Süddeutsche Zeitung - 17.02.2020

(Marcin) #1
Rory Stewart hat ein Problem: Er muss
sichfür eine Wohnung entscheiden. Die-
ses Problem ist den meisten Londonern
fremd; viele können sich das Wohnen in ei-
ner der teuersten Städte der Welt nicht
leisten. Stewart aber hat die Auswahl zwi-
schen 2000 Quartieren, und täglich wer-
den es mehr. Der unabhängige Kandidat
für das Amt des Mayor of London, des Bür-
germeisters, der am 7. Mai neu gewählt
wird, hatte unter dem Hashtag #Come-
KipWithMe (umgangssprachlich: Komm
und penn bei mir) um Einladungen von
Bürgern gebeten. Er will auf ihren Sofas
übernachten und sich einen Abend lang
ihre Sorgen und ihre Ideen anhören.
Stewart, in Hongkong geboren und in
Malaysia aufgewachsen, war nach einer
Ausbildung an britischen Eliteschulen Di-
plomat geworden und hatte später für pri-
vate Organisationen im Vorderen Orient
gearbeitet. In dieser Zeit durchwanderte
er Teile Afghanistans, Pakistans und
Irans und schrieb darüber einen Bestsel-
ler. Wie Afghanistan, das er quasi von un-
ten kennengelernt habe, wolle er nun
auch London aus einer neuen Perspektive
erleben, sagt er.
Seither wird er mit Angeboten gerade-
zu überschüttet; im Netz hat seine Reise
durch Londoner Apartments ein großes
Echo ausgelöst. All das nützt seinem Ver-
such, sich den Bürgern in einem Wahl-
kampf bekannt zu machen, der vor allem
von Labour-Amtsinhaber Sadiq Khan do-
miniert wird. Khan hält, wie er in einem
Radiointerview sagte, Stewart für „gimmi-
cky“, also für chancenlos.
Gleichwohl gibt es wohl in Großbritan-
nien derzeit kaum einen Politiker, der mit
ungewöhnlichen Aktionen so viele Schlag-
zeilen macht, ohne überhaupt ein Amt in-

nezuhaben. Stewart hatte nach seinen Sta-
tionen im Ausland, darunter in Indonesi-
en, Montenegro und als Vize-Provinz-
Gouverneur im besetzten Irak, erst in Har-
vard gelehrt, bevor er ins Parlament ge-
wählt wurde. Der Tory war dort als Offi-
zierssohn mit großbürgerlicher Attitüde
unter seinesgleichen – und doch ein Exot:
ein umfassend gebildeter Kosmopolit,
der neun Sprachen spricht und in den Me-
dien gern als „Charakter aus einem frühe-
ren Jahrhundert“ oder als moderner Lau-
rence von Arabien porträtiert wird.
Stewart machte schnell Karriere, war
Staatssekretär im Umwelt-, im Entwick-

lungshilfe- und im Justizministerium, be-
vor er 2019 Minister für Internationale
Entwicklung wurde. Als Premierministe-
rin Theresa May aufgab, bewarb sich
auch Stewart um den Parteivorsitz. Boris
Johnson würde siegen, das war früh klar,
aber Stewart errang einen großen Ach-
tungserfolg: Er durchwanderte Großbri-
tannien, wie er einst Afghanistan durch-
wandert hatte, und jeder konnte ihn tref-
fen, mit ihm reden, ein Stück mit ihm ge-
hen. Im Netz machte er bekannt, wann er
wo sein würde, und wer endlich mal mit ei-
nem Politiker aus Westminster streiten
wollte, hatte hier die Chance.
„Walking Rory“, so sein Slogan, kam
gut an. Aber Johnson wurde Premier. Und
Stewart, der gegen den Brexit gewesen
war, das Ergebnis aber zähneknirschend
akzeptiert hatte, stimmte im Unterhaus
gegen die Regierung. Wie zwei Dutzend
Kollegen auch wurde er aus der Fraktion
geworfen, trat daraufhin aus der Partei
aus und trat fortan als Unabhängiger auf.
Jetzt also will er Bürgermeister der
Hauptstadt werden. Wer seine außenpoli-
tische Expertise kennt, seine Texte zu Mi-
litärinterventionen und Demokratieauf-
bau, seine Bücher über seine Wanderun-
gen oder seine Memoiren, der fragt sich,
ob hier einer vielleicht im falschen Fachge-
biet unterwegs ist. Aber Stewart ist, bei al-
ler Nonchalance, eitel, ehrgeizig, und hat
ein ausgeprägtes Sendungsbewusstsein.
Er spricht über Hausbau oder Kriminali-
tät in London mit der gleichen Intensität
wie über die Taliban. Sein Kalkül dürfte
sein: Selbst wenn er vermutlich nicht Ma-
yor of London wird, so haben die Wander-
und Übernachtungsaktionen doch die
Grundlage gelegt für Größeres. Daran ar-
beitet er. cathrin kahlweit

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VERTRETEN DURCH DEN HERAUSGEBERRAT
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INVESTIGATIVE RECHERCHE:Bastian Obermayer,
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von ralf wiegand

D


amals, als Kinder noch draußen
spielten, riefen sie vor dem Fan-
gen so laut sie konnten: „Wer hat
Angst vor dem schwarzen Mann?“ – „Nie-
mand!“ – „Und wenn er aber kommt?“ –
„Dann laufen wir davon!“ Und alle rann-
ten weg vor dem Schattenmann. Das ist
lange her, und mit der Hamburger Wahl
am kommenden Sonntag hat es auch nur
insoweit zu tun, als dass die Wählerschaft
dort im übertragenen Sinne eine moder-
ne, gendergerechte Variante des Fang-
Mich-Spiels von einst entdeckt hat: Wer
hat Angst vor der grünen Frau?
Der Slogan, mit dem Katharina Fege-
bank, 42, in der Hansestadt antritt, lässt
keine Fragen offen: „Erste Frau, erste
Grüne, erste Wahl“. Seit dem Jahr 1860
kennt die Hamburgische Verfassung das
heutige System mit Erstem und Zweitem
Bürgermeister; mit Fegebank, derzeit
Zweite hinter dem Ersten Bürgermeister
Peter Tschentscher (SPD), und der allge-
mein günstigen grünen Thermik soll sich
nicht nur die Terminologie ändern: Erste
Bürgermeisterin. Noch Mitte Januar sah
eine Umfrage die Grünen gleichauf mit
der SPD bei 29 Prozent. Zuletzt prognosti-
zierte dasselbe Institut allerdings für die
Sozialdemokraten 38, für die Grünen nur
noch 23 Prozent. Hat Hamburg wirklich
Angst vor der grünen Frau?
Die nur regional wirksame Wahl an Als-
ter und Elbe ist schon durch die Ereignis-
se von Thüringen mit bundesweiter Be-
deutung aufgeladen. Der kommende
Sonntag kann ein Indikator dafür sein,
wie weit die Schockwellen aus Erfurt in
den Westen vorgedrungen sind. Die CDU
fürchtet ihr schlechtestes Ergebnis der
Geschichte, die FDP sieht einer Zitterpar-
tie um den Einzug ins Parlament entge-
gen. Wie viel Thüringen in diesen erwart-
baren Niederlagen steckt, werden die De-
moskopen nach der Wahl erklären.

Für die Grünen ist der Urnengang aus
ganz anderem Grund mehr als nur eine
Hamburger Spezialität wie eine Portion
Labskaus. Im eher konservativen Milieu
der Hansestadt werden sie ablesen kön-
nen, wie weit sie ins Herz des Bürgertums
vorgedrungen sind. Was ihnen Wirt-
schaft, Handel, Handwerk und vor allem
der Hafen zutrauen. Ob die Leute ernst
machen mit ihrer Stimme, wenn es ernst
wird. Für eine Partei, deren Vorsitzende
fürs Kanzleramt gehandelt werden, ein
interessanter Versuchsaufbau.

Im Grunde müssen die Grünen die Fra-
ge nach solchen Kompetenzen nicht
mehr beantworten. Sie stellen in der Auto-
hochburg Baden-Württemberg den Mi-
nisterpräsidenten, in der Autostadt Stutt-
gart den Bürgermeister, sie haben in Hes-
sen einen Wirtschaftsminister und ver-
antworten in Bremen seit Jahren das viel-
leicht schwierigste Finanzressort der Re-
publik. Zuletzt ist das Rathaus in Hanno-
ver einem Grünen zugeschlagen worden,
und auch Robert Habeck setzte aus dem
Kieler Wirtschaftsministerium zu sei-
nem Höhenflug als Bundespolitiker an.
Doch Hamburg ist eine in besonderer
Weise auf Sicherheit bedachte Stadt. Hier
ist Veränderung an sich kein Wert, Ver-
lässlichkeit aber umso mehr. Daher säen
SPD und CDU seit geraumer Zeit die
Angst vor grünen Experimenten. Angst
vor einer autofreien Innenstadt, Angst
vor einem ökologisch eingebremsten Ha-
fen, allgemeine Abstiegsangst, wenn das
vertraute Tête-à-tête der Politik mit der
Wirtschaft grüner Skepsis wiche.
Die grüne Frau kommt, und alle ren-
nen weg? Eine Woche bleibt ihr noch, die
Wähler wieder einzufangen.

von stefan braun

S


eit die CDU-Vorsitzende Annegret
Kramp-Karrenbauer ihren Verzicht
erklärt hat, wünschen sich in der Par-
tei immer mehr Frauen und Männer eine
friedliche, zwischen den potenziellen Kan-
didaten ausgehandelte Lösung für die
Nachfolge. Viele scheuen einen Konflikt,
der die Partei spalten könnte. Nach einem
Jahr, in der die CDU nie ganz zur Ruhe
kam, sehnen sie sich nach einer geeinten,
geschlossenen Führung. Das ist verständ-
lich. Und doch wäre es ein schwerer Feh-
ler, den Kandidaten so zu bestimmen.
Das größte Manko der Partei liegt nicht
darin, dass die CDU zu viele inhaltliche
Konflikte ausgetragen hat. Es ist die Tatsa-
che, dass die Öffentlichkeit in existenziel-
len Fragen gar nicht mehr weiß, wofür die
Partei eigentlich steht. Wofür sie kämpft,
was sie antreibt, wie sie sich die Zukunft
des Landes vorstellt. Diese Schwäche war
schon beim ersten Wettbewerb um die
Nachfolge Angela Merkels im Herbst 2018
für jeden ersichtlich. Antworten aber hat
es keine gegeben. Will sich die CDU retten,
darf sich das nicht wiederholen.
Was immer Kramp-Karrenbauer also
in den nächsten Tagen mit den Kandida-
ten und der Unionsspitze bespricht – die
CDU muss die Auswahl anders organisie-
ren. Das heißt nicht, auf einen Wettbe-
werb und auf Regionalkonferenzen zu ver-
zichten. Wer sich an den Herbst 2018 erin-
nert, weiß genau, welche Mobilisierung
und Leidenschaft beides auslöste, zumal
bei denen, die das Gefühl haben, zu wenig
zu Wort zu kommen. Als Ort für Debatte
und Wettstreit bleiben Regionalkonferen-
zen unverzichtbar.
Die Schwäche damals lag darin, dass
Kramp-Karrenbauer, Friedrich Merz und
Jens Spahn nicht gezwungen waren, sich
inhaltlich festzulegen. Sie konnten ein
bisschen über dieses und jenes reden und
wurden genauso befragt. Ein Verfahren,

das sich an existenziellen Zukunftsthe-
men orientiert, hat es nicht gegeben. So
wurde der Wettstreit zu einem Wettbe-
werb der Gefühle – bei den einen getragen
vom Motiv, die Ära Merkel zu beenden, bei
den anderen, den alten Merkel-Widersa-
cher Merz zu verhindern. Beide Motive wa-
ren nachvollziehbar. Aber sie gaben keine
Antwort auf das, was die CDU am drin-
gendsten braucht: eine Idee für Deutsch-
land und Europa im Jahr 2030.

Diese zu entwerfen muss oberste Aufga-
be eines jeden sein, der künftig die CDU
führen will. Was konkret heißt es, Europa
zu stärken? Mehr Geld? Mehr Industrieko-
operation? Mehr geteilte Last in sozialen
Fragen? Oder auch Zugeständnisse an die
Osteuropäer in Flüchtlingsfragen? Was be-
deutet es, dass die Welt dramatisch ausein-
anderfällt und die Putins, Erdogans, Xis
und Trumps den Ton angeben? Mehr Geld
für die UN? Mehr eigene Initiativen? Oder
doch auch ein ehrliches Werben für eine
stärkere Bundeswehr? Und: Mit welchen
Mitteln soll die soziale Spaltung im Land
überwunden werden? Mit welchen das Kli-
ma gerettet und mit welchen die Wettbe-
werbsfähigkeit gegen China und die USA
verteidigt werden?
Das sind längst nicht alle Fragen. Aber
es sind Fragen, ohne deren Beantwortung
die CDU – egal mit welchem Kandidaten –
nicht mehr auf die Beine kommt. Umge-
kehrt ausgedrückt: Werden Laschet, Merz
und Spahn gezwungen, darauf Antworten
zu geben, wird man schnell sehen, wie viel
sie als Politiker können. Ob sie nur Flos-
keln liefern oder echte Ideen; ob sie Ver-
trauen erzeugen oder es durch fehlende
Ernsthaftigkeit verspielen. Ob sie also das
Zeug dazu haben, Kanzler zu sein.

U


naufhaltsam breitet sich das Coro-
navirus in China aus. Bisher hat die
Zentralregierung in Peking die
Schuld für die verspätete Reaktion auf lo-
kale Verantwortliche geschoben. Nun
aber legt ein Dokument nahe, dass Staats-
präsident Xi Jinping persönlich schon An-
fang Januar erste Maßnahmen angeord-
net hat. Xi sieht nun offenbar die Chance,
sich als Krisenmanager der ersten Stunde
zu inszenieren.
Man sollte sich von ihm aber nicht täu-
schen lassen. Gerade jetzt wird deutlich,
wie wenig sich seit der Sars-Krise 2003
verändert hat. Der Fehler liegt weiterhin
im System. Nach dem Ausbruch des Coro-
navirus hat Xis Regierung wochenlang


gar nichts unternommen. Dann hat es die
Ansteckungsgefahr heruntergespielt und
die Zahl der Neuinfizierten verheimlicht.
Bis heute zensiert sie, verhaftet Kritiker,
bedrängt ausländische Beobachter. Bald
wird es politische Schauprozesse geben.
China will ein Land des Fortschritts sein,
und tatsächlich haben Ärzte, Journalisten
und Freiwillige Großes geleistet in der Kri-
se. Doch unter dem jetzigen Regime ist die
Gesellschaft zum Stillstand verdammt.
Für das Ausland ist es eine ähnlich
schmerzhafte Lehrstunde. Peking ging es
nie um Austausch, sondern immer nur
um Schadensbegrenzung. Es hat maxima-
le Transparenz versprochen. Gehalten hat
es das nicht. lea deuber

J


üngst hätte man sich beinahe der Illu-
sion hingeben können, Viktor Orbán
habe sich deradikalisiert. Nachdem
bei der Europawahl im Mai seine Hoff-
nung auf einen kontinentweiten Sieges-
zug der Rechtspopulisten einen Dämpfer
erfuhr, schlug Ungarns Ministerpräsident
zeitweise wieder versöhnlichere Töne an:
gegenüber der EU-Kommission, die er
zuvor auf Plakaten und in Reden ge-
schmäht hatte, und gegenüber der konser-
vativen Parteienfamilie EVP, die wegen
solcher Attacken die Mitgliedschaft der
ungarischen Regierungspartei Fidesz sus-
pendiert hatte.
Spätestens seine Rede zur Lage der Na-
tion vom Sonntag aber dürfte letzte Zwei-


fel ausgeräumt haben: Orbán ist ganz der
Alte. Er appelliert an großungarische Ge-
fühle, er attackiert den angeblichen
Staatsfeind George Soros, und er mokiert
sich über die „Intellektuellen“ in Brüssel,
die schlicht nicht in der Lage seien, den Er-
folg seiner Regierungsarbeit zu würdigen.
Freilich kann man eine solche Anspra-
che als Getöse in eigener Sache abtun. Zu-
sammen mit Orbáns jüngsten Attacken
auf die akademische Freiheit und auf die
Unabhängigkeit der Justiz aber ergibt sich
ein klareres Bild. Hoffentlich macht es der
EVP, die sich bisher nicht zu einem Urteil
darüber durchringen kann, ob Fidesz wei-
ter zu ihr gehören soll, die Entscheidung
ein bisschen leichter. tobias zick

A


m Tag nach der Entscheidung sind
Teile der Republik prompt in Wal-
lung. Ein Oberverwaltungsgericht
stoppt die Rodung für das geplante Tesla-
Werk? Deutschland drohe „total blo-
ckiert“ zu werden, twittern empörte FDP-
Parlamentarier, während Parteifreunde
Internet-Abstimmungen lancieren: Soll
doch das Volk über die Baugenehmigung
entscheiden, nicht der Staat. Man fragt
sich, was dieselben Leute sagen würden,
sollten auf ihrem Nachbargrundstück die
Bulldozer anrollen, obwohl der Nachbar
noch gar keine Baugenehmigung hat.
Nichts anderes steht zur Debatte, nicht
mehr und nicht weniger. Die Grüne Liga,
ein ostdeutscher Umweltverband, hat die


Frage aufgeworfen, ob Investoren Bäume
für einen Neubau fällen dürfen, der noch
nicht mal genehmigt ist. Das ist keine In-
vestoren-Lästerung, sondern die er-
wünschte Klärung der Rechtslage. Gerade
eine FDP, die sich als Partei des Rechts-
staats sieht, müsste das verstehen.
Die Tesla-Fabrik ist wichtig für Bran-
denburg. Eifrig hat das Land alle Schritte
ergriffen, um das Werk in Rekordzeit zu er-
möglichen, bis hin zur vorgezogenen Ro-
dung. Das ist verständlich, aber auch ris-
kant. Denn andere Investoren dürften
künftig die gleiche laxe Eilfertigkeit ver-
langen. Es geht hier um mehr als Tesla
und den Wald: Es geht um das Recht der
Umwelt. michael bauchmüller

E


ine angenehme Veranstaltung
war die diesjährige Münchner
Sicherheitskonferenz nicht. Je-
denfalls nicht für Politiker, die
sich dem Westen zugehörig füh-
len. Gewidmet der zunehmenden „Westlo-
sigkeit“, konnte das Treffen als Abgesang
auf die weltpolitische Heimat von Genera-
tionen verstanden werden. Ganz so ist es
dann während der Tagung doch nicht ge-
kommen. Der Westen lebt, aber er lebt in
höchst unterschiedlichen Gestalten: Ein-
mal als Feindbild, wie es Russen und Chi-
nesen in München wieder gezeichnet ha-
ben. Dann als selbstverliebter Kraftprotz,
den die USA unter Donald Trump darstel-
len. Und schließlich in Gestalt all jener, die
von diesen beiden Seiten in die Zange ge-
nommen werden. Sie sind es, von denen
die Zukunft des Westens abhängt.
Insofern stellte der Auftritt von US-Au-
ßenminister Mike Pompeo einen entschei-
denden Moment dieser Sicherheitskonfe-
renz dar. Der Amerikaner widersprach
der Kritik von Bundespräsident Frank-
Walter Steinmeier, wonach sich die USA
von der Idee der internationalen Gemein-
schaft abgewandt hätten. Und er feierte ei-
nen angeblichen Siegeszug des Westens.


Für eine gute Nachricht konnte das aller-
dings nur halten, wer das Neusprech der
Ära Trump nicht versteht oder verstehen
will. Der Sieg jenes Westens, den Pompeo
feiert, ist das glatte Gegenteil jenes Wes-
tens, in dem sich die meisten Europäer ein-
mal zu Hause gefühlt haben. Pompeos
Westen ist einer, in dem Nationalstaaten
hauptsächlich ihren Eigeninteressen fol-
gen. Ein Westen, dem Souveränität und
nicht Kooperation als oberstes Gebot gilt.
Die Europäer haben es einerseits zu tun
mit einem Russland, das in Europa gewalt-
sam Grenzen verschoben hat, militärisch
jede sich bietende Lücke nutzt, und, wo im-
mer es opportun erscheint, die Feinde der
Demokratie hätschelt. Überdies müssen
sie sich wappnen für den Umgang mit ei-
nem totalitären China, das immer bruta-
ler seinen Willen durchzusetzen trachtet.
Bei alledem aber bleiben sie anderseits an-
gewiesen auf einen US-Präsidenten, der
internationale Abkommen in Serie zerris-
sen hat, der Medien anpöbelt, sich über
dem Gesetz wähnt und der unabhängigen
Justiz zusetzt. Der Begriff des Westens,
dessen Siegeszug Pompeo verkündet, ist
entleert – oder gar ins Gegenteil verkehrt.
Das ist der Zangengriff: Von der einen Sei-
te droht die Aushöhlung durch einen redu-
zierten, wesentlich seiner Werte beraub-


ten Westen, auf der anderen Seite lauert
die Gefahr durch seine offenen Gegner. In-
teressant ist, wie sehr sich der polnische
Außenminister Jacek Czaputowicz in
München dagegen verwahrt hat, die USA,
Russland und China in einem Atemzug als
Herausforderung zu nennen. Damit hat er
einerseits recht, denn die USA sind immer
noch eine funktionierende Demokratie,
mit der die meisten EU-Staaten überdies
in einer ebenfalls immer noch funktionie-
renden Militärallianz verbunden sind. An-
dererseits zeigt sich gerade in Polen, wie
kompliziert die Dinge geworden sind.
Am östlichen Rand der EU und der Nato
wird der Westen in einer Weise beschützt,
die in den vergangenen Jahren wieder not-
wendig geworden ist, nämlich militärisch.
Ohne die USA wäre das nicht möglich. In
Polen wird aber zugleich durch die Zerstö-
rung des Rechtsstaates die EU in ihrem
Kern bedroht. Auch hier spielen die USA ei-
ne zentrale Rolle, denn durch Trump füh-
len sich die Regierenden in Warschau er-
muntert und bestärkt. Die USA unter
Trump sehen in der Europäischen Union
keinen Partner mehr. Sie sehnen vielmehr
deren Ende herbei, was Außenminister
Pompeo vor einem Jahr ausgerechnet
während einer Rede in Brüssel kaum noch
verbrämt hat.
Es hat während dieser Sicherheitskon-
ferenz nicht an Aufrufen zum Realismus
gefehlt. Bundespräsident Steinmeier hat
die tiefen Risse in der internationalen Ord-
nung beklagt, zugleich aber auch vor
Selbstüberschätzung und moralischer
Überheblichkeit gewarnt. Frankreichs
Staatspräsident Emmanuel Macron dia-
gnostizierte einmal mehr die Schwächung
des Westens, warnte vor dem Irrglauben,
dass sich dessen Werte international
schon durchsetzen würden. Das ist alles
richtig, aber zu einer realistischen Ein-
schätzung gehört eben vor allem das Ein-
geständnis, dass die Selbstbehauptung ei-
nes Europas der westlichen Werte nur in
einem komplizierten Unterfangen voller
Widersprüche gelingen kann.
Wo immer es geht, werden die Europä-
er versuchen müssen, mit eben jenen USA
gemeinsame Sache zu machen, die der
Idee einer internationalen Gemeinschaft
eine Absage erteilt haben. Sie werden, in-
dem sie selber deutlich stärkere Lasten
übernehmen, zum Erhalt der Nato beitra-
gen müssen. Zugleich aber werden sie den
USA immer wieder auch entgegentreten
müssen, werden ihnen vor allem unter
Trump nicht die Deutungshoheit darüber
überlassen dürfen, was der Westen ist. Al-
les andere würde Europa im Inneren zer-
stören und nach außen jeder Glaubwür-
digkeit berauben. Das ist ein schwieriger
Weg, aber der einzige. Die Nachricht vom
Tode des Westens ist übertrieben. Noch.

Es war ein bemerkenswertes
Urteil, das Europas Fußball-
verband Uefa am Freitag-
abend verkündete: Zwei Jah-
re lang darf der englische
Spitzenklub Manchester City nicht am
Europapokal teilnehmen – wegen eines
Verstoßes gegen das sogenannte Financi-
al Fairplay (FFP). Dieses Instrument hat
die Uefa schon 2011 eingeführt, um die
Mannschaften, die in der Champions
oder der Europa League starten wollen,
zu einem solideren Umgang mit ihren Fi-
nanzen zu drängen. Allerdings erwies
sich das FFP über viele Jahre zumindest
für die großen und einflussreichen Klubs
als harmlos. Wirklich harte Strafen wie ei-
nen Ausschluss gab es bei Verstößen nur
für kleinere Vereine. Doch das hat sich ge-
ändert: Im Jahr 2019 musste bereits der
AC Mailand eine Sperre verkraften und
nun also das von Scheich Mansour bin
Zayed Al Nahyan aus Abu Dhabi mit vie-
len, vielen Millionen unterstützte Man-
chester City – falls das zuständige Sport-
gericht die Sanktion bestätigt. Konkret
verlangt das FFP, dass Klubs über einen
Zeitraum von drei Jahren nur so viel Geld
ausgeben, wie sie einnehmen. Nur einen
Verlust von bis zu 30 Millionen Euro darf
ein Investor ausgleichen. Zugleich prüft
die Uefa Tricksereien bei den Einnahmen
der Klubs und die Verhältnismäßigkeit
bei der Höhe von Sponsorenzahlungen.
Dies wurde City zum Verhängnis. aum

4 HF3 (^) MEINUNG Montag,17. Februar 2020, Nr. 39 DEFGH
FOTO: CHRIS J RATCLIFFE/GETTY
HAMBURG


Angst vor der grünen Frau


CDU-VORSITZ

Die Kunst des Wettbewerbs


CORONAVIRUS

Chinesische Lähmung


UNGARN

Orbán ist ganz der Alte


TESLA

Recht der Umwelt


AuslaufmodellWesten sz-zeichnung: kittihawk

SICHERHEITSKONFERENZ


Den Westen retten


von daniel brössler


LEXIKON


Financial Fairplay


PROFIL


Rory


Stewart


Londoner
Politiker auf
Herbergssuche

Veränderung an sich
ist hier kein Wert,
Verlässlichkeit umso mehr

Die Kandidaten für den
Parteivorsitz müssen
erklären, wofür sie stehen

Die Europäer müssen


mit den USA kooperieren,


ihnen aber auch entgegentreten

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