Süddeutsche Zeitung - 19.03.2020

(Nancy Kaufman) #1
Peking– Der Konflikt zwischen den USA
und China hat eine neue Eskalationsstufe
erreicht. Nachdem Washington Beschrän-
kungen für chinesische Staats- und Partei-
medien verhängt hat, reagierte China am
Dienstag mit der Ausweisung von mehr als
einem Dutzend amerikanischer Journalis-
ten. Die Maßnahmen betreffen dieNew
York Times, dasWall Street Journalund die
Washington Postund mindestens 13 ihrer
Journalisten. Es ist das erste Mal, dass so
viele Korrespondenten auf einmal ausge-
wiesen werden.
Die Einschränkungen zielen auch auf an-
dere Medienhäuser ab: Drei weitere müs-
sen nun umfangreiche Auskünfte über ihr
operatives Geschäft in China geben. Zu-
dem werde es „reziproke Maßnahmen“ zu
der Behandlung chinesischer Journalisten
in den USA geben, erklärte Peking, die für
alle US-Journalisten gelten sollen. Was das
genau bedeutet, und ob die Berichterstat-
tungsfreiheit für sie weiter eingeschränkt
wird, sagte ein Sprecher des Außenministe-
riums am Mittwoch in Peking nicht. Auch

einen Grund für die Auswahl der drei be-
troffenen Medienhäuser nannte er nicht.
Die Entscheidung ist ein weiteres Zei-
chen für die zunehmende Feindseligkeit
zwischen den USA und China. Seit dem Aus-
bruch des Coronavirus hat die US-Regie-
rung immer wieder scharfe Kritik an Pe-
king geübt. Wiederholt bezeichnete US-
Präsident Donald Trump das Virus als das
„China-Virus“ oder das „Wuhan-Virus“.
Die Weltgesundheitsorganisation hatte
den Namen Sars-Cov-2 gewählt, um eine
geografische Verordnung zu vermeiden. Al-
lerdings hat Peking darüber hinaus in den
vergangenen Wochen auch versucht, Zwei-
fel daran zu säen, dass das Virus überhaupt
zuerst in China ausgebrochen ist. Ein hoch-
rangiger Diplomat äußerte sogar die Ver-
mutung, das US-Militär hätte das Virus
nach Wuhan gebracht. US-Außenminister
Mike Pompeo warf China diese Woche wie-
derum vor, nur von den eigenen Verfehlun-
gen der Anfangszeit ablenken zu wollen
und sprach von einer gezielten Desinfor-
mationskampagne.

Schon vor dem Ausbruch des Coronavi-
rus standen sich beide Länder im Handels-
streit zunehmend misstrauisch gegen-
über. Die USA hatten in den vergangenen
Monaten versucht, andere Länder davon
abzuhalten, mit dem chinesischen Tele-
kommunikationsanbieter Huawei beim
Ausbau des 5G-Netzes zusammenzuarbei-
ten. Gleichzeitig warnte Washington wie-
derholt vor den Gefahren chinesischer

Investitionen und verhängte als Reaktion
auf die massenhafte Internierung von mus-
limischen Minderheiten in Westchina
Sanktionen gegen chinesische Unterneh-
men und Behörden.
Der Streit um Korrespondenten im je-
weils anderen Land begann im Februar, als
die US-Regierung ihr Augenmerk auf Chi-
nas Versuche legte, die öffentliche Mei-

nung in den USA zu seinen Gunsten zu be-
einflussen. Washington zufolge seien Chi-
nas Staatsmedien Werkzeuge der Kommu-
nistischen Partei, keine unabhängigen Be-
richterstatter. Deshalb ließ es den Rechts-
status der Medien ändern. Das zwingt sie,
sich ähnlich wie eine Botschaft als auslän-
dische Vertretung zu registrieren. Dadurch
unterliegen sie stärkerer Kontrollen.
China hatte bereits kurz darauf mit der
Ausweisung von drei Korrespondenten
desWall Street Journalreagiert. Im März
begrenzte Washington dann die zulässige
Zahl der fünf in den USA tätigen chinesi-
schen Medien auf 100 Mitarbeiter. Betrof-
fen waren die Staats- und Parteimedien
China Daily,dieVolkszeitung, die Nachrich-
tenagenturXinhuaundCGTN. Bis zu 60
Journalisten könnten wegen der Entschei-
dung in naher Zukunft gezwungen sein,
das Land verlassen. Zudem erwägte die US-
Regierung, Visa für chinesische Journalis-
ten künftig stärker zeitlich zu begrenzen.
Besonders bemerkenswert an der Ent-
scheidung Pekings in dieser Woche ist

nicht nur die hohe Zahl der ausgewiesenen
Journalisten. In der Ankündigung erklär-
ten die Behörden auch, dass die ausgewie-
senen US-Bürger zukünftig nicht in den
Sonderverwaltungszonen Hongkong und
Macao arbeiten dürfen. Bisher hatte sich
Peking offiziell nicht in die Vergabe von Ar-
beitsvisa für Journalisten in Hongkong ein-
gemischt. Die Rechtssysteme in Festland-
china und Hongkong sind nach dem Prin-
zip „Ein Land, zwei Systeme“ unabhängig.
Die Einmischung verletzt dieses Prinzip
und würde eine massive Einschränkung
der Pressefreiheit in Hongkong bedeuten.
In den vergangenen Jahren hat sich die
Lage für ausländische Journalisten in Fest-
landchina deutlich verschlechtert. Beson-
ders die Vergabe von Visa wird zunehmend
als Druckmittel verwendet, um kritische
Berichterstattung zu verhindern, wie es in
einem im März erschienen Bericht des
Journalistenverbands FCCC in Peking
heißt. Im internationalen Vergleich steht
China bei der Pressefreiheit auf Platz 177
von 180. lea deuber

München– Viele Niederländer mögen sich
in diesen Tagen wie unfreiwillige Teilneh-
mer eines hochriskanten Experiments füh-
len. Denn ihre Regierung macht es bei der
Bekämpfung des Coronavirus anders als
die anderen. Sie hängt offiziell der Theorie
der „Herden“- oder „Gruppenimmunität“
an. Demnach soll sich der widerstandsfähi-
ge Teil der Bevölkerung möglichst umfas-
send anstecken, um dann eine Art „Schutz-
mauer“ für die Alten und Schwachen zu bil-
den. „Wir können die Ausbreitung des Vi-
rus verlangsamen und gleichzeitig eine
kontrollierte Gruppenimmunität aufbau-
en“, sagte Premier Mark Rutte am Montag
in seiner Ansprache an die Nation.
Das Konzept stammt aus Großbritanni-
en, Patrick Vallance, der wissenschaftliche
Berater der britischen Regierung, vertritt
es energisch. Auch Premier Boris Johnson
hing ihm zunächst an, ist nach massiver
Kritik aber auf Distanz gegangen. Rutte
hingegen stellt die Idee als herrschende
wissenschaftliche Meinung dar, was allen-
falls für den Kreis seiner Berater zutrifft.
Als stärkster Befürworter gilt Jaap van Dis-
sel, oberster Virologe am Reichsinstitut für
Volksgesundheit und Umwelt. „Der Gedan-
ke ist: Wir wollen das Virus kontrolliert un-
ter jenen sich verbreiten lassen, die damit
wenig Probleme haben“, sagte van Dissel
im Fernsehen.
Die konkrete Folge ist, dass die Nieder-
lande laschere Maßnahmen verfügen als
die Nachbarn und sich mehr oder weniger
auf „nudging“ beschränken, also Appelle.
Mehr als 100 Menschen sollen sich nicht
versammeln, Bars und Restaurants müs-
sen schließen, man fordert zum Händewa-
schen auf. Aber: keine Ausgangssperren
oder Ähnliches. Den Plan, auch Schulen of-
fen zu lassen, musste die Regierung am Wo-
chenende nach Kritik schnell fallenlassen.
Die Weltgesundheitsorganisation WHO
hält den Ansatz für gefährlich. Zum einen
beruht er auf der Annahme, dass infizierte
Patienten nach der Genesung immun sind.
Das ist noch nicht erwiesen. „Wir wissen

nicht genug über die Logik dieses Virus“,
sagt WHO-Sprecherin Margaret Harris.
Zum anderen könnte die Lage in den Kran-
kenhäusern ohne gravierende Maßnah-
men außer Kontrolle geraten. Die Nieder-
lande haben derzeit etwas mehr als 1000 In-
tensivbetten bei einer Bevölkerung von
17 Millionen (Deutschland hat rund 28 000
Intensivbetten). Es könne zu „italieni-
schen Zuständen“ kommen, warnt Mikro-
biologe Roel Coutinho. Für den Aufbau von
Gruppenimmunität müssten mindestens
60 Prozent infiziert sein. Immunologen er-
rechnen daraus die Zahl von 40 000 bis
80 000 niederländischen Corona-Toten.
Mit der Idee der Herdenimmunität will
der Rechtsliberale Rutte monatelange Aus-
gangsbeschränkungen vermeiden, vor al-
lem aber die wirtschaftlichen Kosten der
Krise eindämmen. Das kommt gut an in ei-

nem Land, das wie Großbritannien eher uti-
litaristisch-pragmatisch denkt. Der Preis
dafür, einige alte Menschen vor frühzeiti-
gem Tod zu bewahren, sei außerordentlich
hoch, sagte der Risiko-Experte Ira Helsloot
in derVolkskrant:„In den Niederlanden
gilt die Faustregel: Eine Investition von
60 000 Euro für ein gewonnenes gesundes
Lebensjahr ist in Ordnung. Und wenn es
teurer wird? Dann sind die Kosten größer
als der Nutzen, einfach weil der Gesund-
heitszugewinn vergleichsweise gering ist.“
Das Problem ist auch politisch relevant.
Denn während Vertreter anderer Parteien
Rutte loben und es auch in den öffentlich-
rechtlichen Medien und den großen Zeitun-
gen überraschend ruhig bleibt, kommt
ernsthafte Kritik nur von Rechtsaußen: in
Gestalt des Islamkritikers Geert Wilders
und des Nationalisten Thierry Baudet.
„Wir müssen sofort aufhören mit der wahn-
sinnig schlechten Idee der Gruppenimmu-
nität“, twitterte Wilders am Mittwoch. „Sie
führt zu vielen, vielen Kranken und Toten.“
Auch Baudet ruft eindringlich zur Um-
kehr auf und sieht das Land in einer „Füh-
rungskrise“. Zwar hat es einen üblen Beige-
schmack, wenn er – als überzeugter Leug-
ner des Klimawandels, der wissenschaftli-
che Autorität sonst nach reinem Gutdün-
ken zitiert – auf zweifelnde US-Experten
und einen Artikel in der liberalenWashing-
ton Postverweist. Oder wenn er – als Ultra-
nationalist, der den Austritt aus der EU for-
dert – warnt, „dass die Niederlande inter-
national isoliert sein könnten, weil wir uns
als eines von wenigen Ländern vorab auf
Gruppenimmunität festlegen und damit
langfristig ein Brandherd bleiben“.
Langfristig – oder eher bald – könnte
die Realität den Warnern aber Recht ge-
ben. Dann müsste die Regierung einen Irr-
tum eingestehen, der möglicherweise zu
Tausenden vermeidbaren Toten geführt
hat. Die politischen Folgen würden sich
nicht auf ein paar zusätzliche Wählerstim-
men für Rechtsaußen beschränken.
thomas kirchner

karoline beisel, florian hassel,
alexander mühlauer
und peter münch

Warschau/Wien/Brüssel/London–Am
meisten Glück hatten Esten, Letten und Li-
tauer: Die Autobahnen durch Deutschland
und Polen sind der einzige Landweg aus
Westeuropa in ihre Heimat. Doch nach-
dem Polen am Sonntag seine Grenzen für
alle Ausländer geschlossen hatte, die nicht
in Polen leben, saßen Tausende baltische
Bürger allein beim Grenzübergang in
Frankfurt/Oder fest. Die Lösung kam erst,
nachdem sie eine Fahrbahn blockiert und
ihre Regierungen in Warschau interveniert
hatten: Und so eskortierte Polens Auto-
bahnpolizei baltische Busse und Sammel-
taxis in nächtlichen Konvois durchs Land
bis an dessen Ostgrenze. Baltischen Auto-
fahrern empfahlen die Polen, künftig Auto-
fähren von deutschen Häfen zu benutzen.
Der geglückte Baltentransfer war die
Ausnahme von der Regel: An allen polni-
schen Außengrenzen herrschen nach der
Schließung von zunächst 58 Übergängen
und rigiden Kontrollen an den noch offe-
nen Übergängen Chaos und lange Wartezei-
ten – auch für heimkehrende Polen. Bei
Görlitz wuchs der Stau am Mittwoch auf 65
Kilometer mit mindestens 30Stunden War-
tezeit. DRK, THW, Polizei und am Abend so-
gar die Bundeswehr versorgten Festsitzen-
de mit Wasser, warmen Mahlzeiten und De-
cken. Am Mittwoch öffnete Polen zehn wei-
tere Grenzübergänge für den Autoverkehr;
spürbare Entspannung aber blieb aus –
auch an der Grenze zu Tschechien.
Der polnische Bürgermeister der
polnisch-tschechischen Doppelstadt Cies-
zyn/ Český Těšín appellierte, eine ge-
schlossene Brücke wieder zu öffnen, nach-
dem Pendler bis zu 20 Stunden warten
mussten. Hunderttausende Polen arbeiten
im Ausland, Zehntausende als Pendler
zwischen ihrer Heimat und Deutschland
oder Tschechien. Von der sonst für Heim-
kehrer geltenden 14-Tages-Quarantäne

sind Pendler ausgeschlossen, ebenso wie
Lkw-Fahrer mit Waren. Im Stau hilft ihnen
aber auch das nichts. Betroffen sind auch
in der Exklave Kaliningrad lebende Rus-
sen: Sie können sich nur noch mit einem
durch Weißrussland führenden Sonder-
zug oder per Flugzeug via Moskau und Pe-
tersburg in und aus ihrer Heimat bewegen.

Noch strengere Regeln als in Polen gel-
ten in Ungarn, nachdem Ministerpräsi-
dent Viktor Orbán am Wochenende den
Notstand ausrief und danach nur noch sei-
ne Staatsbürger einreisen lassen wollte.
Und so waren die Staus am Grenzübergang
Nickelsdorf zwischen Österreich und Un-
garn am Mittwoch auf beiden Seiten bis zu

50 Kilometer lang. Es strandeten vor allem
Bulgaren, Rumänen, Serben und Ukrainer
auf der Durchreise. Am Mittwochmittag
öffnete Ungarn die Grenze bis zum Don-
nerstag um fünf Uhr früh für Bulgaren, Ru-
mänen und Serben. Danach soll es nur
noch nächtliche Korridore für Durchreisen
nach Bulgarien und Serbien geben. Für

Ukrainer würden andere Routen gesucht,
erklärte das Wiener Innenministerium.
Grenzkontrollen sind zwar Sache der EU-
Länder. Doch nach dem Schengen-Abkom-
men prüft die EU-Kommission Maßnah-
men auf ihre Rechtmäßigkeit. Vorgehen
will Brüssel gegen Regelverstöße der Mit-
gliedsstaaten jetzt nicht. „Wenn wir wol-
len, dass sich die Situation schnell verbes-
sert, geht das nicht über Vertragsverlet-
zungsverfahren, sondern nur über Zusam-
menarbeit“, so ein Sprecher. Bisher wer-
den am Montag vorgestellte und tags dar-
auf per Videokonferenz abgestimmte EU-
Leitlinien etwa für Korridore für den Güter-
transport oder Durchreisegenehmigun-
gen für heimkehrende EU-Bürger in der
Praxis oft nicht umgesetzt.

Offiziell hofft Brüssel, dass EU-Länder,
die teils rigide Grenzkontrollen und Teil-
schließungen eingeführt haben (etwa
Deutschland und Österreich, Schweiz und
Polen, Ungarn und Tschechien, Dänemark
und Norwegen, Spanien und Portugal, die
Slowakei, Slowenien, Kroatien, Rumänien,
Bulgarien) diese nach dem am Dienstag in
Kraft getretenen 30-Tage-Einreisestopp
für Nicht-EU-Bürger zurückfahren. Doch
Kommissionspräsidentin Ursula von der
Leyen war nicht sehr hoffnungsvoll, dass
das grenzenlose Europa schnell zurück-
kehrt. Es werde „eine Weile“ dauern.
Das Vereinigte Königreich ist zwar nicht
mehr EU-Mitglied, doch in der Übergangs-
phase genießen britische Staatsbürger
noch dieselben Rechte wie EU-Bürger. Wie
Irland gehört Großbritannien nicht zum
Schengenraum und kontrolliert ohnehin
die Pässe von Reisenden. Beide Staaten
lehnten es nach der Videoschalte der
Staats- und Regierungschefs ab, sich den
EU-Krisenleitlinien anzuschließen.

München/London –Nazanin Zaghari-Rat-
cliffe ist eine der berühmtesten Gefange-
nen Großbritanniens. Dabei sitzt sie nicht
auf der britischen Insel im Gefängnis, son-
dern war – bis Dienstag zumindest – im be-
rüchtigten Evin-Gefängnis in Teheran ein-
gesperrt. Jetzt wurde sie entlassen, vorerst
für zwei Wochen, und muss eine Fußfessel
tragen. Zaghari-Ratcliffe stammt aus Iran,
ist mit einem Briten verheiratet, hat die
doppelte Staatsbürgerschaft und eine klei-
ne Tochter. 2016 war sie zu fünf Jahren we-
gen Spionage verurteilt worden – ein Vor-
wurf, den sie verzweifelt zurückweist. Sie
hatte für die Thomson-Reuters-Stiftung
gearbeitet und war bei einem Besuch in Te-
heran mit der Begründung verhaftet wor-
den, sie paktiere mit Kräften, die den Um-
sturz planten. Ihr Mann Richard Ratcliffe
und sie argumentieren, sie sei eine politi-
sche Gefangene und werde als Faustpfand
festgehalten, um eine Schuld von 400Milli-
onen Pfund vom Königreich einzutreiben.


Sie sei überwältigt vor Freude, ließ die
42-Jährige nun wissen, auch wenn ihre Ent-
lassung einem Hausarrest gleiche. Nach-
dem sie zuletzt an Panikattacken und De-
pressionen litt, sei ihr die Zeit bei ihren El-
tern gleichwohl hochwillkommen. Zaghari-
Ratcliffe kam mit etwa 85 000 Häftlingen
frei, weil das Regime die Corona-Krise
nicht in den Griff bekommt und Massenin-
fektionen in den überfüllten Gefängnissen
befürchtet. Im Gespräch mit ihrem Mann
in Großbritannien sagte Zaghari-Ratcliff,
sie hoffe, dies sei der Beginn einer länge-
ren Phase der Freiheit.
Ihr Fall ist in vieler Hinsicht ungewöhn-
lich. Die britische Regierung verhandelte
schon Jahre vergeblich über ihre Freilas-
sung, als ihr Schicksal eine dramatische
Wende nahm: Der damalige Außenminis-
ter Boris Johnson erweckte mit einer unbe-
dachten Bemerkung den Eindruck, an den
Spionagevorwürfen des iranischen Re-
gimes könne etwas dran sein. Zaghari-Rat-
cliffe habe, so Johnson, in Iran „Journalis-
mus unterrichtet“ – was sie immer demen-
tiert hatte. Vor einem iranischen Gericht
wurde dies als Schuldbeweis gewertet, ei-
ne frühzeitige Entlassung ausgeschlossen.
Und so wird Zaghari-Ratcliffe nach jetzi-
gem Stand ins Gefängnis zurückkehren
müssen, wenn Iran in Sachen Virus Entwar-
nung gibt. Wie bald das der Fall sein wird,
hängt von der weiteren Ausbreitung des Er-
regers ab – und darüber gehen die Ansich-
ten extrem auseinander. Offiziell hat Iran
derzeit 17 361 Erkrankte und 1135 Tote ge-
meldet – nach Ansicht der Weltgesund-
heitsorganisation könnten die tatsächli-
chen Zahlen aber fünfmal höher liegen.
Und Anlass zur Sorge geben Projektionen
der angesehenen Scharif-Universität in Te-
heran, deren Wissenschaftler mögliche
Szenarien für den weiteren Verlauf der Pan-
demie errechnet haben. In der bestmögli-
chen Variante wäre der Höhepunkt der Kri-
se schon kommende Woche erreicht, die


Zahl der Toten würde in diesem Fall bei
12000 Menschen liegen. Dieses Szenario
setzt aber eine gut funktionierende medizi-
nische Versorgung und strikte Ausgangs-
sperren voraus – und ist somit absolut un-
realistisch. Irans Gesundheitssektor lag
wegen der US-Sanktionen und Korruption
schon vor der Pandemie am Boden, seither
hat sich vieles verschlechtert. Auch, weil
die Regierung in einem Kompetenzstreit
verstrickt ist: Am Wochenende übertrug
der Oberste Führer Ali Chamenei die Be-
kämpfung des Virus der Armee, die nicht
der Regierung, sondern ihm unterstellt ist.
Dann änderte er seine Meinung und sagte,
die Streitkräfte sollten die Weisungen von
Präsident Hassan Rohani befolgen. Rohani
weigert sich, Quarantäne-Regelungen zu
erlassen. Zum einen, weil sie kaum durch-
zusetzen wären, zum anderen, weil der
sanktionsgeschwächten Wirtschaft die Ver-
sorgung zusammenbrechen würde.
Daher ist wohl das mittlere Szenario der
Teheraner Wissenschaftler wahrscheinli-
cher, das von 300000 Infizierten und
110000 Toten ausgeht – oder gar das pessi-
mistische, nachdem der Höhepunkt der In-
fektionswelle erst Ende Mai erreicht wird.
Die Zahl der möglichen Opfer wäre dann
apokalyptisch: Die Teheraner Wissen-
schaftler nennen eine Zahl von 3,5 Millio-
nen Toten. moritz baumstieger,
cathrin kahlweit


Washington– Bernie Sanders überlegt of-
fenbar: Der Senator und demokratische
US-Präsidentschaftsbewerber kündigte
am Mittwoch an, in den kommenden Wo-
chen eine „Lagebeurteilung“ vorzuneh-
men. Die Lage ist nach den Vorwahlen in
drei Bundesstaaten am Dienstag jedoch so,
dass die Frage nicht mehr ist, ob der 78-Jäh-
rige seine Präsidentschaftskampagne be-
endet, sondern nur noch wann.
Es ist eines der spektakulärsten Come-
backs der jüngeren US-Politgeschichte,
das sich am Dienstag fortsetzte: Joe Biden
schlug seinen Gegner Sanders in den Bun-
desstaaten Florida, Illinois und Arizona
mit Margen, die keine Zweifel mehr lassen,
dass er der Demokrat sein wird, der im
Herbst gegen Donald Trump antritt.

In Florida, dem wichtigsten Bundes-
staat dieses Wahltags, holte Biden etwa
62Prozent der Stimmen, Sanders bloß 23.
Der frühere Vizepräsident kommt nun
nach einer Zählung der Nachrichtenagen-
tur AP auf 1121 Delegierte, Bernie Sanders
auf 839. Der Linkspolitiker ist damit in ei-
nen Rückstand geraten, den er in den ver-
bleibenden Vorwahlen praktisch nicht
mehr aufholen kann.
Es braucht einiges, um einen solchen
Wahltag wie den Dienstag zu einer Randno-
tiz zu machen, zum fast schon lästigen Zwi-
schenakt in einem großen Drama. Doch ge-
nau so verhielt es sich jetzt mit der jüngs-
ten Runde der demokratischen Vorwahlen
um die US-Präsidentschaftskandidatur.
Beim Fernsehsender MSNBC, dem inoffizi-
ellen Haussender vieler Demokraten, dis-
kutierten die Moderatoren mit Wissen-
schaftlern die verschiedenen Szenarien
zur Ausbreitung des Coronavirus. Sie schal-
teten zu Korrespondenten, die vor ausge-
räumten Regalen in einem Supermarkt

standen. Und als sie dann doch mal noch
ein Interview mit einem Politiker ausstrahl-
ten, war es ein Bürgermeister, der sich mit
dem Virus angesteckt hatte. „Beispiellos!“,
riefen die Moderatoren mehr als einmal an
diesem Abend, und sie meinten dabei stets
die Pandemie und nicht Bidens Erfolg.
Die Entscheidung bei Demokraten ist al-
so gefallen. Das war auch die Botschaft, die
Biden verbreitete. Er wandte sich in einem
leicht verpixelten Livestream, der aus sei-
nem Haus in Delaware übertragen wurde,
an die Amerikaner. Es war keine Siegesre-
de, die der 77-Jährige da hielt, im Gegen-
teil: Der Hintergrund war dunkel, der Ton
ernsthaft.
Über die Vorwahlen sagte Biden fast
nichts, stattdessen sprach er sehr viel über
die Corona-Krise. Er sprach den Opfern
sein Beileid aus, dankte den Angestellten
des Gesundheitswesens und rief die Ameri-
kaner auf, die Handlungsanweisungen der
Behörden zu befolgen – ganz so, als wäre er
schon Präsident. Und wie schon vergange-
ne Woche umwarb er die Anhänger von sei-
ne Konkurrenten Sanders, die er für ihre
Leidenschaft pries. „Ich höre euch“, sagte
Biden.
Ob allerdings auch Sanders die Signale
hörte, war in der Wahlnacht nicht klar. Der
Senator aus Vermont verzichtete auf einen
öffentlichen Auftritt. In den Medien deute-
ten seine Verbündeten an, dass er trotz sei-
ner aussichtslosen Position noch eine Wei-
le im Rennen verbleiben könnte, um weiter
Delegierte zu sammeln. Denn damit habe
Sanders’ linke Bewegung am Nominie-
rungsparteitag der Demokraten mehr Ein-
fluss, wenn es darum gehe, den Moderaten
Biden zu programmatischen oder personel-
len Zugeständnissen zu zwingen.
Doch damit steigt eben auch das Risiko,
dass sich die Demokraten weiterhin einen
Flügelkampf liefern, der im Hinblick auf
die Hauptwahl gegen den Republikaner
und US-Präsidenten Donald Trump tiefe
Narben hinterlassen könnte.
alan cassidy

Ziemlich beste Feinde


Auch in Zeiten einer globalen Epidemie überziehen China und die USA einander mit Vorwürfen. Nun weist Peking 13 US-Journalisten aus – so viele wie nochnie


Das Hochrisiko-Experiment


Die niederländische Regierung will, dass sich viele Menschen mit dem Virus infizieren


Trumps Gegner steht fest


Demokrat Joe Biden setzt Siegesserie bei den US-Vorwahlen fort


DEFGH Nr. 66, Donnerstag, 19. März 2020 (^) POLITIK HF3 7
Es staut sich an den Grenzen: Lastwagen im österreichischen Bruck an nahe dem Übergang nach Ungarn. Die Regierung
in Budapest hatte beschlossen, nur noch eigenen Staatsbürger einreisen lassen. FOTO: RONALD ZAK/AP/DPA
Ursula von der Leyen
ist allerdings nur mittelmäßig
optimistisch, dass es schnell geht
Premier Mark Rutte muss sich von den
Rechtspopulisten viel Kritik anhören.AFP
Die Visa-Vergabe gilt als
Druckmittel, um kritische
Berichterstattung zu verhindern
Bernie Sanders wartet immer
noch ab mit seinem Rückzug.
Eine riskante Taktik
Hausarrest statt Gefängnis: Die
prominente politische Gefangene
hofft, dass dies lange dauert
30 Stunden Warten
Die Grenzschließungen wegen der Corona-Krise treffen an manchen Punkten besonders diejenigen hart, die nur durch Polen oder Ungarn
in ihre Heimat gelangen können. Brüssel hofft, dass die Einreisebeschränkung für Nicht-EU-Bürger die Lage zwischen EU-Ländern entspannt
Nazanin Zaghari-Ratcliffe ist in Teheran
zu fünf Jahren Haft verurteilt. FOTO: AFP
Halbe Freiheit und
biblische Szenarien
In Iran schließen Prognosen
Millionen Corona-Tote nicht aus

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