Süddeutsche Zeitung - 19.03.2020

(Nancy Kaufman) #1

Wie in so vielen Bereichen des Lebens
haben sich auch bei den Wintersportlern
die Prioritäten verschoben. So ging es vor
wenigen Wochen noch gerne um die Frage,
wie viel Schnee der bislang eher wechsel-
hafte Winter für ein ordentliches Finale
der Ski- und Skitourensaison denn so
bringt. Und noch am vergangenen Sonntag
hatte es trotz Corona einen Massen-
ansturm auf vor allem mit Gondeln erreich-
bare Berge der bayerischen Alpen wie den
Herzogstand und die Zugspitze gegeben.
Inzwischen sind jedoch selbst die Berge
und Skigebiete bei bestem Wetter so leer
wie wahrscheinlich noch nie seit Einfüh-
rung des Hochtourismus. Auf absehbare
Zeit wird sich das auch nicht ändern. Die
Bergbahnen haben den Betrieb alpenweit
eingestellt – mancherorts zu spät, wie Kriti-
ker jetzt meinen. Denn vor allem der Halli-
galli-Ort Ischgl entpuppte sich als Brutstät-
te für das Coronavirus. Den Verantwort-
lichen wird vorgeworfen, die Verbreitung
der Krankheit aus Profitgier in Kauf ge-
nommen zu haben(die SZ berichtete). Seit
vergangenem Freitag gilt Tirol als Risiko-
gebiet. Dabei wurde Franz Hörl, Obmann
des Tiroler Wirtschaftsbundes, in der ver-
gangenen Woche noch mit den Worten zi-
tiert: „Es gibt keinen Grund, davon auszu-
gehen, dass in Österreich Skigebiete ge-
schlossen werden müssen.“
Auch jenseits der Pisten geht kaum
mehr ein Mensch ins Gelände. Mahnte der
Bergrettungsdienst im Alpenverein Süd-


tirol schon vergangene Woche an, auf Ski-
touren und Bergsteigen zu verzichten, zo-
gen nun andere Alpenvereine, sonst klare
Verfechter der Geht-raus-Attitüde, nach.
So ruft etwa der Alpenverein Österreich
(ÖAV) dazu auf, Bergausflüge in den kom-
menden Wochen unbedingt bleiben zu las-
sen. Der Grund ist laut ÖAV-Präsident An-
dreas Ermacora einfach: „Derzeit wird das
medizinische Personal anderswo dringend
gebraucht. Die Situation soll nicht durch
von Freizeitsportlern verursachte Unfälle
zusätzlich verschärft werden.“ In Tirol sind

Skitouren und Wanderungen seitens des
Landes inzwischen allerdings ohnehin
verboten.
Während sich Bergreiseveranstalter
mittlerweile nach den jeweiligen Reise-
bestimmungen ihrer Länder richten müs-
sen(siehe oben), ist wegen der behördli-
chen Verordnungen auch für die Berghüt-
ten im Hochgebirge das Wintergeschäft be-
endet. Diese hätten eigentlich teilweise bis
in den Mai für Skitourengeher geöffnet.
Von den Maßnahmen sind auch Selbstver-
sorgerhütten und sogar die für Notfälle vor-
gesehenen Winterräume betroffen. Der
Zentralverband des Schweizer Alpenclubs
wie auch der Deutsche Alpenverein emp-
fehlen ihren Sektionen sehr deutlich, die
Hütten bis auf Weiteres zu schließen oder
gar nicht zu öffnen. Kletterer wiederum,
die mit einem Ausflug in nahe und niedrig
gelegene Klettergärten liebäugeln, disku-
tieren auf Online-Portalen, ob eine Anste-
ckung mit dem Virus über Klettergriffe an
viel genutzten Routen möglich ist. Die Fra-
ge hat sich zumindest in den inzwischen
geschlossenen Kletterhallen erledigt.
Entweder zeigen sich viele der sonst auf
ihr Freiheitsrecht pochenden Bergsportler
einsichtig – oder ihnen ist schlicht die Lust
am Hobby vergangen. In dem Weiler
Praxmar, wo die umliegenden Gipfel zu
den beliebtesten Skitourenzielen Tirols
zählen, blieb der sonst oft überfüllte Groß-
parkplatz in den vergangenen Tagen jeden-
falls leer. dominik prantl

von ingrid brunner

A


uf den Meeren findet ein Wettlauf
gegen die Zeit statt, wie ihn die
Kreuzfahrtbranche bislang noch
nicht erlebt hat. Ob Aida, NCL,
MSC, Costa oder Tui Cruises – alle Kreuz-
fahrtveranstalter holen ihre Gäste zurück.
Das Coronavirus zwingt nach und nach
sämtliche der etwa 400 Schiffe der welt-
weiten Flotte, in einen Hafen einzulaufen.
Doch diese schließen einer nach dem ande-
ren. Und weil immer mehr Linienflüge ein-
gestellt werden, müssen die Veranstalter
Flugzeuge chartern – Kapazitäten sind ja
nun reichlich vorhanden. Doch selbst dann
steht die Rückreise unter Vorbehalt. So
liegt aktuell die Aida Mira mit rund
1300 Passagieren im Hafen von Kapstadt.
Die Flüge sind gebucht, doch Behörden ver-
weigern die Ausreise. An Bord soll es sechs
Corona-Verdachtsfälle geben. Alle Passa-
giere und die Besatzung müssen nun auf
die Testergebnisse warten.
„Solch eine Situation hat es noch nie
gegeben“, sagt Negar Etminan, die Presse-
sprecherin von Hapag-Lloyd Cruises. Die
Reederei hat mittlerweile fast alle Gäste zu-
rückgeholt. Einzig das Expeditionsschiff
Bremenist noch unterwegs. Es wird als
letztes der Hapag-Lloyd-Flotte seine Reise
regulär beenden. In Auckland, Neusee-
land, steigen die Gäste aus. „Wären wir
nicht schon vorher in neuseeländischen
Gewässern unterwegs gewesen, wäre der
Hafen jetzt zu für uns“, sagt Etminan.
Genau das ist das Problem des Expediti-
onsschiffesL’Austral der französischen
Reederei Ponant, das nach dem Ende der
Antarktissaison auf dem Weg nach Norden
war. In Montevideo sollten die Gäste von
Bord gehen. Doch weder Uruguay noch
Argentinien oder Brasilien lassen die
schon zweimal auf Corona getesteten Pas-
sagiere (alle gesund) und die Crew an Land.
Nun macht sich das Schiff auf den Weg
über den Atlantik nach Frankreich. Die
mehrheitlich französischen und australi-

schen Passagiere nehmen es gelassen –
noch, wie von Bord zu hören ist.
Auch die Flusskreuzfahrtschiffe von Ni-
cko, Arosa oder Croisi Europe haben ihren
Dienst eingestellt: Auf Rhein und Donau,
auf Rhône und Saône sind nur noch Fracht-
schiffe unterwegs. Wie lange der Stillstand
dauert, ist nicht abzuschätzen. So pausiert
Cunard bis 11. April, mit Ausnahme der
Queen Elizabeth, die ihre Australien-Sai-
son fortsetzt. Auch Royal Caribbean unter-
bricht seine Kreuzfahrten bis 11. April.
Hapag-Lloyd Cruises stoppt alle Reisen bis
Ende April. Bis dahin versuchen alle Reede-
reien nun fieberhaft, ihre Schiffe in Häfen
zu positionieren, um dann wieder in den
Fahrplan einsteigen zu können.
Dennoch fragt sich mancher: Ist dies
das Ende der Kreuzfahrt? „Keiner weiß,
was am Ende die Konsequenzen sein
werden“, sagt Helge Grammerstorf, der
Deutschlandchef des Weltreederei-
verbands Clia. Doch das Produkt Kreuz-
fahrt sei so gut entwickelt, dass die Lage
sich beruhigen werde. „Es wird einen
Knick geben, aber es wird weitergehen.“
In der Meyer-Werft in Papenburg habe
es bislang keine Auftragsstornierungen
gegeben, sagt Peter Hackmann, Kommuni-
kationschef des Familienunternehmens,
das stark vom Kreuzfahrtboom profitiert.
Am heutigen Donnerstag läuft das


  1. Kreuzfahrtschiff der Werft, dieIona,
    vom Stapel. Hackmann sagt, die Situation
    erinnere ihn an den 11. September 2001,
    der Terroranschlag habe damals auch zu-
    nächst die gesamte Lieferkette gelähmt. Er
    vertraue auf die Finanzstärke der großen
    Kreuzfahrtkonzerne.
    Doch die von Wachstumsrekorden und
    Gewinnen verwöhnte Branche erlebt der-
    zeit einen Absturz an den Börsen. So fiel
    der Aktienwert der Carnival Corporation,
    des größten Kreuzfahrtkonzerns der Welt,
    zu dem unter anderem Aida Cruises,
    Cunard Line und Costa Crociere gehören,
    von 47 Euro Mitte Februar auf aktuell un-
    ter zehn Euro.


Schon von Amts wegen sind Reiseveran-
stalter Optimisten: Wer den Menschen die
schönste Zeit des Jahres verkauft, muss
das auch verkörpern: Entspannung, Son-
ne, alles kein Problem. Was allerdings gera-
de über die Branche hereinbricht, ver-
schlägt auch den Profis den Atem: Eine
weltweite Reisewarnung hat es noch nie ge-
geben. Als 2010 der Vulkan Eyjafjallajökull
in Island ausbrach, konnte man in Europa
einige Wochen nicht mehr fliegen, aber
man konnte mit dem Auto, dem Zug, dem
Schiff oder Fahrrad verreisen. Das alles
kann man zurzeit so gut wie nicht mehr.
Viele Länder machen ihre Grenzen
dicht, kappen Flugverbindungen, Urlau-
ber werden mehr oder weniger aus ihren
Hotels geworfen, weil diese schließen müs-
sen. Das ist auch der Hauptgrund, weshalb
diese globale Reisewarnung vom Auswärti-
gen Amt (AA) erlassen wurde: Es ist zu un-
berechenbar, ob und wie Urlauber hin und
zurück kommen. Die Lage ändert sich
stündlich. Reiseveranstalter kümmern
sich nun zusammen mit dem AA darum,
die Gäste aus aller Welt nach Deutschland


zurückzuholen, großteils geht das mit re-
gulären Linien- oder Charterflügen. Zur-
zeit sind noch etwa 100 000 Deutsche im
Ausland, die zurückgeholt werden.
Die meisten großen Veranstalter wie
Tui, FTI und Der Touristik haben zunächst
einmal bis Ende März alle Reisen abgesagt.
Urlauber, die gebucht haben, bekommen
ihr Geld zurück. Doch was passiert da-
nach? Zu Ostern und vor allem zu Pfings-
ten, das für viele Familien eine wichtige Ur-
laubszeit ist? „Ob zu Ostern und Pfingsten
gereist werden kann, hängt von der Ein-
schätzung des Außenministeriums ab und
wie lange die Reisewarnung gilt“, sagt Anja
Braun, Sprecherin von Tui Deutschland.
Aktuell lege man das Augenmerk auf die
Rückholung der Gäste, was schwer genug
sei. „Sobald alle Gäste wieder wohlbehal-
ten zu Hause sind, starten wir – abhängig
von den behördlichen Fristen – mit den
Vorbereitungen zur Wiederaufnahme des
Reisebetriebs, den wir sehr schnell wieder
hochfahren können“, sagt Braun.
Wie schnell das sein wird, steht zurzeit
noch in den Sternen. Studiosus rechnet

nicht mit einer Beruhigung vor Ostern und
hat deshalb alle Reisen bis zum 19. April ab-
gesagt, da eine reguläre Durchführung „zu-
nehmend unmöglich“ sei, wie Studiosus-
Sicherheitsmanager Edwin Doldi sagt. Rei-
sen, deren Rückreise bis 21. März geplant
sei, werde man regulär zu Ende führen, al-
le anderen wolle man bis zum 22. März zu-
rückholen, bisher benötige man die Hilfs-
flüge des Auswärtigen Amtes dazu nicht.
Teilweise hätten Länder von einem Tag
auf den anderen Flüge nach Deutschland
gekappt, erzählt Doldi, da habe man unter
Hochdruck Rückflüge etwa von Marokko
über Portugal organisieren müssen. So-
bald die Krise vorbei sei, könne man inner-
halb von zehn Tagen wieder Reisen anbie-
ten, so Doldi. Dann hänge es aber davon ab,
welche Länder wieder erreichbar seien.
Für den Pfingsturlaub habe bislang kaum
jemand storniert.
Verbraucherschützer empfehlen, nun
nicht voreilig zu stornieren. Je nachdem,
ob die globale Reisewarnung bestehen
bleibt, müssten dies die Veranstalter dann
ohnehin tun. hans gasser

Leere Pisten, stille Gipfel: Die Bergbah-
nen und Alpenvereinshütten haben inzwi-
schen geschlossen. FOTO: JAN EIFERT / IMAGO

Alles


steht still


Das Coronavirus stürzt die


Kreuzfahrtindustrie in eine noch nie
dagewesene Existenzkrise

Auf Sicht fliegen


Was wird aus dem Oster- und Pfingsturlaub?


Als die Schiffe noch fuhren: In Indonesien lag das australische KreuzfahrtschiffCoral Adventureim Hafen von Soekarno-Hatta. Die Passagiere und Besatzungsmitglieder
mussten sich beim Verlassen des Schiffs vor einer Woche in der Stadt einer Untersuchung unterziehen. FOTO: HERWIN BAHAR / DPA


Friede den Hütten


Selbst die Berge der Alpen sind menschenleer. Aus gutem Grund


DEFGH Nr. 66, Donnerstag, 19. März 2020 REISE 31


http://www.sz-magazin.de

Morgen in Ihrer Süddeutschen Zeitung.


Unperfekt Die Künstlerin Heike Bollig sammelt fehlerhafte Dinge. Ihnen wohnt eine Schönheit inne, an die
Makellosigkeit nicht heranreicht. Ungerecht Die vielfach ausgezeichnete US-Philosophin Martha Nussbaum
forscht zu Liebe, Freundschaft oder Tierethik. Im Interview führt sie ihren Erfolg auch auf ihr Lächeln
zurück – und findet das bedauerlich. Unerträglich Eltern, die sich mit den Namen ihrer Kinder vorstellen.
Free download pdf