Süddeutsche Zeitung - 17.02.2020

(Marcin) #1
Als im Sommer 1961 die Nachricht vom
Todseines Idols kam, ging er in eine
Kirche und zündete eine Kerze für den
Gelegenheitskatholiken Ernest He-
mingway an. Dessen Depressionen wa-
ren stärker als der Lebenswillen gewor-
den. Der Journalist und Autor A. E. Hot-
chner war Zeuge dieses Niedergangs ge-
worden, hatte mit Hemingway gesof-
fen, gefischt und geprahlt, hatte den
wachsenden Bauchumfang des großen
Jägers notiert und festgehalten, dass
die Gürtelschnalle aus den deutschen
Worten „Gott mit uns“ bestand. Zusam-
men besuchten sie in Spanien Stier-
kämpfe, schäkerten mit den Matado-
ren und tranken wieder, aber Heming-
way konnte nicht mehr darüber schrei-
ben wie früher, die Worte zerliefen ihm
auf dem Papier. Hotchner musste ihm
beistehen, musste ein fast siebenhun-
dertseitiges Manuskript auf ein Drittel
eindampfen, damit es druckfähig an
Lifegehen konnte. In seinem Buch „Pa-
pa Hemingway“ (1966) erschuf Hot-
chner den Mythos vom großen Bären
und zeigte doch den erledigten Dichter,
dem das Schreiben nicht mehr helfen
konnte. Sein Biograf war dagegen nie
von Zweifeln angefochten, er schrieb
über Doris Day, Paul Newman, dieRol-
ling Stonesund über seine Kindheit in
St. Louis und veröffentlichte hundert-
jährig sein letztes Buch. Am Samstag
ist Aaron Edward Hotchner, der
Freund bedeutender Männer und Frau-
en, im Alter von 102 Jahren in Connecti-
cut gestorben. willi winkler

von catrin lorch

I

ch zeigte ihm das Messer, richtete es
erst gegen seine Augen, bis er zurück-
zuckte, und dann stach ich ihm in den
Hals, gleich unter dem Ohr, trat ein wenig
beiseite, um dem Strahl von sprudelndem
Blut auszuweichen, und dann stach ich tie-
fer hinein und zog die Klinge weiter durch
seine Kehle, schnitt tief in ihn hinein, wäh-
rend das Blut in glatten gurgelnden Wellen
über seine Brust hinabfloss.“ Colm Tóibín
beginnt seinen Roman „Haus der Namen“
mit einem Schnitt durch die Kehle. Es ist
der berühmte Gattenmord der Klytämnes-
tra, die ihrem Mann Agamemnon den Hals
durchschneidet.
Frappierend ist zunächst, wie wenig ar-
chaisch das erscheint. Schon weil das
Smartphone, das man gebraucht gekauft
hat, zwischen Musikvideos gleich zwei sol-
cher Hinrichtungen gespeichert hat. Das



  1. Jahrhundert hat offensichtlich wieder
    Bedarf an solchen Morden und solchen Bil-
    dern. Und die Kluft, die nach so einem
    Schnitt bleibt, teilt die Gegenwart und spal-
    tet Gesellschaften. Aischylos’ antikes Dra-
    ma „Die Orestie“, das der Autor Colm Tói-
    bín zitiert, umkreiste den Übergang von
    gottgewollter Rache zu menschlichem
    Recht. Es ist aber nur der Ausgangspunkt
    für Colm Tóibín, der erzählt, wie es weiter-
    gehen kann, wie man wieder zusammen-
    finden könnte nach der Katastrophe. Es ist
    in diesem Sinn eines der wichtigsten politi-
    schen Bücher dieser Zeit.


Der im Jahr 1955 in Enniscorthy gebore-
ne Autor ist als Ire zutiefst vertraut mit ei-
ner Gesellschaft, die von Terror und Gegen-
terror geprägt ist. Er hat nicht nur reflek-
tierte Essays über die Zeit geschrieben, in
der Irland kolonisiert war, er hat auch die
daraus resultierenden Mythen betrachtet,
ist die inner-irische Grenze abgegangen
und hat denen zugehört, die dort leben und
von Rache und Verzeihung berichten. Man
ist womöglich umsichtiger, wenn man aus
der Ecke der Underdogs stammt, auch hell-
höriger für alle Äußerungen der Macht.
Colm Tóibín hält seine Sprache schlicht.
Eines seiner bekanntesten Bücher war zu-
letzt „Marias Testament“, der skeptische
Bericht von Jesu Mutter, die bis dahin in
tausenden von Jahren doch eigenartig
stumm geblieben war. Vor allem dieses
Buch erscheint jetzt fast wie eine Einstim-
mung seiner Adaption der „Orestie“. Denn
die erste Berichterstatterin ist Klytämnes-
tra, die ihren Mann, den König und Kriegs-
helden Agamemnon, umbringt, weil der
vor dem Feldzug gegen Troja ihre Tochter
Iphigenie den Göttern geopfert hat. So
wird nicht nur der Mord aus ihrer Perspek-
tive erzählt, sie darf die Ereignisse auch ein-
ordnen in einen Epochenbruch: „So lange
er lebte, glaubten er und seine Männer,
dass die Götter ihre Schicksale verfolgten
und Anteil an ihnen nahmen. Aber jetzt
werde ich verraten, dass es nicht so war, es


nicht so ist.“ Was Klytämnestra nicht ahnt:
Auch mit den überkommenen Hierarchien
hat es ein Ende. Der Tod des Königs, sein
Fall, steckt nur die Möglichkeiten ab, die
Colm Tóibín ausspielen wird, dessen Figu-
ren alle irgendwann im Verlauf der Ge-
schichte im Verlies landen, sich alle aber
auch an anderer Stelle an der Spitze wäh-
nen dürfen.
Der Monolog der Klytämnestra ist dicht
formuliert, die Handelnden sind sich
durchweg ihrer Bedeutung und Historizi-
tät bewusst. Nicht nur die Königin, die
nach dem Messer greift, ohne die Götter
oder das Orakel zu befragen. Auch Achill,
der junge Held, der Iphigenie als Bräuti-
gam versprochen war. Er fürchtet, dass
sein Name, verstrickt in diese familiäre In-
trige, einst nichts bedeuten werde. „Nur
Ohnmacht, nur ein Name, mit dem man
ein Mädchen in die Falle gelockt hat.“ Und
der Krieger Agamemnon ist ohnehin nur
noch ein Geschichtenerzähler, verbreitet
„aufgeblähten Lärm“, ist so „mit Reden be-

schäftigt, dass er kaum mitbekam, wohin
wir uns bewegten“. Vor dem Tod kommt
die Stille. Ein Netz lähmt den König im
Bad: „Ich wollte nicht, dass man auch nur
einen Ton von ihm vernahm.“ Und auch die
Männer, die der Mörderin helfen, nach der
Tat den Landfrieden wieder herzustellen,
sind dazu erzogen, „bei der Sache zu sein,
kein Getue zu machen. Es durfte kein Ge-
schrei und keinen Jubel geben; vielmehr
war eisernes Schweigen geboten“.
Dann wechselt die Perspektive. Das fol-
gende Kapitel berichtet von der Verschlep-
pung und Flucht von Orest, dem Thronfol-
ger, der gemeinsam mit den Söhnen und
Enkeln der Ältesten in einem fernen Land
unter brutaler Bewachung steht. Um den
naiven Klang einer Kinderstimme zu ver-
meiden, wird in der dritten Person erzählt,
und in einem vollkommen anderen Rhyth-
mus
Colm Tóibín gönnt seinen Lesern fern
des Palasts eine Robinsonade, während
der drei Jungen gemeinsam fliehen und

bei einer alten Frau Zuflucht und eine neue
Heimat finden. Mitros und Leandros, die
Gefährten, kommen in Aischylos’ Orestie
nicht vor. Genauso wenig wie der abgelege-
ne Hof, dessen einstige Bewohner die Alte
bei der Flucht zurückgelassen haben, in ei-
nem Haus, das einst „voller Namen“ war
und jetzt seinem Roman den Titel leiht.
Die Götter, die Macht, der Krieg haben
nicht nur die Verhältnisse im Königshaus
zersetzt, sie lösen alle Familienbindungen
auf, bis in die Provinz hinein. Aber ausge-
rechnet diese Unverbundenheit ist das Fun-
dament, auf dem das Idyll im „Haus der Na-
men“ gründet, wenigstens vorüberge-
hend. Orest stellt sich nicht nur vor, „Lean-
dros und Mitros wären seine Schwestern
Iphigenie und Elektra“, sondern auch, dass
„die alte Frau seine Mutter“ wäre. Die lan-
ge Episode, während der die Jungen er-
wachsen werden, entfaltet sich vielstim-
mig, gibt Geplauder, Märchen, Mythen
und Träumen Raum, jeder Art von auf Ver-
ständigung angelegtem Austausch, vom

Pfeifen bis zum Trauergesang. Der Roman
darf in diesem Kapitel, in dem sich Orest
und Leandros ineinander verlieben, ein-
mal Luft holen, bis die beiden in ihre Hei-
mat aufbrechen.
Dem „Haus der Namen“ steht der Palast
nun als „Haus des Flüsterns“ gegenüber,
ein Ort, an dem – wie Elektra ihren zurück-
gekehrten Bruder warnt – jedes Wort ge-
hört wird: „Als er sich an die Stille gewöhnt
hatte, erkannte er, dass es keine ganz richti-
ge war. Er begann, Geräusche zu hören –
zum Beispiel wie jemand leise den Korri-
dor entlangging, oder undeutliches Flüs-
tern und dann eine Zeitlang nichts.“
Auf diesen Fluren herrscht Aigisthos,
einer der vielschichtigsten Charaktere des
Buches. Als Geisel im Verlies wanderte der
Barbar nachts durch die Räume, keine Tür
war ihm verschlossen. Als Klytemnästra
ihn als Verbündeten gewinnen will, antwor-
tet er berechnend: „Wenn du dich nicht
meiner bedienst, tut’s vielleicht ein ande-
rer.“ Aigisthos steigt auf zum Wächter und

Geliebten der Herrscherin und bewegt sich
dann zwischen Thronsaal, Ältestenrat,
Wachstube und Wäschekammer mit der
Geschmeidigkeit eines Diplomaten. Das al-
te System ist zerlöchert, und die Durchläs-
sigkeit der Burgmauern entspricht einer
Zersetzung der Macht. Auch wenn Aigist-
hos nachts das Bett mit Klytämnestra teilt,
so sind es doch die Dienerinnen, „die von
ihm schwanger waren oder bereits ein
Kind von ihm hatten“. Während die Königs-
familie immer kleiner wird, sind die „Räu-
me im Untergeschoss von Fruchtbarkeit er-
füllt“.
Orest, der heimgekehrte Sohn, weigert
sich zunächst noch stolz, mit so einem wie
Aigisthos überhaupt den Tisch zu teilen.
Als sich irgendwann bis zu ihm herum-
spricht, dass Klytämnestra seinen Vater ge-
tötet hat, ist es aber schon fast zu spät –
und halb aus Notwehr, halb in der Hoff-
nung, er könne mit der Tat seine Schwester
Elektra gewinnen und die Nähe zu seinem
Freund Leandros wieder herstellen,
kommt es zum Muttermord.
Danach muss wieder ein Frieden herge-
stellt werden. Drinnen herrscht Elektra,
draußen Leandros und die Rebellen, Orest,
dem Muttermörder, weichen sie aus. Alle
sind „zur Einsamkeit verdammt“, leben
„in einem komplexen Netz von Plänen und
Bündnissen, dessen verwickelte Feinhei-
ten nur sie selbst durchschauten“. Es ist
nun an Orest, den Bann zu brechen. Nicht
durch den Mord an der Mutter, sondern
durch das, was er als Vater zu tun bereit ist.

Denn Leandros’ Schwester Ianthe, die
als einzige einen Anschlag auf ihre Familie
überlebte, sucht seine Nähe, auch nachts.
Als sie schwanger ist, wird eine Heirat ver-
einbart. Doch wieder ist nichts, wie es
scheint. Ianthes Körper, diese letzte Zu-
flucht, die Orest noch geblieben ist, er ist
ihm verschlossen. Das Kind, so gesteht sie,
ist das Ergebnis einer Vergewaltigung
durch die Mörder ihrer Eltern, gleich fünf
Soldaten kommen in Frage – auch sie sind
alle längst tot. Elektra, die Schwester, und
Leandros, der Bruder, wollten das vor
Orest geheim halten, aber Ianthe will ohne-
hin „mit dem Kindchen fort“.
Es ist dieser Moment der unauflösli-
chen Verwirrung aller Verhältnisse, in dem
Orest einfach Frieden schließt. „Das Kind
ist hier in unserem Haus gewachsen“, sagt
er, es werde „in diesem Haus geboren wer-
den“. Das alte Denken hätte diese Vater-
schaft als Ende seines Geschlechts verstan-
den. Orest stellt dagegen fest: „Wir können
keinen mehr verlieren.“
Colm Toíbin hat den alten Stoff zur For-
mel für die Gegenwart gemacht, indem er
alles aufgegeben hat, das dem Überleben
im Weg steht: Götter, Helden, Macht, Fami-
lienbande. Wenn es ums Überleben geht,
müssen neue Geschichten erfunden wer-
den, solche, die allen gerecht werden. Es ist
eine Formel, die nur einfach klingt – es
braucht lebenskluge Erzähler für dieses
Narrativ. Das Buch allerdings kann bester
Hoffnung enden: Ianthe bleibt. Und die Ge-
burt bringt die beiden Geschwisterpaare
wieder zusammen, getrennt nur durch die
Tür von Elektras Zimmer, in dem Ianthe
das Kind zur Welt bringt. Im ersten Mor-
genlicht stehen Leandros und Orest auf
dem Flur, „achtsam auf jedes Geräusch“.
Aber es ist nicht die Intrige oder der Verrat,
dem sie auflauern, nicht Flüstern oder Rau-
nen. Sondern ein Schrei, der erste Laut ei-
nes Kindes, mit dem alles anders wird.

Er soff, fischte und
prahlte mitHe-
mingway – und
schrieb mit 100 Jah-
ren sein letztes
Buch: A.E. Hot-
chner (1917 – 2020).
FOTO: GETTY IMAGES

Literatur kann von Schrecklichem han-
deln und trotzdem tröstlich sein, jeden-
falls die Literatur Andrej Platonows. In sei-
nem Kurzroman „Dshan“ schleppt sich ein
Häuflein ausgezehrter Gestalten durch die
Wüste am Aralsee, Verhungernde ohne Le-
benswillen, aber auch ohne Bereitschaft zu
sterben, als im Staub der Erzählung ein
Satz auftaucht: „Auch in den Augen der
Schildkröte ist Nachdenklichkeit, auch im
Schlehdorn Duft, darin zeigt sich die große
innere Würde ihres Seins, die keiner Ergän-
zung durch die Seele des Menschen be-
darf.“ Und plötzlich sind die Wanderer
nicht mehr allein, ist überhaupt niemand
mehr allein.
Das ist umso erstaunlicher, als Plato-
now „Dshan“ im Jahr 1935 schrieb, als er
zwar Parteiausschluss, Publikationsver-
bot und Stalins Bannfluch hinter sich hat-
te, aber doch im Herzen Kommunist geblie-
ben war oder sich zumindest dafür hielt.
Und danach war die Beseeltheit der Natur
eigentlich nicht vorgesehen.


Vieles am Werk dieses viel zu spät ent-
deckten Schriftstellers ist nicht leicht zu
entschlüsseln, zumal für westdeutsche Le-
ser. Aber jetzt hat der Quintus-Verlag ei-
nen topaktuellen, federleicht anschlussfä-
higen Platonow herausgebracht: den ökolo-
gischen Propheten.
Die Anthologie „Dshan – oder Die erste
sozialistische Tragödie“ enthält neben
dem titelgebenden Roman Erzählungen,
Briefe, Essays, auch einen selbstverfassten
Lebenslauf. Viele Texte erscheinen zum
ersten Mal auf Deutsch und scheinen aktu-
ellen Nachhaltigkeitsgedanken den perfek-
ten historischen Hintergrund zu bieten.
Platonows Warnungen vor einer
„rauschhaften“ Ausbeutung der Erde et-
wa, vor einem Verschleiß der Ressourcen
über das erneuerbare Maß hinaus, waren


damals unerhört, heute sind sie Standard
jeder Klimadebatte. Anfang der Zwanziger-
jahre hatte er an der Wolga eine Dürre mit
vielen Toten erlebt. Das hatte ihn geprägt.
In einem Schlüsseltext klagte er, die Men-
schen „dringen ins Innere der Welt ein,
und als Antwort darauf schlägt sie mit glei-
cher Kraft zurück.“ Platonow warb für die
Nutzung von Sonnenenergie und arbeitete
an einem „fotoelektromagnetischen Reso-
nanz-Transformator“, was entfernt an frü-
he Solarzellen erinnert. Ein Visionär, viel-
leicht sogar: ein Aktivist?
Unglücklicherweise nicht nur. Plato-
now, der Sohn eines Eisenbahnschlossers
aus Woronesch, war Schriftsteller, aber
auch Ingenieur und damit in doppelter Hin-
sicht systemrelevant exponiert. Denn wäh-
rend Ingenieure die Umwelt nutzbar mach-
ten, sollten Literaten den neuen Menschen
formen. Platonow scheiterte auf beiden
Feldern.
Als Bewässerungsingenieur, als „Melio-
rator“, ließ er Hunderte verschüttete Flüs-
se ausbaggern, erarbeitete einen Bewässe-
rungsplan und motivierte die Menschen
zu freiwilligen „meliorativen Genossen-
schaften“, wie der exzellente Berliner Über-
setzer und Platonow-Kenner Michael
Leetz darlegt. Aber Platonows Vorstellung
von freiwillig organisierter Umweltarbeit
hätte von der mörderischen Kommando-
Wirtschaft der Kollektivierung nicht wei-
ter entfernt sein können.
Vier verzweifelte Briefe an Maxim Gorki
zeigen sein Bemühen, sich immerhin als
Schriftsteller zu behaupten. Aber nach-
dem Stalin ihn wegen einer Kollektivie-
rungssatire als „Dreckskerl“ beschimpft
hatte, konnte Gorki ihn bestenfalls aus der
Schusslinie nehmen. Er schickte ihn auf ei-
ne Literatenreise nach Turkmenistan. Ei-
nes der Ergebnisse war „Dshan“. Das
gleichnamige Nomadenvolk wird von ei-
nem jungen Stalinverehrer vor dem Aus-
sterben gerettet und lebt fortan in Harmo-
nie mit der Natur. Platonow hatte die Wüs-
te als Landschaft eigenen Rechts erkannt,
und beschrieb sie als Ort der Wiederge-

burt. Das war eine ebenso ökologische wie
eine sozialistische Utopie.
Ohnehin tut man diesem gewaltigen
Schriftsteller Unrecht, wollte man ihn al-
lein zum Stichwortgeber der Freitagskin-
der machen. Seine Mahnungen sind nicht
zu begreifen ohne jenen historisch hoch-
verdichteten Moment der frühen Sowjet-
union, als die Bolschewiken mit giganti-
schen Projekten die Erde formten und
zeichneten, die „Elektrifizierung“ des Lan-
des auf den Weg brachten, endlose Kanäle
und gigantische Staudämme anlegten, ein
Irrsinnsplan sogar die Umleitung der Flüs-
se Sibiriens vorsah.
Die Rettung der Welt war für Platonow
kein Selbstzweck, sondern lediglich Be-
standteil jenes humanistischen Fort-
schritts, den er unter dem Begriff Sozialis-
mus auffasste. Seiner Ansicht nach sollte

die Menschheit die Erde als Wohnsitz pfleg-
lich behandeln, aber sie sollte auch sich
selbst pfleglich behandeln. Ökologisches
Bestreben und soziale Gleichheit dienten
demselben Ziel: der Erlösung des Men-
schen aus seiner Not.
Der Suhrkamp-Verlag, dem das große
Verdienst zukommt, Platonows zentrale
Werke wie „Die Baugrube“ und „Tschewen-
gur“ liebevoll ediert zu haben, hat die Rei-
he nun um das Romanfragment „Die glück-
liche Moskwa“ ergänzt, in dem Platonow
diese Sehnsucht in einen großen heilsge-
schichtlichen Zusammenhang stellt. „Die
glückliche Moskwa“, wenige Jahre nach
„Dshan“ abgeschlossen, erzählt von einer
Waise, die sich in Ermangelung eines Na-
mens nach der Stadt Moskau benennt, von
der Hoffnung auf den Sozialismus beseelt
ist, als Fallschirmspringerin ausgebildet
wird, bei der Arbeit an der Moskauer Metro
ein Bein verliert, verschiedene Männer
liebt und schließlich erkennt, dass sie sich
nicht binden kann, weil die Liebe zu einem
Einzelnen mit der Liebe zum Sozialismus,
also: zu allen Menschen, nicht in Einklang
zu bringen ist.
Einer ihrer Verehrer ist der Techniker
Sartorius, der eine eigene Geschichtsauf-
fassung entwickelt hat: In der Antike hat-
ten die „Aristokraten des Altertums“ den
Zyklopen ein Auge ausgequetscht, „zum
Zeichen dafür, dass sie das Proletariat wa-
ren“. Jahrtausende später, mit der Oktober-
revolution, traten die Nachfahren jener ein-
äugigen Arbeiter ans Licht, „sie behaupte-
ten sich auf einem Sechstel der Erde, und
die übrige Erde lebt nur, indem sie auf sie
wartet.“ Platonows Roman, so schreibt die
wunderbare Übersetzerin Lola Debüser im
Nachwort, ist nicht mehr und nicht weni-
ger als der Versuch einer Menschheitsdich-
tung. Wie Sartorius oder der Chirurg Sam-
bikin, der den Stoff für die Unsterblichkeit
in den Eingeweiden von Leichen sucht, grü-
beln die Figuren über letzte Fragen, die in-
teressanterweise alle lösbar scheinen: Wie
lässt sich der Tod besiegen, die Zukunft
ausrechnen, die Ewigkeit überholen?

Dass aus diesem Griff nach den Sternen
ein anspielungsreicher, symbolischer,
aber nie ideologischer Text wird, ist die gro-
ße Kunst Platonows. Wenn er von einem
überbordenden Fest für die junge sowjeti-
sche Elite erzählt, dann meint man die Wär-
me der Glühbirnen zu spüren. Wenn er ei-
nen Markt beschreibt, auf dem die Armen
ihre letzte Habe anbieten, dann tut sich
nach wenigen Worten ein Abgrund auf.
Man finde viele Sachen unlängst Verstorbe-
ner, auch „Kleinkinderwäsche, vorbereitet
für gezeugte Säuglinge, aber dann hatte es
sich die Mutter offensichtlich anders über-
legt und einen Abort gemacht.“

Fortschritt und Menschlichkeit,
schreibt Debüser, waren für Platonow
gleichwertige Kräfte. Diese Einstellung
war in den Zwanzigern naiv, in den Dreißi-
gern lebensgefährlich. Platonow wusste
das. Je verzauberter man dem Gesang sei-
ner Sprache lauscht, der bitteren Lakonie
und dem aphoristischen Witz, desto mehr
fragt man sich, wie ein so hellsichtiger
Mensch am Sozialismus als Idee festhalten
konnte, wenn die Realisierung sich so un-
übersehbar als Katastrophe erwies. Aber
vielleicht verfolgte er am Ende ein anderes
Ziel. Vielleicht ging es ihm immer nur dar-
um, das sozialistische Experiment in eine
Literatur zu verwandeln, die die Grenzen
der Geschichte hinter sich lässt und zum
Menschen vorstößt. sonja zekri

Andrej Platonow:Dshan oder Die erste sozialisti-
sche Tragödie. Prosa, Essays, Briefe. Hrsg. und aus
dem Russischenvon Michael Leetz, Quintus Verlag,
Berlin 2019. 376 Seiten, 25 Euro.
Andrej Platonow:Die glückliche Moskwa. Roman.
Aus dem Russischen von Renate Reschke und Lola
Debüser, Suhrkamp Verlag, Berlin 2019, 221 Seiten,
24 Euro

Und dann?

Colm Tóibíns „Haus der Namen“ erzählt in schlichter Sprache die Geschichte der Klytämnestra,


die mit Mord beginnt. Es ist aber vor allem ein Roman darüber, wie man wieder zusammenfindet


Das Buch endet
mit der Hoffnung
auf eine neue Zeit

Die Menschen drängen ins


Innere der Welt, sie schlägt mit


gleicher Kraft zurück


Colm Tóibín:Haus der
Namen. Roman. Aus
dem Englischen von
Giovanni Bandini und
Ditte Bandini.
Carl Hanser Verlag,
München 2020.
288 Seiten, 24 Euro.

Bittere Lakonie und
aphoristischer Witz zeichnen
seine Sprache aus

A. E. Hotchner


gestorben


Wiedergeburt in Wüste oder Metro


Der große Schriftsteller Andrej Platonow war auch ein ökologischer Prophet, der Fortschritt und Menschlichkeit zusammendachte


Das Haus „voller Namen“, das dem


Roman den Titel gibt, taucht in


Aischylos’ „Orestie“ nicht auf


DEFGH Nr. 39, Montag, 17. Februar 2020 (^) LITERATUR HF2 11
Kommunist, Ingenieur, Schriftsteller:
AndrejPlatonow (1899 – 1951).
FOTO: MARIA ANDREEVNA PLATONOVA
„Der Geist der Klytämnestra erweckt die Furien“ – John Dowmans Gemälde von 1781. FOTO: IMAGO/ARTOKOLORO

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