUILLAUME GRASSET/THE ARTIST,
GALERIE GEORGES-PHILIPPE & NATHALIE VALLIS, AND HAUSER & WIRTH.
GEHÖRT, GELESEN,
ZITIERT
Trumpund Ironie
MEDIAPLAYER
Sterbende Schwäne singen am schönsten: Der polnische Shootingstar Jakub Józef
OrlińskialsTolomeo, lebensmüder König von Ägypten. FOTO: FALK VON TRAUBENBERG

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