Süddeutsche Zeitung - 19.03.2020

(Nancy Kaufman) #1
Es war ein weiter Weg für die 1000 Kühe
und Ochsen, die vor einigen Tagen am
Hafen der angolanischen Hauptstadt Lu-
anda ankamen. Normalerweise legen
hier vor allem Tanker an, die mit Rohöl
befüllt werden. Diesmal aber machte ein
Transportschiff voller Kühe fest, die aus
Tschad kommen, einem Land, das selbst
keinen Zugang zum Meer hat. Also muss-
te die Herde viele Hundert Kilometer
nach Nigeria getrieben werden, wo sie
dann das Schiff bestieg.
Angolanische Staatsmedien feierten
die Ankunft nach langer Reise, die die
Tiere offenbar in gutem Zustand hinter
sich gebracht hatten. Weitere Schiffe
werden folgen, denn die 1000 Tiere wa-
ren nur die erste Rate einer ungewöhnli-
chen Finanztransaktion: Die tschadi-
sche Regierung zahlt in dieser Form ei-
nen Kredit über 100 Millionen US-Dollar
zurück, der ihr 2017 gewährt wurde.
Aus Sicht der beiden Partner hat der
ungewöhnliche Deal nur Vorteile.
Tschad hat wenig Devisen und einen
überschaubaren Haushalt, dafür aber
sehr viele Kühe, knapp 100 Millionen
Rinder sollen es sein, bei 14 Millionen
Einwohnern. Die Tiere machen etwa ein
Drittel der Exporte des Landes aus. Ango-
la auf der anderen Seite hat riesige Wei-
deflächen, aber nach Jahren wiederhol-
ter Dürre kaum noch Tiere, weshalb es
dem Tausch zustimmte.

Über eine Dauer von zehn Jahren sol-
len 75 000 Tiere von Tschad nach Angola
wechseln, ein Tier hat damit einen Wert
von 1333 Dollar. Für Tschad ist das ein
ziemlich guter Preis, auf den Viehmärk-
ten kostet ein Tier zwischen 400 und
1000 Dollar. Für Angola ist es wohl den-
noch billiger, als die teuren Tiere aus
Südafrika oder Namibia zu importieren.

Der Kuhhandel mag aus europäischer
Sicht ungewöhnlich erscheinen, aus afri-
kanischer ist er es nicht. Kühe und andere
Tiere sind in vielen Gesellschaften nichts
anderes als eine Währung, die zudem sta-
biler ist als die offizielle. Mit Kühen wird
die Mitgift bezahlt, sie dienen als Alters-
vorsorge und bestimmen die Stellung in
der Gesellschaft. Nur gegessen werden
sie selten, sie sind viel zu wertvoll.
Viele Menschen in Tschad leben als No-
maden oder Halbnomaden, aber auch die
Leute in den Städten halten sich ein paar
Tiere. In den vergangenen Jahren ist das
Leben der Viehzüchter schwieriger gewor-
den, es kommt immer wieder zu Konflik-
ten um Land, das auch Farmer für sich be-
anspruchen. Nicht selten enden diese töd-
lich. bernd dörries

Sarah Kern, 51, Designerin, nimmt die
Trennung von ihrem Freund, dem Bera-
ter Tobias Pankow, 34, mit philosophi-
scher Gelassenheit. „Vieles im Leben ist
nicht für die Ewigkeit“, sagte sie der
Gala. „Aber es ist doch schön, wenn die
Seele in Ewigkeit davon beflügelt bleibt.“


Lady Gaga, 33, US-Sängerin, kennt ein
gutes Mittel gegen den Single-Blues:
therapeutisches Songschreiben. In ei-
nem Radiointerview sagte die Musike-
rin, sie habe sich beim Schreiben ihres
Hits „Stupid Love“ gefragt: „Wie kann
ich mich von all den Dingen befreien, die
mich angekettet und verhindert haben,
dass ich frei bin und
mich verliebe?“ Das
habe sie „offen ge-
macht für einen
Zustand, in dem ich
mich verlieben könn-
te“. Im Februar hatte
sie sich erstmals mit
ihrem neuen Freund
gezeigt, dem Unter-
nehmer Michael
Polansky, 42.
FOTO: REUTERS


Günther Jauch, 63, Fernsehmoderator,
war früher ein Kontrollfreak. In seiner
RTL-Quizsendung „Wer wird Millio-
när?“ plauderte er über das Leben in
seiner früheren Studenten-WG. Es habe
einen detaillierten Putzplan gegeben, er
und seine Mitbewohner hätten einander
bei dessen Einhaltung „nordkoreanisch
anmutend“ überwacht. Das habe die
schöne Folge gehabt, dass der gelegentli-
che Damenbesuch nicht gleich wieder
die Flucht ergriff – „zumindest nicht aus
hygienischen Gründen“.


Jérôme Boateng, 31, Fußballer, dantelt
mit Klopapier. Ein Instagram-Video
zeigt den Innenverteidiger des FC Bay-
ern, wie er eine Klorolle erst mit den
Füßen und Knien jongliert, sie hoch-
kickt und dann mit dem Nacken auf-
fängt. „Ich sollte in
diesen Tagen die
Hymne der Champi-
ons League hören“,
schrieb er in Anspie-
lung auf ausgefalle-
ne Spiele. „Stattdes-
sen jongliere ich
Toilettenpapier.“
Am Ende fordert er
andere Fußballer
auf, es ihm gleichzu-
tun.FOTO: GETTY


Tom Hanks, 63, US-Schauspieler, ver-
schafft dem zurzeit millionenfach für
Social-Media-Scherze missbrauchten
Corona-Bier Gesellschaft. Der infizierte
Schauspieler, der mit seiner Frau in
Australien in Heimquarantäne ausharrt,
postete auf Instagram ein Foto von sei-
ner Uralt-Schreibmaschine – die ausge-
rechnet von der Marke „Corona“ ist.


interview: mareen linnartz

V


or 20 Jahren lebte Marc Wallert in Lu-
xemburg als Unternehmensberater,
reiste um die Welt, hatte mal Bezie-
hungen und dann auch wieder nicht. 26
Jahre war er damals alt, sein unstetes Le-
ben, das von außen so erfolgreich aussah,
erfüllte ihn nicht. Ein Anruf seiner Eltern
klang wie eine gute Möglichkeit, mal in Ru-
he über die Zukunft nachdenken zu kön-
nen: ob er nicht Lust hätte, sie bei einem
Tauchurlaub auf Malaysia zu begleiten.
Auf eine Insel, Sipadan, deren Beschrei-
bung nach Paradies klang: Palmen,
Strand, unfassbare Unterwasserwelt.
Marc Wallert und seine Eltern wurden dort
im März 2000 von Mitgliedern der islamis-
tischen Terrorgruppe Abu Sayyaf entführt
und auf der philippinischen Insel Jolo zu-
sammen mit 18 weiteren Geiseln mehr als
vier Monate lang bis zu ihrer Freilassung
gefangen gehalten. Vater Werner Wallert,
Geografielehrer in Göttingen, veröffent-
lichte anhand seiner Tagebucheintragun-
gen kurz darauf ein Buch: „Horror im Tro-
penparadies“. Nun beschreibt sein Sohn,
der inzwischen als Vortragsredner und
Trainer für Resilienz arbeitet, wie ihn die
Entführung bis heute geprägt hat: „Stark
durch Krisen. Von der Kunst, nicht den
Kopf zu verlieren“ (Econ-Verlag).

SZ: Herr Wallert, Ihr Buchtitel klingt wie
ein Appell für die Corona-Krise.
Marc Wallert: Ja, leider. Und viele fragen
sich jetzt: Wie schaffe ich es, da psychisch
gut durchzukommen? Ich habe mich im
Rückblick auf meine Entführung oft ge-
fragt, was mir geholfen hat. Es hilft vor al-
lem eine Zweigleisigkeit im Denken.

Was meinen Sie damit?
Sich auf der einen Seite nicht in einem Ge-
fühl von Angst zu verlieren, das ist schäd-
lich, auch für das Immunsystem. Und auf
der anderen Seite sich auch nicht alles
schönzureden. Man sollte also zum einen
versuchen, sich ein gutes Gefühl zu vermit-
teln: Ich werde mich nicht anstecken, und
wenn doch, dann wird es mich nicht
schlimm erwischen.

Ist das nicht etwas simpel, zu sagen: Ver-
mittelt euch mal ein gutes Gefühl?
Dem einen fällt es leichter, dem anderen
schwerer, aber: Das ist trainierbar. Als wir
gefangen waren, haben wir das intuitiv ge-
macht. Wir saßen zusammen und haben
uns gefragt: Was ist positiv? Wir sind am
Leben, es wird über uns verhandelt und für
den Tag haben wir genug zu trinken und zu
essen. Das ist jetzt nichts, wo man eine Fe-
te feiert, aber schon mal was. Und wie ge-
sagt, Zweigleisigkeit: Es bedeutet natür-
lich trotzdem, realistisch zu handeln.

Was heißt das im aktuellen Fall?
Die Vorgaben, die die Regierung und die Be-
hörden jetzt machen, wirklich befolgen.
Hamstern sollte man natürlich nicht, aber
Notfallvorräte schon anlegen, wenn man
sie nicht sowieso schon hat. Das ist ja auch
eine Empfehlung der Bundesregierung
seit Jahren, die ich selbst auch befolge.
Nicht aus Panik. Aber ich installiere mir ja
auch keine Rauchmelder zu Hause, um mir
Angst zu machen, sondern damit ich ruhig
schlafen kann und weiß: Ich bin gerüstet.

Sie sind heute, nachdem Sie viele Jahre
als Führungskraft gearbeitet haben, Vor-
tragsredner und Resilienztrainer.
Ja, ich halte Vorträge, gebe Trainings, um
anderen zu helfen, durch eine Krise zu ge-
hen und gestärkt aus ihr herauszukom-
men. Resilienz ist die innere Stärke bei Be-
lastungen von außen. Wie anpassungsfä-
hig ist ein System, das unter Stress steht?

In Ihrem Buch schreiben Sie, Ihre Resili-
enzerkenntnisse aus der Erfahrung, ent-

führt worden zu sein, seien auch auf an-
dere Systeme anwendbar, zum Beispiel
auf die Wirtschaft. Lassen sie sich auch
auf ein ganzes Land übertragen?
Natürlich nicht eins zu eins. Einmal sind es
21 Menschen und jetzt sind es 80 Millio-
nen. Aber es gibt Parallelen. Menschen be-
finden sich in einer unsicheren Lage, weil
noch nicht klar ist, was der Sachstand ist,
und diese Lage ist potenziell gefährlich
und kann im Einzelfall tödlich enden.

Gibt es Gesellschaften oder Kulturen,
die resilienter sind als andere?
Die Amerikaner sind sehr gut darin, Auf-
bauhilfe zu leisten, nach vorne zu schauen.
Da ist ein positiver Umgang mit Krisen in
der Kultur verankert, was möglicherweise
darauf zurückgeht, dass sie mit der Erobe-
rung des Kontinents immer auch gewohnt
waren, Rückschläge zu erleiden und dar-
aus zu lernen. In den USA darf man in sei-
nem Lebenslauf Brüche haben. In Sachen
Scheiterkultur können wir von den Ameri-
kanern viel lernen.

Was könnte man von uns Deutschen ler-
nen?
Wir haben eine Tüftlerkultur. Unsere Stär-
ke liegt unter anderem darin, dass wir uns
sehr genau mit Dingen beschäftigen und
da im Zweifelsfall sehr präzise Notfallplä-
ne haben. Letztlich haben wir auch ein sehr
umfassendes Versicherungssystem. Das
ist auch eine Form von Resilienz: sich ein
Netzwerk aufzubauen, das einen im Not-
fall trägt. Das kann neben sozialen Verbin-
dungen eben auch sein, über Versicherun-
gen oder Rücklagen zu verfügen.

Sie waren damals eine wild zusammen-
gewürfelte Gruppe aus sieben Ländern,
die im Dschungel auf einer Insel unter
sehr widrigen Bedingungen zusammen-
gepfercht war. Wie haben Sie es ge-
schafft, nicht durchzudrehen?

Im Rückblick habe ich festgestellt: Wir ha-
ben die vier Phasen durchlaufen, die in der
Arbeitspsychologie als typische Phasen
des Teambuildings beschrieben werden.
Die erste Phase nennt man Forming: Man
beschnuppert sich, lernt sich kennen. Das
ist meistens eine recht freundliche Phase.
Aber natürlich sind in jeder Gruppe unter-
schiedliche Charaktere, es entstehen Kon-
flikte, und so tritt man in die zweite Phase
ein, die Storming-Phase. Da tastet man
sich nicht mehr ab, sondern es wird laut.

Wann wurde es in Jolo laut?
Einmal haben wir als Hilfsration Plastiksä-
cke geschickt bekommen, die einen nachts
warm halten, meines Wissens kamen die
von der deutschen Regierung. Die haben
bestimmt mehrere geschickt, aber nur
zwei Stück kamen an. Sollen diese Überle-
benssäcke immer nur zwei nutzen? Oder
schneidet man sie auf und macht daraus
ein Dach, damit mehrere darunter schla-
fen können und Schutz vor dem Regen ha-
ben? Es war schnell geklärt: Wir machen
ein Dach. Aber das reichte nicht für alle.
Wer schläft jetzt im Trockenen? Diejeni-
gen, die die Säcke geschickt bekommen ha-
ben? Die, die das Dach gebaut haben? Oder
die, die vorher in anderen Situationen zu-
rückgesteckt haben? Da wurde es laut.
Aber das ist das Interessante: Am Ende
sind wir in die nächste Phase eingetreten,
die Normierungsphase.

Was ist in der passiert?
In der Not haben wir Regeln gefunden, mit
denen alle leben konnten. Bei dem Dach-
Beispiel war es: Damit alle trocken bleiben
im Monsunregen, müssen wir sitzen. Das
ist eben auch eine wichtige Erkenntnis: In
Krisen hilft, einander beizustehen. Selbst
wenn es ein egoistisches Motiv ist, weil der
Einzelne denkt, nur so könne er überleben.

Jetzt fehlt noch die vierte Phase.
Die nennt man die „Performing“-Phase, in
der jeder herausgefunden hat, wie er sich
am besten in die Gruppe einbringen kann.
Das macht das System stabiler. Wir hatten
eine Französin, Marie, die war sehr gut in
medizinischer Versorgung, und wenn es
darum ging, ein Dach zu bauen gab es zwei
Ingenieure, die das nicht nur machen konn-
ten, sondern die auch uns anleiteten.

Was war Ihre Rolle?
Zum einen die des Helfers, ich habe Marie
assistiert und sie geschützt, indem ich
mich gegenüber den Rebellen als ihr Ver-
lobter ausgab. Und dann war meine Mutter
ja auch phasenweise sehr schwach...

... sie hatte Panikzustände, konnte zwi-
schenzeitlich nicht mehr laufen.
Das hat mich gefordert, aber mir auch
Kraft gegeben. Ich habe etwas Sinnvolles
getan, gehandelt. Das ist wichtig für Resili-
enz: etwas zu tun. Das kann auch Tage-
buchschreiben sein wie bei meinem Vater.
Die andere Rolle, die ich einnahm, war die
des Diplomaten. Ich konnte mich in Eng-
lisch, Deutsch, Französisch unterhalten.
Und ich habe ein beschwichtigendes Natu-
rell und kann bei Konflikten vermitteln.

Und Sie haben Galgenhumor. Oder wie
ist das zu verstehen, dass Sie in Geisel-
haft eine Mensch-ärgere-dich-nicht-Va-
riante entwickelten, die Sie „Happy Hos-
tage“-Spiel nannten?

Bevor man in Todesangst versinkt, die ei-
nen wirklich krank macht, sollte man als ei-
ne der wenigen Handlungsoptionen we-
nigstens noch über die Situation lachen
können. Das löst nicht das Problem, aber
die innere Anspannung. Es darf nur nicht
die Ernsthaftigkeit nehmen.

Ihr Vater hat „Yellow Submarine“ in „We
all live in the jungle of Jolo“ umgedichtet.
Wir konnten nicht schlafen, die Entführer
haben oft aus Spaß geschossen, mitten in
der Nacht, das war unglaublich nervenauf-
reibend. Und dann haben wir gesagt: Jetzt
singen wir zurück. Jetzt machen wir auch
Terror. Das ist leichter, als sich immer wie-
der über den Schuss zu ärgern.

Herr Wallert, die Entführung ist nun 20
Jahre her. Wie blicken Sie heute auf Ihr
früheres Ich zurück?
Die meisten, denen ich von der Entfüh-
rung erzähle, reagieren auf zwei Arten: Sie
denken, ich müsste lebenslang traumati-
siert sein und jeden Tag daran denken. Die
anderen glauben, mich könne nichts er-
schüttern. Beides ist falsch. Ich habe keine
großen Ängste, ich tauche beispielsweise
immer noch. Gleichzeitig bin ich auch er-
schütterbar: Wenige Jahre nach der Freilas-
sung hatte ich ein Burn-out. Was mir fehlte
war eine innere Vision, für die ich im Job
kämpfe. Während der Entführung dage-
gen war klar: Es geht ums Überleben

Sie haben damals im Dschungel eine Bu-
cket-List geschrieben, auf der stand,
was Sie unbedingt im Leben erreichen
wollen: als Pianist in einer Bar spielen, ei-
ne Familie gründen.
Beides ist eingetreten. Wenn ich sagen
müsste, wie mich die Entführung bis heute
prägt, würde ich sagen: Ich habe keine
Angst vor dem Tod mehr. Und ich bin sehr
dankbar. Mir ist ein zweites Leben ge-
schenkt worden.

Der Mensch gewöhnt sich schnell an Aus-
nahmezustände. Im Supermarkt begrü-
ßen sich Bekannte jetzt mit Sicherheitsab-
stand und einem „Na, schon Klopapier ge-
hortet?“ Zum Abschied heißt es: „Bleib ge-
sund!“ Bestimmt nett gemeint, aber Letzte-
res klingt auch ein bisschen wie ein Befehl
oder eine Drohung („Komm mir bloß nicht
zu nahe“). Erst recht, wenn man antwortet:
„Du auch“ – und was soll man auch sonst
darauf antworten?
Derzeit ebenfalls beliebt unter den Coro-
na-Abschiedsgrüßen ist „Halt die Ohren
steif“ – eine Redewendung die von auf-
merksamen Tierohren kommt und im
Home-Office natürlich unabdingbar ist ob
der lauernden Gefahren zwischen Teetas-
se und Laptopkabel. Konjunktur hat gera-
de auch: „Pass auf dich auf.“ Das hat man
schon als Kind aus dem Mund der Oma
nicht so recht verstanden: Man wird doch
sowieso genug beaufsichtigt, jetzt soll man
auch noch auf sich selbst aufpassen? Die
nächste Eskalationsstufe ist: „Alles Gute!“,
so erlebt bei einer Ebay-Kleinanzeigen-
Übergabe. Da ist nicht nur unklar, ob die
Abholerin meint: „Alles Gute weiterhin oh-
ne das Virus“ oder: „Alles Gute weiterhin,
auch ohne das Regal“. Fern von Geburtsta-
gen oder bestandenen Prüfungen
schwingt bei einem „Alles Gute“ derzeit
schnell die stumme Ergänzung mit: „...für
den Rest deines Lebens, möge es noch lang
und glücklich sein.“ Danach käme wohl
nur noch: „Leb wohl!“
Andererseits: Wie soll man sich auch
sonst verabschieden? Ein banales Ciao?
Oder Covid Heil? Oder wie der ehemalige
Berliner Bürgermeister Klaus Wowereit im
Wahlkampf gern zum Abschied rief: „Viel
Spaß“? Wem doch eher nach Endzeitstim-
mung zumute ist, der kann es ja mit Goe-
the halten: „Lass mein Aug den Abschied
sagen, / Den mein Mund nicht nehmen
kann! / Schwer, wie schwer ist er zu tragen!
/ Und ich bin doch sonst ein Mann.“
veronika wulf


London– „The Rake’s Progress“ ist eine
Oper von Igor Strawinski, die wiederum an-
gelehnt ist an eine Serie von Kupferstichen
von William Hogarth aus dem 17. Jahrhun-
dert - und egal, an welchen der beiden
Künstler Rachel Johnson dachte, als sie
auch ihr Buch „Rake’s Progress“ betitelte:
In jedem Fall ist es ein Wüstling, ein zu Ex-
travaganzen und Ausschweifungen neigen-
der Lebemann, auf den sie anspielt. Ge-
meint ist, natürlich, ihr Bruder: Boris John-
son. Der Titel samt Untertitel („Meine poli-
tische Midlife-Crisis“) ist wie ihr Bruder, ja
wie die ganze Familie Johnson: selbstiro-
nisch, elitär und eitel-verspielt zugleich.
Boris Johnson ist seit einem Dreiviertel-
jahr britischer Premierminister – eine Be-
rufung, auf die er, wenn man seiner
Schwester Rachel glaubt, quasi seit Geburt
hingearbeitet und die er nur für eine Frage
der Zeit gehalten hat. Den Erfolg habe er je-
doch letztlich dem Konkurrenzdenken un-
ter den vier Geschwistern zu verdanken, be-
tont Rachel Johnson, die derzeit höchst ge-
schäftstüchtig den gestiegenen Marktwert
der Familie in TV-Sendungen und Zei-
tungsinterviews nutzt. Die selbstbewusste
Schwester spitzt das Ganze in einer Talk-
show so zu: „Wäre ich nicht geboren, wäre
er nicht Premierminister.“
Boris Johnson, derzeit weit weniger als
geplant mit dem Brexit, dafür umso mehr
mit der Corona-Pandemie beschäftigt,
dürfte das vermutlich anders sehen. Aber
darum geht es Rachel Johnson, die ihrem
Bruder in puncto Showtalent kaum nach-
steht, auch nicht: Sie preist ihn, weil Famili-
enloyalität bei den Johnsons, allen politi-

schen Differenzen zum Trotz, über alles
geht. Aber sie will auch für die Zeit nach Bo-
ris vorsorgen, wenn „wir alle unser Leben
zurückkriegen“. Dann spätestens, dürfte
ihre Rechnung lauten, wird eine gewisse
Distanzierung vom so populären wie um-
strittenen Brexit-Premier sich auszahlen.
Rachel ist Journalistin, Moderatorin,
Buchautorin und war Kurzzeit-Politikerin
bei der Anti-Brexit-Partei Change UK,
nachdem sie zuvor bei den Liberaldemo-
kraten und davor bei den Konservativen
mitgemacht hatte. Wie Bruder Jo, der zeit-
weilig Staatssekretär im Bildungsministe-

rium war und seinen Posten im Streit mit
dem Bruder niederlegte, hatte sie sich im-
mer gegen den EU-Austritt ausgespro-
chen. Ihr Buch liest sich wie eine Autobio-
grafie mit Anspruch auf Fortsetzung. Sie
schreibt, es sei ihr Traum zu zeigen, dass es
möglich sein müsse, das Land so zu einen,
wie es auch möglich sei, eine politisch zer-
strittene Familie zu einen. Nur um dann
ausführlich zu berichten, wie schockiert
ihr Umfeld auf ihren Bruder als neuen Tory-
Chef reagiert habe, und sich vorzustellen,
was eine Ära Johnson bedeuten könnte: für
ihn selbst im schlimmsten Fall eine frühe
Abwahl, im besten Fall einen Nachruhm
als neuer Churchill. Für das Land im
schlechtesten Fall No Deal und soziale Un-
ruhen auf den Straßen. Und im besten Fall
ein Glück: Die Corona-Krise manage er, fin-
det seine Schwester, ganz hervorragend.
Überall werde sie beglückwünscht, weil
ihr Bruder ein hohes Tier sei, schreibt sie.
Es fühle sich an, als bekomme man einen
Oscar für einen Film, den man gar nicht ge-
dreht habe. Und als müsse man dann bei
der Verleihung der Academy Awards trotz-
dem die richtigen Worte finden.
Rachel Johnson hat immerhin 272 Sei-
ten gefüllt, so schwer kann das also nicht
gewesen sein. Marina Hyde, eine der popu-
lärsten Kolumnistinnen des Landes,
schreibt, wer „Rake’s Progress“ lese, fühle
sich wie auf einer wunderbaren Tratsch-
und Lästerparty. Die unterhaltsame Lektü-
re habe allerdings den Vorteil, dass man all
die schrecklichen Menschen, über die dort
gesprochen werde, nicht persönlich erle-
ben müsse. cathrin kahlweit

„Wir haben im Dschungel
die vier typischen Phasen des
Teambuildings durchlaufen.“

STILKRITIK


Rinder dienen als Mitgift
oder als Altersvorsorge.
Nur gegessen werden sie selten

Nicht ohne meinen Bruder


Die Schwester von Boris Johnson stellt mit ihrem Buch ihr Showtalent unter Beweis Kuhhandel


Ungewöhnliche Finanztransaktion zwischen Tschad und Angola


Das ist wichtig für Resilienz: etwas zu tun


Vor 20 Jahren wurde Marc Wallert zusammen mit seinen Eltern von Rebellen entführt und monatelang
gefangen gehalten. Er hat gelernt, wie man Krisen durchsteht – und dass jede Kultur andere Strategien hat

Marc Wallert, 46, hat
seinen Beruf als Unter-
nehmensberater nach der
Geiselhaft aufgegeben.
Als Resilienztrainer bringt
er Menschen bei, wie sie
Krisen überstehen und
gestärkt aus ihnen her-
vorgehen können.
FOTO: SWEN PFÖRTNER/DPA

Grußfloskel


8 HF3 (^) PANORAMA Donnerstag, 19. März 2020, Nr. 66 DEFGH
Selbstironisch, elitär, eitel-verspielt: Ra-
chel Johnson und Bruder Boris sind sich
ähnlich. FOTO: ROB PINNEY/IMAGO
Marc Wallert (im Zentrum mit freiem Oberkörper) mit den anderen Geiseln im Dschungel von Jolo. Vorne links sein Vater Werner. FOTO: DPA
LEUTE
FOTO: MARIUS BECKER/DPA

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