Süddeutsche Zeitung - 19.03.2020

(Nancy Kaufman) #1

Das Kind hatte schmale Hände und lange
Finger. Prädestiniert zum Klavierspielen,
sagten alle, die diese Hände sahen. Wes-
halb in der Familie ungefähr seit der zwei-
ten Lebenswoche des Kindes feststand,
welches Instrument die Tochter einmal
spielen würde. Außerdem brauchte der Va-
ter, ein genialer Sänger, unbedingt eine
ebenso geniale Begleitung.
Im Kindergarten herrschte allerdings
Flötenzwang. Wer als halbwegs begabt ein-
gestuft werden wollte, tat gut daran, einen
gewissen Eifer an den Tag zu legen, um das
Wohlgefallen der Klosterschwestern zu
erregen. Die Flötenquietscherei fand das
Kind auch halbwegs erträglich, wenn-
gleich es sich vor den nassen Mundstü-
cken ziemlich ekelte. Schrecklicher
erschienen ihm die Notenhefte mit den
dickbauchigen Männchen, die grinsend
auf den Linien im Heft rumkletterten. Ihre
Bäuche mussten ausgemalt werden, so
präzis wie möglich. Leider brachte das
Kind nie die Geduld auf, die runden
Wampen so musterhaft auszuschraffie-
ren, wie sich Schwester Meinhilde das vor-
stellte. Es strichelte locker über die schwar-
zen Begrenzungslinien hinweg, ertrug den
regelmäßigen Tadel, moralisch abgesi-
chert durch die Überzeugung des Vaters,
dass sich Pianistenhände zum Malen
einfach nicht eigneten.


Wohl auch deshalb empfand das Kind
den Klavierunterricht als deutlich ange-
nehmer. Die Noten in Schwarz genügten,
was Aktivitäten mit irgendwelchen Mal-
Utensilien ersparte. Das Unterrichtsbuch
war hellbraun und hieß „Das innere Hö-
ren“, ein Titel, der dem Kind nichts sagte.
Brav arbeitete es sich durch Band 1 und 2,
begleitet von einer uninspirierten Klavier-

lehrerin, die das Ganze mindestens ebenso
langweilig fand wie das Kind. Bewegung in
die lähmende Angelegenheit kam durch
den Musiklehrer am Gymnasium, der das
Kind mit Schumanns „Fröhlichem Land-
mann“ auf die Bühne zwang. Er vertrat die
interessante Ansicht, mit diesen Händen
müsse man eigentlich Cello spielen. Das
Kind wäre, allein der Abwechslung halber,
dazu bereit gewesen, die Eltern aber nicht.
Die hatten inzwischen berechtigte Zweifel
daran, ob Hände allein eine Pianistin aus-
machen und nicht doch noch etwas mehr
dazu gehörte, Begabung zum Beispiel,
Fleiß – und Üben. Aber gerade die letzten
beiden zählten zu den Begriffen, die für
das Kind aller wohlmeinenden Beschwö-
rungen diverser Pädagogen zum Trotz wie
Fremdwörter klangen.
Außerdem war das Kind nun schon fast
kein Kind mehr. Während es den Vater zu
Schubert-Liedern begleitete und sich
ansonsten durch das „Notenbüchlein für
Anna Magdalena“ quälte, innerlich Janis
Joplin viel näher als der zweiten Ehefrau
Bachs, beschloss es endgültig, das Klavier-
gestümper aufzugeben und die Hände
lieber dafür zu nutzen, das Spiel anderer
zu beklatschen. Und diesen Entschluss hat
das Kind von damals trotz aller gegen
teiliger Prognosen noch keine Sekunde
bereut. sabine reithmaier

Der Fasser Max war eine große Nummer in
der Blechblas-Szene des Bayerwaldes An-
fang der Siebzigerjahre, denn er hatte die
Trompete bei der Wehrmacht gelernt, war
also so etwas wie ein Profi gewesen. Und da-
von waren die Bauernmusikanten natür-
lich schwer beeindruckt. Seine Heimat-
stadt war ihm beruflich entgegengekom-
men: eine halbe Stelle im Rathaus, Führer-
scheine, glaub’ ich, die andere Hälfte Städ-
tische Musikschule. Die belegte an den
Nachmittagen die Räume der Hauptschu-
le, weil damals der Unterricht noch mit-
tags endete. Und dort fand ich mich eines
Tages ein zusammen mit meinem Freund,
dem Moser Karl-Heinz, und einer nagel-
neuen Trompete, einer tschechischen Ama-
ti, für die der Großvater 300 Mark bereitge-
stellt hatte, kurz bevor er starb. Der Fasser
Max erklärte dem Karl-Heinz und mir,
dass das Mundstück umso fester an die Lip-
pen zu pressen sei, je höher man spielen
wolle, kreuzte die ersten drei kleinen Etü-
den in der Arban-Schule an und schickte
uns zum Üben nach Hause.


Mit der Arban-Schule und den darin ent-
haltenen Schwierigkeiten haben Musikstu-
denten zu kämpfen; Sie ist für einen Anfän-
ger viel zu schwer. Und wer auch nur ein
bisschen Ahnung vom Trompetespielen
hat, dem hat es bei dem letzten Satz da
oben wahrscheinlich den Orbicularis oris
schmerzhaft zusammengezogen, den Ring-
muskel des Mundes: Anerkannt ist seit
Langem, dass der Druck auf die Lippen so
gering wie möglich sein soll, damit diese
schwingen können, wenn Luft durch sie
strömt, so wird der Ton erzeugt. Der Fasser
Max hatte seine eigene Methode, er war ja
mit ihr ein guter Trompeter geworden.
Zwei oder drei Jahre lernte ich bei ihm
und machte trotzdem ganz gute Fortschrit-
te. Jahre später traf ich ihn wieder in der
Stadtkapelle der Kreisstadt, in die meine
Familie mittlerweile gezogen war. Einige
Zeit später saß ich neben meinem frühe-
ren Lehrer an der ersten Trompete – und
als wieder einmal das Weihnachtskonzert
anstand, bei dem auch ein Medley der be-
liebtesten Melodien von Verdi aufgeführt

werden sollte, sagte der Dirigent: Wer von
uns beiden denn die Trompeten-Soli spie-
len solle, mögen wir doch bitte untereinan-
der ausmachen, der Fasser und ich. Das
schien den so verärgert zu haben, dass er
diese Probe noch zu Ende spielte, aber da-
nach nie wiederkam.
Die Amati-Trompete, die mir mein
Großvater spendiert hatte, war ein rechter
Scherben und hielt nur ein halbes Jahr –
dann bekam ich eine neue, bessere, weil
meine Eltern meinten, nun wüsste man:
Die Investition würde sich lohnen. Wenige
Jahre später trug ich einen Koffer mit vier
Instrumenten durch die Gegend, einer B-
und einer C-Trompete, einer Piccolo und ei-
nem Flügelhorn, denn nun war ich Musik-
student, mühte mich durch die Arban-
Schule und damit, den Lippendruck zu
reduzieren. Als ich zur Wehrmacht muss-
te, also zur Bundeswehr, durfte ich nicht
zum Musikkorps, sondern musste Sanitä-
ter werden. Das war vielleicht die späte Ra-
che des Max Fasser für die Sache mit den
Verdi-Soli. stephan handel

Als Kind wurde sie oft um ihre Eltern benei-
det. Nicht etwa, weil diese nie bei den El-
ternsprechstunden aufmarschierten und
von den Lehrern irgendwelchen Quatsch
forderten, der für die Schüler Stress zur
Folge gehabt hätte. Auch nicht, weil sie die
Tochter mit sonntäglichen Familienpro-
grammen verschonten und diese deshalb
als Spielkameradin jederzeit zur Verfü-
gung stand. Nein.
Die Eltern standen bei ihren Freunden
deshalb hoch im Kurs, weil Vater und Mut-
ter in ihrer Freizeit Tanzmusik machten –
Schlager, Rock, Pop und dergleichen – und
deshalb als „modern“ galten. Das war im
übrigen auch der Grund, warum sie keine
Zeit fanden für Elternabende und Sonn-
tagsausflüge. Die Mutter sang die Charts,
die damals noch Hitparade hießen, rauf
und runter, der Vater spielte erst Saxofon,
dann Akkordeon und später Orgel in einer
Band namens Schwarzer Panther. Noch
heute ächzt der Keller des elterlichen Hau-
ses unter den Altlasten!
Dass die musikalische Begabung der
Eltern sich auf die Tochter vererbt hatte,
bewies diese anfangs vokal, indem sie,
kaum dass sie sprechen konnte, lauthals ih-
re ersten Liedchen schmetterte. Man muss-
te sie nicht zweimal fragen, ob sie Verwand-
ten und Besuchern etwas vorsingen wollte.
Vater schnallte sich das Akkordeon um,
und schon stimmte das Töchterchen, oft
gemeinsam mit Muttern, populäres Lied-
gut an.
Dann wollte die Tochter auch ein Instru-
ment erlernen. Da der Vater als zweites
Hobby den Kindern des Dorfes Musikun-
terricht erteilte, schien sie leichtes Spiel zu
haben. Doch weit gefehlt! Nicht nur, dass
sie zunächst Akkordeon erlernen musste,
obwohl sie viel lieber an der zweimanuali-
gen Orgel des Vaters aus dem Hause Yama-
ha Platz genommen hätte. Nein, der Vater,
ein absoluter Autodidakt, war der Ansicht,
dass auch sie das Instrument quasi von al-
leine erlernen würde. Mit dem Satz: „Diese
Stücke übst du schön, und wenn du sie
kannst, kommst du wieder“, schickte er sie
nach fünfminütiger Unterweisung regel-
mäßig von dannen. Dank eines gewissen
Talents gelang es ihr dennoch, alsbald eini-
ge Stücke akkurat vorzutragen. Und so-
bald sie ihren Willen durchgesetzt und zur
Orgel gewechselt hatte, tat sie dies auch
mit großer Spielfreude.
Ihrer vermutlich glänzenden Karriere
als Organistin – mittlerweile nannte sie ei-
ne Hammond ihr eigen und zog bei der
Bach’schen Toccata sämtliche Register –
stand im zarten Alter von neun Jahren je-
doch etwas im Wege, das sie noch mehr
reizte, als alle Tasten und Pedale: ein
Schlagzeug. Selbiges hatte ein Bruder ange-
schafft, um seinerseits in die musikali-

schen Fußstapfen der Eltern zu treten. Es
war in dem Raum aufgebaut, in dem die
Musikschüler des Vaters sich zur Probe
trafen. Und so dauerte es nicht lange, und
sie trommelte begeistert die ersten Stücke
mit. Aus den Wander- und Heimatliedern
wurden bald Pop- und Rocksongs, aus
dem Akkordeon- und Gitarrenensemble ei-
ne Band mit Keyboard, Gitarren, Bass und


  • Schlagzeug. Fünf Mädchen, sie trom-
    melnd und singend und mit zwölf die
    Jüngste, die anderen zwei bis drei Jahre
    älter, die Bassistin auch noch des Saxofon-
    und Querflötenspiels mächtig:The Lady-
    Generation– wie war der Name ihnen spä-
    ter peinlich! – war geboren.
    Sie coverten alles, was ihnen unterkam,
    bestritten kleine Gigs in Vereinsheimen
    und traten wie seltene Vögel öfter als Vor-
    gruppe von lokalen – natürlich männli-
    chen! – Bands auf. Doch dann meuterten
    die Freunde der Teenage-Musikerinnen,
    weil sie ihre Freundinnen am Wochenende
    „immer nur“ auf der Bühne zu sehen beka-
    men. Drei Jahre lang hatten sie einen Rie-
    senspaß gehabt. Dann war Schluss. Sie war
    gerade 15. Das alte Ludwig-Schlagzeug hat
    sie noch, ebenso die Hammond.
    Viele Jahre später sang sie in einer
    anderen Band, in der sie auch mal Schlag-
    zeug spielen durfte – und fühlte sich
    wieder wie jener seltene Vogel aus Kinder-
    tagen. evelyn vogel


Es ist im Leben nicht schön, ein Außensei-
ter zu sein. Alle anderen Grundschulkin-
der der unmittelbaren Umgebung, inklusi-
ve des eigenen Bruders, lernten in den
Siebzigerjahren ein ordentliches Instru-
ment, also Blockflöte. Warum die Eltern
bei mir ausgerechnet auf Melodica verfal-
len waren? „Das war eben ein Einsteigerins-
trument“, sagte später der Vater begüti-
gend. „Sehr einfach, da musste man null
Technik haben.“
Null Technik, das klingt zugegebener-
maßen nicht unbedingt nach einem ausge-
prägten Qualitätsmerkmal, weder was das
Instrument noch die Spielerin angeht. Und
so ist es kein Zufall, dass die Erinnerungen
an meine Jahre mit der Melodica eher ein
wenig, nun ja, verwaschen sind. Habe ich
nicht immerhin einmal im Melodica-Duett
mit einer anderen Melodicantin bei einem
Musikabend an der Schule vorgespielt?
Könne nicht sein, sagt der Vater, der nur
noch eine vage Erinnerung an ein „kleines,
blondes Engelchen im grünen Kleidchen“
besitzt, das gar lieblich in die Melodica
trötet.
Vielleicht sollte das heute nicht mehr
ganz so blonde Engelchen erst einmal er-
klären, was eine Melodica überhaupt ist,
schließlich wird nicht jedem das Privileg
zuteil, mit diesem feinen, kleinen Instru-
ment eine innige Verbindung einzugehen.
Die klassische Melodica der Firma Hohner
(die Werbung sei erlaubt, da diese Firma
das Instrument sozusagen erfunden hat)
ist eine Kreuzung aus Klavier und Blasins-
trument; ein schmaler, schwarz glänzen-
der Körper mit weißen und schwarzen Kla-
viertasten, dazu ein Mundstück oder
Schlauch. Wer gleichzeitig hineinbläst und
die eine oder andere Taste drückt, erzeugt
leicht schnarrende Töne, die entfernt an ei-
ne Mundharmonika erinnern. Zwar gibt es
heutzutage auch quietschbunte Melodi-
cas, doch wir Puristen lehnen das natürlich
entschieden ab. Auch in Internet-Ratge-
bern finden sich zuhauf warnende Hinwei-
se auf allerlei bunten Plastikramsch aus
chinesischer Produktion in vielen Spiel-
zeugläden, den es zu meiden gelte.
Schließlich will die Melodica ernst ge-
nommen werden; immerhin wird sie mit-
unter von Pop-Gruppen wieUB40einge-
setzt. „Eine Melodica ist bei korrektem Ge-
brauch durchaus wohlklingend“, heißt es
folgerichtig in einem Blog für Instrumen-
te, und die Musikschule Fröhlich aus Jena
wirbt für frühe Förderung: „Die Kinder er-
leben und entdecken ihre Musikalität, die
in allen Kindern schlummert und geweckt
werden möchte.“ Außerdem lerne man da-
bei die musikalischen Grundlagen wie No-
tenlesen, Rhythmusgefühl, Dur-Tonlei-
tern und – ja, auch das – mehrstimmiges
Spiel in der Gruppe.
All das habe ich tatsächlich gelernt; ich
habe mich redlich bemüht, die Melodica
korrekt zu gebrauchen, anstatt meinem
kleinen Blockflöten-Bruder damit eins
überzubraten; ich habe schmerzlich erfah-
ren dürfen, dass mehrstimmiges Spiel in
der Gruppe nicht zwangsläufig Harmonie
bedeutet. Immerhin war ich nach ein oder
zwei Jahren Melodica (auch da ist die Fami-
lien-Erinnerung verschwommen) reif für
Höheres. Akkordeon-Unterricht wäre jetzt
vielleicht naheliegend gewesen, oder na-
türlich Klavier.
Auf letzteres hoffte der Großvater,
selbst professioneller Musiker, und stellte
als Geschenk ein Klavier und seine künstle-
rische Begleitung in Aussicht. Verschreckt
von der Erwartung jahrelanger Maß-
regelungen durch den didaktisch nicht
eben geschulten Opa entschied ich mich
für das Erlernen der – Gitarre. Auch wenn
ich dafür nicht unbedingt hätte Melodica
üben müssen, so kann ich einige Jahrzehn-
te später doch mit voller Überzeugung
sagen, dass mir meine Zeit mit der Melodi-
ca im Leben nicht nachhaltig geschadet
hat. antje weber

Was dieBiermösl Blosn(links) viele Jahre lang
formidabel auf die Bühne brachte, ist das Ergebnis
von Talent und Fleiß. Doch es muss nicht
immer CD-reif sein,das Schöne an der Hausmusik
ist der Spaß und das Verbindende in kleinem Kreis.
Freilich kann man kathartische Momente und
Glücksgefühle beim Spielen auch allein erleben.
Das gilt für alle Instrumentengruppen,
für das Sousafon, eine rund gebaute Tubaform
(linke Seite groß) ebenso wie für Harfe,
Cello,Zither oder Gitarre.
FOTOS: SCHERL/SÜDDEUTSCHE ZEITUNG PHOTO,
CATHERINA HESS, NIELS P. JØRGENSEN, IMAGO (2)

Fluch und Segen von Pianistenhänden


Wohlmeinende Beschwörungen machen noch keine Klaviervirtuosin


Schmerzhafter Ringmuskel


Bei der Trompete entsteht der Ton durch die Schwingung der Lippen – das ist nicht so einfach


Tasten und Trommeln


Über den Wechsel von einem Instrument zum anderen


Das trötende


Engelchen


Die Melodica weckt im Kind
tief schlummernde Musikalität

Herantasten an die Welt der Musik: Ohne
Begabung, Fleiß und Üben wird’s wohl
nichts mit der Karriere. FOTO: CATHERINA HESS

Das Schlagzeugspiel autodidaktisch zu er-
lernen, gelingt nicht jedem. Möglich ist es
aber durchaus. FOTO: CATHERINA HESS

DEFGH Nr. 66, Woche von 19. bis 25. März 2020 Hausmusik SZEXTRA V2 3

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