Berliner Zeitung - 17.02.2020

(coco) #1
Berliner Zeitung·Nummer 40·Montag, 17. Februar 2020–Seite 13
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F e uilleton


„HennesWeisweilerwarnichtnurfußballtaktischseinerZeitvoraus.“


TorstenWahlempfiehlteineDokumentationübereinSpielvonBorussiaMönchengladbach1970inIsrael Seite 14


„KeinAnlasszurSorge“


DasLeitungsduoderBerlinaleüberdieFilmauswahl,neueFestivalkinosunddasCorona-Virus


W


irtreffendieBerlinale-
DoppelspitzeMariette
Rissenbeek undCarlo
Chatrian im Renzo-
Piano-Hochhaus am Potsdamer
Platz. Am Donnerstagbeginntdie
erste Berlinale der beiden, zugleich
feiertdas Filmfestival sein 70. Jubi-
läum.ImVorraumdesBürosstehen
KartonsmitGeschenkenfürdieFes-
tival-Gäste.Essind Berlinale-Notiz-
bücherund-Schals,verräteineMit-
arbeiterin.Allesistbereit.

Herr Chatrian, Siekommen vom
Filmfestival Locarno.Was ist für Sie
dergrößteUnterschiedzurBerlinale?
CARLO CHATRIAN:Dasist wie
SommerundWinter.

DasisteineklareAntwort.
CHATRIAN:Ichkann schon et-
was mehr erklären. Es gibt eine
ganzeMenge Unterschiede,aber
eine sehr wichtigeGemeinsamkeit:
beides sind Publikums-Festivals.
DasPublikum unterscheidet sich
natürlich, weil Locarno eine Art
Kino-Dorfist, zu dem der Großteil
der Leute bewusstfahren. Berlin ist
eineMillionenstadt,dasInteresseist
breiter,esmischensichdasBerliner
PublikumunddasanreisendeFach-
publikum.

AmDonnerstageröffnetdie70.Berli-
nale mit „MySalingerYear“.Warum
startenSieindasJubiläumeigentlich
nicht mit „Berlin Alexanderplatz“?
DieserFilmverbindetdieZeitdesRo-
mans vonAlfred Döblin mit unserer
Gegenwart.
CHATRIAN:Wirwollten den ers-
ten Film nicht einem so großen Er-
wartungsdruck aussetzen, da ist es
besser,wenn der außer Konkurrenz
läuft. „MySalinger Year“ wir ddaher
als Berlinale Special Gala ge zeigt. Er
handeltvoneiner jungenFrau, die
Schriftstellerinwerdenmöchte.Esist
ein Film über Wünsche undVerlan-
gen.UndderkannsehrgutdasFesti-
valrepräsentieren.Sohabenwirnicht
nurden NameneinesgroßenSchrift-
stellers,sondernaucheinegroßartige
SchauspielerinmitSigourney Weaver
und könnenzeigen, dass wir durch-
ausauchStarszum Festivalbringen.

WiepolitischsolltesoeinFestivalsein?
MARIETTERISSENBEEK:Berlin
isteinepolitischeStadt,dasPubli-
kumhieristpolitisch,dieFilmschaf-
fendenbearbeitenauchvieleThe-
men,diepolitischsind.DasFestival
istesnatürlichauch.

IhrVorgängerDieterKosslickhatauf
seinenpolitischenAnspruchsehrviel
Wert gelegt. Davonwollen Siesich
alsonichtabgrenzen.
RISSENBEEK:Nein,warumauch?
DieBerlinale ist auch vorDieter
Kosslick schon einFenster zurWelt
gewesen.DennochgehtCarloinder
Auswahl derFilme noch einmal an-
dersvoralsdas vorherige Team.
CHATRIAN:Ichdenke,die Art
undWeise,wieFilmeheutepolitisch
sind, unterscheidet sich sehr deut-
lich vonder,wie sie es in den 70er-
und 80er-Jahren waren.DieRolle
vonPolitik hat sichverändert, auch
dieGrenzenzwischendemPrivaten
und Politischen. Für mich sind die
politischstenFilme nicht die mit ei-
nem bestimmten Thema, sondern
jene,diedieAnsichtendesBetrach-
tersverändernwollen.Jesubtilersie
wirken,destobesser.

ChinawaroftmitFilmenimWettbe-
werbvertreten.Hatesa uchmit Poli-

tikzutun,dassdiesesJahrkeinchine-
sischerFilmdabeiist?2019wurdeein
FilmvonZhangYimouausdemlau-
fendenWettbewerb genommen, offi-
ziell wegen technischer Probleme,
abervielesprachenvonZensur.
CHATRIAN:So etwas ist im letz-
ten Jahr auch bei anderenFestivals
geschehen, zumBeispiel inShang-
hai. Dashat bei der chinesischen
FilmindustrieeinigeUnruhebewirkt
unddeutlichergemacht,dassesZeit
braucht, einenFilm durch dieZen-
surbeimKulturministeriumzubrin-
gen.IchwarinChina,wirhattendrei
Projekte in der engerenAuswahl,
dochwurdekeinesvonihnenrecht-
zeitigfertig.

DawirüberChinasprechen:Wiesind
SieaufdasCoronavirusvorbereitet?
RISSENBEEK:Erst einmal müs-
sen wir keine Angst davor haben,
dass asiatische Gäste kommen, die
hierdas Publikumanstecken.Dieje-
nigen,dieausreisendürfen,werden

je nachRegion an denFlughäfen
überprüft.WirhabeneinigeAbsagen
vonTeilnehmerndes Filmmarkts,
die keine Reisegenehmigung be-
kommenhaben.

Gibtes VorkehrungenvorOrt?
RISSENBEEK: Wirwerden dem
EinlasspersonalHinweisegeben,wor-
auf zu achten ist, dass sie eventuell
auchLeuteansprechen,diesichkrank
fühlen. Wirsind mit demGesund-
heitsamtinKontaktundmitdemRo-
bert-Koch-Institut. Derzeit besteht
kein Anlass zu übertriebenerSorge,
aberselbstverständlichverfolgenwir
dieEntwicklungensorgfältig.

DieStadt macht es Ihnen schwer in
diesem Jahr: DiePotsdamer-Platz-
Arcadenwerdenumgebaut,insUn-
tergeschoss des Berlinale-Palastes
ist eine Strip-Sho weingezogen, das
CineStar hat geschlossen, die U-
Bahn-Linie2hältinRichtungRuhle-
ben nicht amPotsdamerPlatz. Gibt

es etwas, womit Ihnen Berlin entge-
genkommt?
RISSENBEEK: Wirfreuenuns
sehr,dass wir jetzt im Kulturforum
das70.Jubiläumfeiernkönnen,also
eineganzneueLocationhaben,wo
dieGästeauchindieAusste llungen
gehenkönnen.DasisteineBereiche-
rung.Unddannmussichsagen:Der
PotsdamerPlatzhateineziemlich
einmaligeKonstellation.Esgibthier
dengroßenBerlinale-Palast,esgibt
immernochdasCinemaxxalsMulti-
plex,es gibtHotelsverschiedener
Preisklassen.Natürlichbrauchtdie
BerlinalealseinFestival,das 330000
TicketsimJahrverkauft,einebreite
Basis.Dieherzustellen,wirdimmer
eineHerausforderungbleiben.

GibtesdennwiedergenugPlatzfürso
vieleZuschauer?
RISSENBEEK:Ja,wirsindzusätz-
lichinderAkademiederKünsteund
habenalleSäleimCubixangemietet.

Siehaben sichvomKulinarischen
KinounddemNative-P rogramm ver-
abschiedet,abermitEncounterseine
neue Sektion eingeführt.Wieunter-
scheidetsichdievomWettbewerb?
CHATRIAN:Wirhaben uns ent-
schieden, diese beidenProgramme
zu beenden,weil wir finden, beim
Kino sollte es nicht zuerst um The-
men gehen, sondernumd ie Filme.
MitEncounters,dieeineeigeneJury
hat, möchtenwirstärkerdaraufrea-
gierenkönnen,wasinderFilmland-
schaft Neuespassi ert. DerWettbe-
werbistundbleibtdasZentrumdes
Programms–derPlatzfürdieFilme,
diewirfürdiestärkstenhalten.

NochvorIhrererstenBerlinalew aren
Siemitde renGeschichtekonfrontiert,
mit der Rolleihres einstige ChefsAl-
fred Bauerind erNazizeit.Wiereagie-
renSie da rauf? Kann de rPreis rück-
wirkendumbenanntwerden?
CHATRIAN: Diebeste Antwort
daraufhatschonAgnieszkaHolland
gegeben,die2017für„Pokot“ausge-
zeichnet wurde.Sie sagte ,sie habe
immer nur denSilbernenBären als
ihren Preisangesehenundnichtden
Namensgeber.
RISSENBEEK:In diesem Jahr ist
es nichtschwer, eine nSonderpreis
der 70. Internationalen Filmfest-
spiele zuverg eben. Für dieZukunft
müssenwireineLösungfinden.Wir
sind dabei, einInstitut fürZeitge-
schichte mit derPrüfung zu beauf-
tragen, wie genau sich AlfredBauer
inderNS-Zeitverhaltenhat.

ZumSchluss eineFrage zur Ihrem
Jury-PräsidentenJeremy Irons. Er ist
alsder sprichwörtliche alte wei ße
Manninde rVergangenheitmitsexi s-
tischenÄußerungenaufgefallen.Wie
sollerf üreinenNeuanfangstehen?
CHATRIAN: Er istein gr oßer
Schauspieler.Deswege nhaben wir
ihn be rufen, ganz einfach.Undau-
ßerdem muss manimmer wieder
daraufhinweisen,dassJeremyIrons
die la nge zurückliegendenunglück-
lichenÄußerungenschonvorJahren
revidiert hat. Sierepräsentieren
überhaupt nicht seineGeisteshal-
tung. Undwissen Sie, wasera lsers-
tesgesagt hat, als verk ündet wurde,
dasser Jurypräsidentwürde?Erfreue
sichaufdieArbeitmitseinenKolle-
gen.Dawussteernochnichteinmal,
werdasseinwürde.Dasistei neAnt-
wort,die nurjemand gebenkann,
deroffenfürandereMeinunge nist.

DasGesprächführten
CorneliaGeißlerundSusanneLenz

DAS BERLINALE-LEITUNGSTEAM

Mariette Rissenbeek,Jahrgang 1956, stu-
dierte Germanistik, Soziologie und Theater-
wissenschaft in den Niederlanden. Nach
zwei Auslandssemesternander Freien Uni-
versität beschloss die Niederländerin, in
Deutschland zu bleiben. Im Jahr 2002wech-
selte sie zu GermanFilms, einer Einrichtung,
die für den deutschenFilm imAusland wirbt.
Im Jahr 2011 wurde Rissenbeek dortGe-
schäftsführerin. Nunverantwortet sie als Ge-
schäftsführerin die wirtschaftliche Seite der
Berlinale.

Carlo Chatrian,Jahrgang 1972, studierte
Literatur und Philosophie inTurin, wo er auch
geboren ist. Er schrieb dann zunächst fürver-
schiedeneFilmzeitschriften undveröffent-
lichte eine AnzahlvonBüchernzumThema
Film, etwa zum Kino des HongkongerAuto-
renfilmersWong Kar-Wai. 2002 wurde Chat-
rian Mitglied imAusw ahlkomitee des Inter-
nationalenFilmfe stivalsvonLocarno in der
Schweiz, 2012 wurde er dessen künstleri-
scher Leiter.Nun haterd iese Funktion bei
der Berlinale inne.

Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian amTagunseres Gesprächs. BENJAMIN PRITZKULEIT

NACHRICHTEN


Peter Handkeerhält hohen
serbischen Orden

DerösterreichischeSchriftsteller
undLiteraturnobelpreisträgerPeter
Handkeistmiteinemhohenserbi-
schenOrdenausgezeichnetworden.
BeiderVerleihungszeremonieam
SonnabendinBelgradwareraller-
dingsnichtselbstanwesend.Serbi-
ensPräsidentAleksandarVucicehrte
ausAnlassdesserbischenStaats-
feiertagsmehrerePersonen.DenKa-
radjordjevo-OrdenmitSternerster
KlasseerhieltHandkefürseinenau-
ßerordentlichenEinsatzfürSerbien
unddieSerben,hießesinderBe-
gründung,diebeiderFeierlichkeit
verlesenwurde. (dpa)

Bürger kuratieren
Ausstellungen über die DDR

Unterdem Motto„AlleindieKunst!“
bereitenzwölfLaien-Kuratorenzwei
BürgerausstellungenaufderBurg
Beeskow(Oder-Spree)vor.Siekonn-
tendafürWerkeausdem Kunstar-
chivBeeskowauswählen.Dortla-
gernrund17000DDR-Kunstobjekte
dieimAuftragvonParteien,Massen-
organisationenundStaatsorganen
entstandenwaren.DieersteAusstel-
lungzumThemaAlltagwirdunter
demArbeitstitel„Lebenineinem
Land,dasesnichtmehrgibt“am14.
Märzeröffnet.Diezweitebeginnt
am27.Juni,siethematisiertLand-
schaft,Natur,FrauenundVölker-
freundschaft. (dpa)

NeuesWandgemälde von
Banksy in Bristol zerstört

DasneuesteWandgemäldedes
Streetart-KünstlersBanksyistzwei
TagenachseinerEntdeckungzer-
störtworden.ÜberdasWerkinBris-
tolwurdemitrosaFarbe„BCCWan-
kers“(etwa:BCCWichser)undein
Herzgesprüht.BanksysBildzeigtein
Mädchen,dasRosenmiteinerStein-
schleuderaneinegraueHäuser-
wandschießt.EswaramDonnerstag
entdecktworden.DerKünstlerhatte
sichinderNachtzumFreitagaufei-
nemInstag ram-Accountundseiner
WebseitealsUrheberbekannt.BCC
istauchdieAbkürzungfürdenStadt-
rat(BristolCityCouncil). (dpa)

Pianist ReinbertdeLeeuw
81-jährig gestorben

DerniederländischePianistundDi-
rigentReinbertdeL eeuwistamFrei-
tagimAltervon81J ahrengestorben.
DasteiltedasAsko/Schönberg-En-
sembleaufseinerWebseitemit.De
Leeuw,derauchselbstkomponierte,
warChefdirigentdesEnsembles.De
Leeuwwar1974einerderGründer
desinternationalrenommierten
Schönberg-Ensembles,heute
Asko/Schönberg. (dpa)

Straßenlosung gegen Straßenkunst: Die
Buchstaben auf dem Banksy-Graffiti. DPA

Gefangen


im Bild


W


enn man denNamen Hanns
MartinSchleyerineinerSuch-
abfrage fürBilder eingibt, kommen
dutzendfachAbbildungen zumVor-
schein, die ihn alsGefangenen der
Terrororganisation RAF im Jahre
1977kurzvorseinerErmordungzei-
gen. „Seit 20Tagen Gefangener der
RAF“stehtaufeinemSchild,dasder
damalige Arbeitgeberpräsidentvor
seinenKörperzuhaltengezwungen
war.Ein später aufgenommenes
Foto be zeugt eineGefangenschaft
von31Tagen. „CommandoSieg-
fried Hauser“ steht auf dem Schild,
das außerdem das bald zu großem
Bekanntheitsgrad gelangende RAF-
Logozeigt,indemdieVersalienRAF
in ein Kalaschnikow-Gewehr einge-
arbeitetsind.
SchleyersiehtaufdemFotoüber-
müdetaus.Erschöpft,abernichtge-
brochen. Es gehörtzur erschüttern-
den Geschichte desBildes,dass in
ihmein vermeintlicherTäterdesNS-
Regimes alsOpfer seinerBiografie
betrachtetwerden sollte.Die un-
sichtbarenUrheberdesFotoshatten
sich in ihrer mörderischenMission
ermächtigt,Vollstrecker einesvon
ihnenerlassenenUrteilszusein.Die
Schleyer-FotossindseitherfesterBe-
standteilderdeutschenNachkriegs-
ikonografie.Deren Körnigkeitver-
mittelt insbesondereden Eindruck
einerAuthentizität,dieaufdasEmp-
finden einer gesteigertenDringlich-
keitzusetzenscheint.Dasfotografi-
scheProvisoriumdientalsStilmittel
einerPropagandaderTat.
Istesn ichtgenaudas,washeute
Eingang gefunden hat in jegliche
Form vonrasch hergestelltenInter-
netbotschaften,derenAkteurenicht
mehr eigens abwarten wollen,von
Journalistenbefragtzuwerden?Der
thüringische CDU-Landesvorsit-
zende Mike Mohring hat ebenso zu
dieserMitteilungsformgegriffenwie
der Fußballtrainer Jürgen Klins-
mann.Beidehabenmittelsschlecht
ausgeleuchteter Handyfilme Stel-
lungzuihrerberuflichenDemission
bezogen, zu der es über die bloße
Nachricht hinaus um dieVermitt-
lung vonund Autonomie überBe-
findlichkeitengeht.
Dasselbstfabrizierte Bild als
Rechtfertigung. Klinsmann und
MohringräumenFehlereinundbe-
harren doch auf derWahrhaftigkeit
ihres Tuns.Hierfilmeichmichselbst
und kann nicht anders.Was sie auf
diese Weise vorführen, ist nicht zu-
letzteinästhetischesRingenumper-
sönlicheIntegrität. Wieauchimmer
dasöffentlicheUrteilübersieausfal-
len mag, bestehen sie viaTwitter
oder Facebook darauf, das letzte
Wortzubehalten.Undbleibendoch
gefangenimBild.


Stilkritik


HarryNuttsah sich Bot-
schaftenvonMikeMohring
und Jürgen Klinsmann an.

MikeMohring im schlecht ausgeleuchte-
ten Handy-Video. TWITTER-ACCOUNT VON M. MOHRING

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