Süddeutsche Zeitung - 17.02.2020

(Marcin) #1
von katharina elsner

E

s ist ein Donnerstagmorgen, kurz
nach 10 Uhr, und Arne liegt bewusst-
los auf dem Boden einer Wohnung.
Herzstillstand. Die Medizinerin Mina
Hinsch kniet neben Arne, knöpft seinen
Brustkorb aus Kunststoff auf. Unter Arnes
Haut verlaufen Schläuche statt Blutbah-
nen, Federn spannen sich statt Muskeln.
Arne ist nur eine Reanimationspuppe.
Aber dass jemand bewusstlos in einer Woh-
nung liegt, ist ein Szenario, das durchaus
realistisch ist.
Laut Deutschem Reanimationsregister
treten 62 Prozent aller Herz-Kreislauf-Still-
stände zuhause auf. Es sind vor allem Män-
ner im frühen Rentenalter, bei denen das
Herz nicht mehr richtig schlägt, und die
wiederbelebt werden müssen. Und das soll-
te schnell passieren. Jede Minute, die ohne
Wiederbelebungsmaßnahme verstreicht,
senkt die Chance um zehn Prozent, dass
der Patient ohne bleibende Gehirnschäden
überlebt. Pumpt das Herz kein Blut mehr
durch den Körper, kommt kein Sauerstoff
mehr im Gehirn an. Nach drei bis fünf Mi-
nuten ohne Sauerstoff beginnt das Hirn ab-
zusterben. Unwiederbringlich.
Arne hat also nur ein kurzes Zeitfenster.
Unter Umständen ist es schon geschlos-
sen, wenn der Rettungswagen kommt. Je-
des Bundesland regelt selbständig, wie
schnell Rettungskräfte den Unfallort errei-
chen müssen. In Mecklenburg-Vorpom-
mern sind es zehn Minuten nach dem Not-
ruf, in Berlin acht, in Niedersachsen 15 Mi-
nuten. Doch längst nicht immer werden
diese Fristen auch erreicht.
Mina Hinsch, Leiterin des Bereichs Stra-
tegische Unternehmensentwicklung an
der Universitätsmedizin Greifswald, sagt:
„Ich will, dass Menschen in allen Regionen
die gleiche Chance haben zu überleben.”
Dafür schickt ihr Team in einem Pilotpro-
jekt Drohnen zu simulierten Notfällen. Die

Fluggeräte tragen Defibrillatoren, kleine
Elektroschocker, die das Herz bei einem
Stillstand wieder in den richtigen Takt
bringen sollen. Der Vorteil der Geräte: Eine
Drohne muss sich nicht durch Rettungs-
gassen drängeln. Sie fliegt über all die Au-
tos, Ampeln und Häuser hinweg. Läuft al-
les so, wie es sich Mina Hinsch und ihre Kol-
legen vorstellen, landet die Drohne direkt
in den Händen eines Ersthelfers, der paral-
lel zur Drohne über eine Smartphone-App
zum Unglücksort geschickt wurde.

Solche Ersthelfer sind in der Regel medi-
zinisch vorgebildete Retter, die sich regis-
trieren und alarmiert werden, wenn sie
sich zufällig in der Nähe eines Notfalls be-
finden. In Deutschland gibt es mehrere sol-
cher Apps und sie scheinen gut zu funktio-
nieren. Die derart alarmierten Ersthelfer
sind in der Mehrzahl der Fälle vor dem Ret-
tungsdienst am Einsatzort, zeigte eine Stu-
die mehrerer Kliniken aus Hamm, Berlin
und Hamburg. Der Rettungswagen brauch-
te im Durchschnitt vier bis fünf Minuten
länger als die Ersthelfer. Ein entscheiden-
der Zeitvorsprung.
Arne, die Puppe, liegt derweil immer
noch in der Wohnung in Neuenkirchen im
Landkreis Vorpommern-Greifswald im
Nordosten der Republik. Sechs Minuten zu-
vor wurde die Drohne in der Leitstelle los-
geschickt. Nun landen ihre vier Füße im
Hof, ihre Greifarme lassen ein Paket los.
Ein Ersthelfer schnappt es sich; es ist der
Defibrillator, nicht größer als ein Taschen-
buch. Der Helfer flitzt hoch zu Arne in die
Wohnung, schnürt das Päckchen auf, klebt
die Elektroden auf Schulter und Brustkorb
und setzt den Elektroschock ab. Arne ist ge-
rettet.

Bei vielen echten Patienten sieht das an-
ders aus. In Deutschland erleiden mehr als
50 000 Menschen im Jahr einen Herz-
Kreislauf-Stillstand. Nur zehn Prozent von
ihnen überleben. Oft beobachten Familien-
angehörige, Freunde oder Bekannte den
Stillstand, doch längst nicht alle von ihnen
greifen ein. 39 Prozent der Laien beginnen
laut Reanimationsregister die Wiederbele-
bung, bevor Rettungskräfte eintreffen. In
den Niederlanden dagegen helfen bei ei-
nem Herzstillstand mehr als 70 Prozent
der Laien. Dänemark verpflichtet seit
2005 Mädchen und Jungen an Grundschu-
len, die Wiederbelebung zu üben, außer-
dem erhöhte das Land die Zahl der regis-
trierten Defibrillatoren innerhalb von fünf
Jahren von 141 auf 7800.
Könnten also Drohnen, wie sie in Greifs-
wald getestet werden, Abhilfe schaffen?
Nicht überall stößt das Projekt auf Begeis-
terung. Bernd Böttiger, Direktor des Uni-
versitätsklinikums Köln und Vorstandsvor-
sitzender des Rates für Wiederbelebung
sagt: “Man darf nicht zu sehr in diese Tech-
nikgläubigkeit verfallen. Alles, was man
braucht, um Leben zu retten, sind zwei
Hände.”
Denn nur bei jedem vierten Patienten
sei ein Kammerflimmern für den Herz-
Kreislauf-Stillstand verantwortlich. So be-
zeichnen Mediziner eine Störung des Her-
zens, bei dem das Organ schnell und unko-
ordiniert zuckt, sich aber nicht mehr rich-
tig zusammenzieht und Blut in den Körper
pumpt. Nur in solchen Fällen kann ein Defi-
brillator nützen. Er hilft dem Herzen, sei-
nen richtigen Takt wiederzufinden. In den
anderen Fällen ist er überflüssig.
Unabhängig davon gilt: „Die wichtigste
lebensrettende Maßnahme, egal bei wel-
chem Herzrhythmus, ist die Herzdruck-
massage, die darf nicht länger als zehn Se-
kunden unterbrochen werden”, sagt Bernd
Böttiger. Das Problem für ihn ist: „Es ver-
streicht meist zu viel Zeit ohne Herzdruck-

massage, bis ein Defibrillator zum Einsatz
kommt – bis selbst trainierte Ersthelfer
die Kabel auseinandergedröselt, die Elek-
troden aufgelegt und den Schock abge-
setzt haben. Das kann ein paar Minuten
dauern. Das ist nicht hilfreich. Ich würde
sogar mal sagen: Das kann im Ernstfall töd-
lich sein.“

Arne hat bisher insgesamt 48 Wiederbe-
lebungen in den Tests überstanden. Jetzt
überlegt Mina Hinsch in Greifswald, ob
und wie sie die Drohnen in echten Notfäl-
len einsetzen könnten. Die Drohne braucht
ein stabiles Mobilfunknetz, sie muss das
ganze Jahr bei Regen, Sturm, bei Hitze flie-
gen — und sie sollte schneller sein als ein
Rettungswagen, sonst würde sie keinen
Vorteil bringen. Im Landkreis Vorpom-
mern-Greifswald brauchten Rettungswa-
gen im Jahr 2018 durchschnittlich fast
neun Minuten, um am Ort des Notfalls ein-
zutreffen. Die Drohnen benötigten in den
Tests im Durchschnitt lediglich sieben Mi-
nuten. Einen direkten Vergleich, bei dem
Rettungswagen und Drohnen gleichzeitig
losgeschickt wurden, gab es allerdings bis-
her noch nicht.
Das Bundesgesundheitsministerium
fördert das Greifswalder Pilotprojekt zu-
nächst mit etwa 400 000 Euro. Ob es eine
Dauerfinanzierung geben wird, ist nicht si-
cher. Noch sind viele Fragen offen: Es ist
noch nicht klar, wie viele Drohnen es ge-
ben könnte, wo sie stationiert würden und
ob die Krankenkassen das alles bezahlen
wollen. Auch sind in Mecklenburg-Vor-
pommern noch nicht genug Ersthelfer in je-
ner App registriert, die die freiwilligen Hel-
fer zum Notfall schickt. Damit ist letztlich
auch die Zukunft der Drohnen ungewiss.

Das Gartencenter im südfranzösischen De-
partement Lot-et-Garonne hatte eigent-
lich nur Keramik in Ostchina bestellt. Gelie-
fert bekam es neben schönen Töpfen noch
etwas: In einem der Ziergefäße hatte ein In-
sekt offenbar sein Nest gebaut. Unbemerkt
und durch keinen Käufer gestört, setzten
die Tiere ihre Fortpflanzung im milden Kli-
ma Südostfrankreichs fort und schwärm-
ten nach einigen Wochen in alle Himmels-
richtungen aus. So begann 2005 der Sieges-
zug der Asiatischen Hornisse (Vespa veluti-
na nigrithorax) durch Europa – einer Art,
die von der Europäischen Kommission als
einer der Top-Gefährder für Honigbienen
und ganze Ökosysteme angesehen wird.
Mittlerweile hat das dunkel gefärbte In-
sekt weite Teile Westeuropas erobert, dar-
unter Regionen in Spanien, Portugal, Belgi-
en, den Niederlanden, Italien und im Sü-
den Großbritanniens. Nun sind die kleine-
ren Verwandten unserer Hornissen offen-
bar auch in Deutschland angekommen.
Erst kürzlich berichtete der Hamburger
Insektenkundler Martin Husemann vom
Centrum für Naturkunde der Universität
Hamburg im Fachjournal Evolutionary
Systematicsüber den Fund einer einzel-
nen Asiatischen Hornisse in Hamburg.
Und es blieb nicht bei dem Einzeltier: „Wir
haben mittlerweile eine zweite bestätigte
Meldung mit mehreren Dutzend Tieren
und ein Nest“, sagt Husemann.


Schon der erste Fund des 2,2 Zentimeter
langen Insekts war eine kleine wissen-
schaftliche Sensation. Zuvor hatte es nur
wenige Nachweise über Vorkommen in kli-
matisch begünstigten Regionen in Rhein-
land-Pfalz, Baden-Württemberg und Hes-
sen gegeben. So weit nördlich wie in Ham-
burg war die Hornisse aus China und Süd-
ostasien noch nie gefunden worden. Einige
Forscher hatten das wegen der klimati-
schen Bedingungen gar nicht für möglich
gehalten.
Dennoch passen die Funde ins Bild. Wis-
senschaftler staunen seit Beginn der Hor-
nissen-Ausbreitung über deren hohe „Inva-
sionsgeschwindigkeit“, die sie auf 78 Kilo-
meter pro Jahr errechnet haben. Die tat-
sächliche Ausbreitung findet aber oft sehr
viel schneller statt, weil die Insekten über
Obstkisten oder eben Blumentöpfe oft un-
beabsichtigt vom Menschen über große
Strecken weitertransportiert werden. Mit
dem zweiten Fund in Hamburg ist nun be-


stätigt, dass es sich bei den Hamburger
Hornissen nicht um über den Hafen einge-
schleppte Einzeltiere handelt, wie Huse-
mann zunächst in Betracht gezogen hatte.
Ob damit die erfolgreiche dauerhafte Eta-
blierung der invasiven Art in Norddeutsch-
land besiegelt ist, lässt sich jedoch noch
nicht sicher sagen. Dazu müsse geklärt
werden, ob die Neuköniginnen schadlos
über den Winter gekommen seien, sagt Hu-
semann. Das werde aber bald der Fall sein:
„Wir sollten recht schnell Bescheid wissen,
da die Art recht früh nistet.“
Die Funde von Hamburg könnten weit-
reichende Folgen für ganz Deutschland ha-
ben. Wenn es die Hornissen nämlich schaff-
ten, sich in Hamburg zu etablieren, werde
die Lücke zwischen Süd- und Norddeutsch-
land wohl rasch geschlossen, glaubt der In-
sektenforscher.
Über die Gefährlichkeit der Hornissen-
art für die einheimische Artenvielfalt gibt
es sehr unterschiedliche Bewertungen. Die
EU-Kommission hat sie unter europaweit
etwa 14 000 nichtheimischen Tier- und
Pflanzenarten in die Gruppe der 66 Top-
Gefährder eingestuft, als „gebietsfremde,
invasive Art von unionsweiter Bedeutung“.
Der wissenschaftliche Dienst der EU be-
gründet das mit der Gefahr für die europäi-
schen Honigbienen, denen Krankheiten
und Pestizide ohnehin bereits zusetzten.
„Die Asiatische Hornisse sei „ein gefräßi-
ger Räuber von bestäubenden Insekten“
und könne nach Schätzungen für den Ver-
lust von bis zu 65 Prozent der Bienenvölker
in den befallenen Gebieten verantwortlich
sein.
Insektenforscher Husemann warnt da-
gegen vor Panikmache. „Die Art wird als
sehr viel gefährlicher dargestellt, als sie
ist“, sagt er. Zwar könnten bereits ge-
schwächte Bienenvölker geschädigt wer-
den, räumt er ein. Das werde aber wohl nur
wenige Völker betreffen. Für eine Gefähr-
dung ganzer Ökosysteme gebe es keine
Hinweise. Hier sei die anhaltende Zerstö-
rung von Lebensräumen ein sehr viel grö-
ßeres Problem als die Hornissen. Dennoch
gehe von invasiven Arten Gefahr aus. Ver-
drängung einheimischer Verwandter oder
die Hybridisierung mit ihnen brächten die
natürlichen Abläufe durcheinander, warnt
der Forscher. Daher müsse die Entwick-
lung genau im Auge behalten und die weite-
re Verbreitung der Art so weit wie möglich
eingegrenzt werden, sagt Husemann, auch
mit Blick auf andere invasive Arten wie Rie-
senbärenklau oder Waschbär. „Wenn inva-
sive Arten erst einmal etabliert sind, gibt
es eigentlich keine Chance mehr, sie loszu-
werden.“ thomas krumenacker

Noch ist offen, wer den Einsatz
langfristig bezahlenwürde.
Und es fehlt an Ersthelfern

Wissenschaftler staunen schon


länger über das enorme Tempo


der Ausbreitung


Rettung per Drohne

Ärzte an der Universität Greifswald wollen mit unbemannten Fluggeräten Defibrillatoren zu Patienten


mit Herzstillstand schicken. Klingt logisch und hilfreich – und doch gibt es Einwände


Auf Expansionskurs


DieAsiatische Hornisse hat Hamburg erreicht


Eine Asiatische Hornisse (Vespa velutina nigrithorax). FOTO: UHH/CENAK, DALSGAARD/DPA


Das Gerät landet, seine Greifarme
lassen ein Paket los. Der Ersthelfer
rennt damit hoch in die Wohnung

14 HF2 (^) WISSEN Montag,17. Februar 2020, Nr. 39 DEFGH
Eine Drohne transportiert am Himmel über Penkun in Mecklenburg-Vorpommern einen Defibrillator – und wird von einer anderen fotografiert. FOTO: STEFAN SAUER/DPA
Lösungen vom Wochenende
SZ-RÄTSEL
32
8
1
65
5736
689
1
23
7
6 5 7 9 1 4
Sudokumittelschwer
4 5
2 3 8
1 2 7
6
2 1 4
8 3 4 2 6
4 5
6 3
1 8 9
Die Ziffern 1 bis 9 dürfen pro Spalte und Zeile
nur einmalvorkommen. Zusammenhängende
weiße Felder sind so auszufüllen, dass sie nur
aufeinanderfolgende Zahlen enthalten (Stra-
ße), deren Reihenfolge ist aber beliebig. Weiße
Ziffern in schwarzen Feldern gehören zu kei-
ner Straße, sie blockieren diese Zahlen aber in
der Spalte und Zeile (www.sz-shop.de/str8ts).
© 2010 Syndicated Puzzles Inc. 17.2.
Schwedenrätsel
3865 1 4279
7142 39658
59286 7413
67 53218 94
24 16985 3 7
8397451 62
16398 2745
4271 53986
9584 7 6321
Str8ts: So geht’s
78 5432
698 7 23
21 78 45
43 98 76
345 6978
2431 89
89 123 54
78 241563
56 3241
36
51
7
9
Str8tsleicht

Free download pdf