Süddeutsche Zeitung - 19.03.2020

(Nancy Kaufman) #1
von daniel brössler

D

ie Situation ist angespannt. In
Ägypten, Tunesien, den Philip-
pinen, in Argentinien, vor al-
lem aber in Marokko. Binnen
weniger Tage haben sich die
Traumziele deutscher Urlauber in touristi-
sche Katastrophenzonen verwandelt. Weit
mehr als 100000 Urlauber sind nach Schät-
zung des Auswärtigen Amtes in verschiede-
nen Winkeln der Welt gestrandet. Der regu-
läre Heimweg ist abgeschnitten, seit
Staaten rund um den Globus aus Angst vor
dem Coronavirus Einreiseverbote ver-
hängt, Flugverbindungen gestrichen und
Flughäfen geschlossen haben.
Besonders schwierig ist die Lage für
deutsche Urlauber in Marokko. Schon am
Sonntag hatte das Land die Flugverbindun-
gen gekappt. Bis zu 6000 Deutsche, viel-
fach nicht als Pauschalreisende, sondern
auf eigene Faust unterwegs, saßen fest. Sie
sind nun auf die Luftbrücke angewiesen,
mit der die Bundesregierung in einer bei-
spiellosen Aktion gestrandete Urlauber in
die Heimat holen will. Das erweist sich ge-
rade im Falle Marokkos als schwierig, weil
sich viele Betroffene an keinen Reiseveran-
stalter wenden können und zunächst auf
sich selbst gestellt sind. Auf ihrer Webseite
teilte die Botschaft mit, dass ab Mittwoch
von Marrakesch, Agadir und Rabat Flüge
nach Deutschland gehen würden. Und: Es
werde genügend Plätze für alle geben.
„Bleiben Sie daher bitte ruhig und warten
Sie ab, bis Sie weitere Informationen zu
Ihrem Flug und Abflugort von uns direkt
oder an dieser Stelle erhalten“, appellierte
die Botschaft – was angesichts zeitweise
chaotischer Zustände an den Flughäfen
nicht allen leichtfiel. Über eine private
Whatsapp-Gruppe tauschten gestrandete
Urlauber Informationen aus, versuchten,
einander auch zu beruhigen. „Also ich wür-
de mich an einen der Orte, von wo die Flü-
ge gehen, positionieren“, riet da ein Betrof-
fener. „Das ist hier kein Wunschkonzert
mehr, wo man sich aussuchen kann, wann
man mal Zeit hätte, zum Flughafen zu kom-
men. Leute, echt jetzt.“
In der Tat handelt es sich um eine Aus-
nahmesituation, die alles sprengt, was
selbst erfahrene Krisenmanager im Aus-
wärtigen Amt kennen. Das Krisenreakti-
onszentrum im Ministerium war bisher
darauf ausgelegt, auf regionale Krisen,


Konflikte oder Naturkatastrophen zu re-
agieren und deutsche Urlauber von einzel-
nen Orten in der Welt zurückzuholen. Nun
aber ist die ganze Welt ein Krisengebiet.
Um dieser Lage Herr zu werden, hat
Bundesaußenminister Heiko Maas das
Krisenreaktionsteam unter Leitung des Di-
plomaten Frank Hartmann personell dras-
tisch verstärkt. Die Bundesregierung stell-
te zunächst bis zu 50 Millionen Euro be-
reit, um die Luftbrücke zu finanzieren. Die-
se funktioniert nun in mehreren Stufen. Zu-
nächst hilft das Auswärtige Amt Anbietern
von Pauschalreisen dabei, Überfluggeneh-
migungen und Landerechte von jenen Staa-
ten zu bekommen, die den normalen Flug-
verkehr gekappt haben. Darüber hinaus
chartert das Amt Maschinen von Lufthan-
sa, Tui und Condor, um auch Individualrei-
senden die Rückreise zu ermöglichen.
Am Mittwoch lief diese Luftbrücke mit
30 Flugzeugen an, darunter sowohl regulä-
re als auch Sondermaschinen. Das Auswär-
tige Amt rechnete damit, dass bis zum
Abend aus Ägypten ungefähr 4000, aus
der Dominikanischen Republik etwa 1500

und aus Marokko etwa 1900 Urlauber zu-
rückkehren würden. Die drei Länder gel-
ten derzeit als „Hotspots“. Der Veranstalter
Tui holt nach eigenen Angaben seit Diens-
tag jeden Tag etwa 10000 Passagiere zu-
rück, insbesondere aus Ägypten, von den
Balearen, den Kanaren und den Kapver-
den. Urlauber, die die Luftbrücke in An-
spruch nehmen wollen, wurden aufgeru-
fen, sich im Internet in die Krisenvorsorge-
liste „Elefand“ einzutragen. Am Dienstag
gab es dabei über Stunden hinweg Schwie-
rigkeiten, weil das System wegen des
Ansturms überlastet war, diese schienen
aber am Mittwoch behoben zu sein.
Sowohl auf der eigenen Webseite als
auch auf denen der betroffenen Botschaf-
ten versucht das Auswärtige Amt, die weit
verbreiteten Unklarheiten darüber zu be-
seitigen, wer die Luftbrücke in Anspruch
nehmen kann. Primär richtet sich die Rück-
holaktion an deutsche Staatsbürger und
deren Familienangehörige. Darüber hin-
aus soll „im Rahmen der Kapazitäten“
auch Menschen ohne deutschen Pass ge-

holfen werden, die „einen Aufenthaltstitel
für Deutschland haben, in Deutschland
leben und von dort in den Urlaub gereist
sind“. Freie Plätze in den Flugzeugen sol-
len darüber hinaus bei Bedarf auch mit Bür-
gern anderer EU-Staaten gefüllt werden.
Das wolle man „im Sinne der europäischen
Solidarität“ handhaben, sagte eine Spre-
cherin des Auswärtigen Amtes. Nicht ge-
dacht ist die Luftbrücke für Deutsche, die
im Ausland leben und arbeiten – wohl aber
etwa für junge Leute, die mit Work-and-
Travel-Programmen oder als Au-pair in
der Welt unterwegs sind. Gerade in ihrem
Fall soll vermieden werden, dass auf unab-
sehbare Zeit der Heimweg abgeschnitten
ist. Die Bundesregierung fürchtet, dass es
relativ lange dauern kann, bis wieder eini-
germaßen normale Zustände im internatio-
nalen Flugverkehr herrschen.
Kostenlos ist der Rückflug mit der Luft-
brücke nicht. Die Reisenden müssen zwar
zunächst nichts zahlen, sich aber auf eine
Rechnung etwa in Höhe eines einfachen
Economy-Tickets einstellen. Schwierig
könnte es nun vor allem für jene werden,
die in entlegenen Weltgegenden unter-
wegs sind. Die Luftbrücke konzentriert
sich zunächst auf jene Feriengebiete, in de-
nen besonders viele Deutsche festsitzen.
Neben Ägypten, wo die Zahl zu Beginn der
Krise bei 30000 lag, ist das etwa auch die
Dominikanische Republik, wo die Zahl auf
10000 geschätzt wurde. Auch Tunesien,
Malta, den Malediven, den Philippinen
und Argentinien gilt das Augenmerk.
Anspruch auf Hilfe hat zwar jeder deut-
sche Tourist in Not, in der Praxis aber sind
die deutschen Konsulate nicht immer in
der Lage, sie auch zu gewähren. Wer auf
einer pazifischen Insel unterwegs ist oder
in Lateinamerika tief im Landesinneren,
dem wird in aller Regel geraten, sich erst
einmal etwa in die Hauptstadt zu begeben.
In der Krise zeigt sich, was manche womög-
lich vergessen haben: dass Reisen in ent-
fernte und wenig erschlossene Winkel der
Welt immer auch eine Frage der persönli-
chen Risikoabwägung sind. Man wolle je-
dem Einzelnen helfen, wird im Auswärti-
gen Amt betont, nur werde es eben nicht
immer schnell gehen.
In Marokko schien sich die Lage am Mitt-
woch etwas zu entspannen. „Heute gehen
viele Flüge. Bis jetzt alles diszipliniert und
fast keine Verspätungen“, schrieb eine
Urlauberin in die Whatsapp-Gruppe.

In den vergangenen Tagen hatten zahl-
reiche Länder wegen der rasanten Ausbrei-
tung des Coronavirus Grenzen dichtge-
macht und Flugverbindungen gestrichen.
Das Auswärtige Amt organisiert nun Flü-
ge, um Deutsche aus bestimmten Ländern
zu holen. Die wichtigsten Fragen und Ant-
worten.

Welche Länder erschweren die Rück-
reise besonders stark?
Mit kommerziellen Fluganbietern sei laut
Außenminister Heiko Maas ein „einmali-
ges Programm“ aufgelegt worden, um im
Lauf der nächsten Tage deutsche Pauschal-
reisende zuerst aus besonders stark betrof-
fenen Gebieten zurückzuholen. Dazu zäh-
len Marokko und die Dominikanische Re-
publik, die für einen Monat alle Flüge von
und nach Europa ausgesetzt haben, aber
auch die Philippinen, Ägypten und die
Malediven sowie Malta und Argentinien.
Am Donnerstag wird Ägypten folgen: Zu-
nächst bis zum 31. März werden alle inter-
nationalen Flugverbindungen ins Ausland
gestrichen. Längst nicht allen Touristen
dürfte es gelingen, ihre Flüge rechtzeitig
umzubuchen. Daher werden die Anbieter
in Zusammenarbeit mit dem Auswärtigen
Amt Flüge bereitstellen.

Was sollten Betroffene nun tun?
Alle, die auf eine Rückholaktion angewie-
sen sind, sollten sich zunächst auf der Inter-
netseite des Auswärtigen Amtes informie-
ren und zuerst ihre Reiseveranstalter oder
Airlines kontaktieren. Auch Botschaften
und Konsulate sollen für Anfragen zur Ver-
fügung stehen, sind aber eventuell überlas-
tet und nur schwer erreichbar. Alle, die
noch unterwegs sind, sollten sich dringend
in die Krisenvorsorgeliste des Auswärtigen
Amtes eintragen: So können sie kontak-
tiert werden, und das Amt weiß, wer noch
in welchem Land ist.

Für wann sind die Rückreisen geplant?
Die Gestrandeten würden laut Maas „im
Laufe der nächsten Tage“ zurückgeholt. Er
bat um Geduld: „auch wenn wir alles Men-
schenmögliche tun, dass wir nicht in je-
dem Fall eine 24-Stunden-Lösung vorhal-
ten können“. Die erste von der Bundesregie-
rung dafür gemietete Chartermaschine
der Lufthansa war bereits am Dienstag-
nachmittag nach Manila, Philippinen ge-
startet. Die Regierung will so schnell wie

möglich 30 bis 40 Maschinen auf den Weg
in die Urlaubsgebiete bringen. Die Luftbrü-
cke soll bis weit in die nächste Woche dau-
ern. Auch Veranstalter und Reedereien so-
wie Airlines schicken Flugzeuge, um ihre
Kunden nach Hause zu bringen.

Sollte man auch in anderen Regionen die
sofortige Rückreise planen?
Auch aus anderen Ländern sollen Deut-
sche ihren Urlaub abbrechen und so
schnell wie möglich heimreisen. Nach
Schätzungen des Auswärtigen Amts sind
noch weit mehr als 100 000 Deutsche im
Ausland unterwegs – und es wird wohl
immer schwerer werden, nach Europa
zurückzukommen.

Gelten auf deutschen Flughäfen derzeit
Sonderbestimmungen?
Für Flüge mit Rückkehrern aus dem Aus-
land ist die Nachtflugbeschränkung etwa
am Münchner, Frankfurter und Stuttgar-
ter Flughafen vorübergehend aufgehoben
oder gelockert worden. Das Regierungs-
präsidium Stuttgart werde für alle Flüge,
die aufgrund der Corona-Pandemie in die-
ser Zeit starten oder landen müssen, eine
Ausnahmegenehmigung erteilen, teilte
der Flughafenbetreiber am Dienstag mit.
Solche Ausnahmegenehmigungen seien
zur Aufrechterhaltung der öffentlichen
Sicherheit und Ordnung zulässig.

Ändern sich die strikten Vorgaben
mancher Reiseländer möglicherweise?
Auch diesbezüglich ist weiterhin vieles im
Fluss. Die Regierung der Philippinen hatte
Ausländern am Dienstag beispielsweise
zunächst eine dreitägige Frist gesetzt, um
aus der Region Luzon mit der Hauptstadt
Manila auszureisen, bevor die Flüge einge-
stellt würden. Am Dienstagabend hieß es
wiederum, sie könnten das Land innerhalb
des kommenden Monats verlassen. In eini-
gen Zielländern wie der Dominikanischen
Republik hatte es zunächst auch geheißen,
dass gar keine Flieger aus Europa mehr lan-
den dürften. Inzwischen habe man die Hin-
dernisse aber ausgeräumt. Auf eine gene-
relle Besserung der Situation sollte man
sich jedoch nicht verlassen.

Ist es weiterhin möglich zu verreisen?
Das Auswärtige Amt hat erstmals eine welt-
weite Reisewarnung ausgesprochen. Dies
passiert nur für einzelne Länder, wenn von

einer akuten „Gefahr für Leib und Leben“
ausgegangen werden muss. Daher rief
Außenminister Heiko Maas dazu auf, „alle
nicht notwendigen, touristischen Reisen
ins Ausland“ zu unterlassen. Zwar sei nie-
mand gezwungen, nach Deutschland zu-
rückzureisen, sagt der ZDF-Rechtsexperte
Felix Zimmermann. „Man kann theore-
tisch weiter verreisen und man muss auch
das aktuelle Zielland nicht unbedingt ver-
lassen.“ Trotzdem rät er, dem Appell des
Außenministers Folge zu leisten.

Bekomme ich mein Geld für bereits
gebuchte Pauschalreisen zurück?
Das Auswärtige Amt hat die Reisewarnung
gerade vor dem Hintergrund erlassen,
dass diese als starkes Indiz für ein unver-
meidbares, außergewöhnliches Ereignis
(früher: „höhere Gewalt“) gewertet wird –
mit Konsequenzen für Stornokosten, Um-
buchung und Erstattung. Für Pauschal-
reisen, die in den folgenden Wochen ange-
treten werden sollten, bieten Veranstalter
kostenlose Umbuchungen oder Erstattun-
gen an. Die Branche fordert angesichts der
zu erwartenden Summen flexiblere Rege-
lungen für die Rückerstattungen, etwa Gut-
schriften. Anders sieht es wegen der unsi-
cheren Lage bei Reisen aus, die erst in eini-
gen Wochen stattfinden sollen. Daher rät
auch die Verbraucherzentrale, nicht vorei-
lig zu stornieren, sondern Kontakt mit
Reiseveranstaltern aufzunehmen.

Habe ich auch als Individualreisender
eine Chance auf Rückerstattung?
Reisende, die Flug und Hotel bei unter-
schiedlichen Anbietern gebucht haben, ha-
ben nach Ansicht der Verbraucherzentrale
angesichts der Reisewarnung gute Chan-
cen, entstandene Schäden erstattet zu be-
kommen. Allerdings sind Individualreisen-
de mit den nationalen Gesetzen konfron-
tiert. Wenn ein Vertrag direkt mit Vermie-
tern im Ausland geschlossen wurde, gilt
das Recht des Landes – hier ist es dann
zum Beispiel wichtig, ob der Vertrag wegen
der weltweiten Reisewarnung des Auswär-
tigen Amtes hinfällig wird. Gut dürfte es
für Individualreisende aussehen, wenn Air-
lines mit im Spiel sind, sagt Reiserechtsex-
perte Paul Degott: Habe ein Land einen Ein-
reisestopp verhängt oder Visa für Deut-
sche gelöscht, könne die Airline den Passa-
gier gar nicht mehr ans Ziel befördern.
katja schnitzler, daniela dau

Gestrandet


Mehr als 100 000 Deutsche sitzen in ihren Urlaubsländern fest.


Die Bundesregierung will sie in die Heimat holen


Ende der Freiheit


Was Urlauber beachten müssen – und welche Rechte sie haben.


Die wichtigsten Fragen und Antworten im Überblick


DEFGH Nr. 66, Donnerstag, 19. März 2020


REISE


Marokko, Ägypten und
die Dominikanische Republik
gelten als besonders heikel

Mallorca macht dicht
Luftbrücke für Urlauber, geschlossene
Hotels – das Ferienziel schottet sich ab 32

Auf Sicht fliegen
Nach Reisewarnung und Rückholung: Was
wird aus den Oster- und Pfingstferien? 31

Weltweit stranden Urlauber
an Flughäfen oder müssen schon
beim Versuch, noch einen Bus
zum Airport zu bekommen,
lange Wartezeiten in Kauf
nehmen – wie hier in Barcelona
(unten Mitte). Spanien hatte am
Sonntag für zwei Wochen einen
sogenannten Alarmzustand
ausgerufen, seitdem dürfen sich
auch Touristen nicht mehr frei
bewegen. In Granada bittet
deshalb ein Polizist zwei
Touristen, den Aussichtspunkt
San Nicolas vor der Alhambra zu
verlassen. Die quälend
langen Wartezeiten verbringt,
wer kann, schon mal schlafend
wie dieser Mann, der in
Marrakesch auf einen
Heimflug wartet.
FOTOS: REUTERS (3), GETTY IMAGES, DPA
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