Berliner Zeitung - 19.03.2020

(vip2019) #1
Berliner Zeitung·Nummer 67·Donnerstag, 19. März 2020–Seite 17
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Feuilleton

„EsgehtumneueIntelligenzenundalteMachtstrukturen.“


Wo?HeuteimHAU.Natürlichdigital.QuarantänetippsvonDorisMeierhenrichSeite 18


ÖlaufLeinwandinGigapixel


EinvirtuellerRundgangindieMuseumswelt,mitZoomnachNewYorkindieGegenwartskunstdesMoMA


VonIrmgard Berner

A

nder zu knappenZeit soll
es nun wahrlich nicht
mehr liegen, einenMuse-
umsbesuch hinauszu-
schieben. Es lohnt sich, sich in den
vonvielenMuseendigitalangebote-
nenRundgängendurchihreAusstel-
lungen umzusehen. Undseine
Liebsten zuHause an die gewa-
schene Hand zu nehmen und viel-
leichtgemeinsamaufTourzugehen.
Ichjedenfalls könnte mich, sobald
ich einmal den virtuellenFußine i-
nes dieserMuseen gesetzt habe,im
SogderBilderundMeisterwerk e,der
RäumeundFilme,diesichdaauftun
und zu jederTages- undNachtzeit
aufErkundungwarten,jedesmalre-
gelrecht verlieren. Wegalso vom
Überdruss ausTV-Lagerfeuer,Net-
flix-Serienund#staythefuckathome.
Zu einem Einstieg mitAuswahl-
möglichkeitenrundumdenGlobus
ist die PlattformGoogle Arts&Cul-
ture(www.googleartproject.com)
hervorragend geeignet.Sieist eine
wahreFundgrube anKunstwerken
aller Epochen derKunstgeschichte,
nach Künstlern,Medien, Themen,
Orten,historischenEreignissenund
Persönlichkeitensortiert.

Fotografierthat derRoboter
DasehrgeizigeProjekthatsichnicht
weniger vorg enommen, als unser
ganzes Weltkulturerbezudigitalisie-
ren. DieWeb-Anwendung des US-
Softwareunternehmens ist inPart-
nerschaft mitMuseen au sder gan-
zenWeltentstanden.Ab2011wurde
das Programm zunächst internge-
testetunddannimmerweiterausge-
baut. Mittlerweile präsentiertesan
die 1200 Museen un dZigtausende
vonKunstwerken inGigapixel-Auf-
lösung, aufgenommen mit demFo-
toroboterGigapan ist es zudem mit
demhauseigenenDienstStreetView
quasi im dynamischen 3D-Modus
durchwanderbar.
ZumvirtuellenRundgang steht
unsalsodieMuseumsweltoffen.Mit
der Qual der Wahl: Solles nachBei-
jing, Schanghai, nachDubai oder
dochliebernachSt.Petersburg,Paris
oderLondongehen?Nein,Asienund
Europalassenwirersteinmalhinter
uns,steuernstattdessendirektNew
YorkanundumgehendasvonPräsi-
dentTrumpverhängteEinreisever-

bot.Wirfliegen in dieStadt, die wie
keine anderefür zeitgenössische
Avantgardesteht.NewYorkistderin-
ternational bedeutendste Standort
für denKunstmarkt. Dortresidiert
auch dasranghöchsteGegenwarts-
Museum,dasMuseumof ModernArt
(www.moma.org), zu dem auch das
experimentellereMoMAPS1gehört.
Konsequent stellt das Museum
die jüngerenEpochen derKunstge-

Der schönen Nofretete lässt sich porentief ins Auge schauen ... DPA/REINER JENSEN

schichtealsEntwicklungsgeschichte
dar:AufdenImpressionismusfolgte
die Moderne ,daraus entwickelten
sich Fauvismus,Surrealismus und
Abstraktion.Formelnwie Abstrakter
Expressionismus oder Minimalart
verlängerten dieseGeschichteweit
in die Nachkriegszeit.DasMuseum
feiertaberauchAnachronismus,Di-
versität und dasEnde des Kunstka-
nons.1929gegründethateseineder

schönstenSammlungen überhaupt.
SiereichtvonMonetundKandinsky
bis zu Duchamp,Cindy Sherman
undMartinKippenberger.VonÖlauf
LeinwandbiszumNegativundPixel.
Undweil Künstler weiterarbeiten,
geht hier auch dieGeschichte der
Kunst beständigweiter und dieBil-
dergalerien werden immer voller.
Aufder Website desMuseums,das
als Gebäude zurzeit ebenfalls ge-
schlossen ist, kann man inVideos
den Minimalart-Künstler Donald
JuddbesuchenoderderUS-Fotogra-
fin Dorothea Lange in die kargen
1930er-Jahrefolgen.

Inden Pinselstrichzoomen
AufderSeitevonGoogleArts&Cul-
ture findet sich derEingang in das
MoMAunterdemReiter„Sammlun-
gen“.Dortgelangtmandirektindie
„Sternennacht“ vonVincent van
Gogh und kann sich hineinzoomen
in die in wilden Pinselstrichen auf
die Leinwand gesetzten Farbkon-
traste ,ind as 1889 gemalteMeister-
werk mitseinenwirbelndenSonnen
und Monden, die wie vibrierende
Spiegeleier über einer dunkel-
mondlichtblauen Landschaft krei-
sen. Entlang derTimeline lässt sich
mit „MoMA through Time“ per
Mauskl ickin die Vergangenheit
springen. Manerfährt, dass das
MoMA 1979 einenOscargewann.
SehenswertistdieOnlineausstel-
lungüberdieAvantgarde-Künstlerin
SophieTäuber-ArpunddieDada-
BewegunginZürich.IhreMarionet-
tenfiguren,KöpfeundsurrealenBil-
derkönntenzumNachbastelninspi-
rieren.WersichanderEnglischlas-
tigkeitdesPortalsstörensollte,kann
getrostsein:Googlebietetdirektsei-
nenÜbersetzungsdienstmitan,die
Menüführung ist mit dem Kürzel
„.de“ ohnehin aufDeutsc h. Vorder
Abreise aus NewYorksei noch ein
Schwenk zum Guggenheim-Mu-
seumempfohlen.Danachkönntees
virtuellaufdieBerlinerMuseumsi n-
sel gehen, denn auch die lässt sich
hier ungehindertdurch streifen und
der schönenNofretete porentief ins
Augeschauen.
So sind un sdie vielenMeister-
werk etatsächlich nah und Amuse-
Gueules für dieZeit morgen, nach
derQuarantäne–fürdenMuseums-
besuchimanalogenRaum,derhof-
fentlichbaldwiederoffensteht.

NACHRICHTEN


Auslandskorrespondenten:
China verdunkelt sich

DerClubder Auslandskorrespon-
denteninChina(FCCC)hatdiean-
gekündigteAusweisungvonUS-
Journalistenscharfkritisiert.„Jour-
nalistenbeleuchtendieWelt,inder
wirleben.DurchdieseAktionver-
dunkeltsichChina“,hießesineiner
MitteilungdesFCCCamMittwoch.
JournalistendürftennichtzuBau-
ernopfernderdiplomatischenVer-
stimmungenzweierGroßmächte
werden.DiejüngstenMaßnahmen
PekingsbetreffennachFCCC-Anga-
benmindestens13Kollegen.DieGe-
samtzahlderbetroffenenJournalis-
tenkönntehöhersein,jenachdem,
wiediechinesischenBehördendie
Entscheidungumsetzen.NachEin-
schränkungenderArbeitchinesi-
scherStaatsmedienindenUSAhatte
PekinginderNachtzumMittwoch
dieAusweisungmehrererJournalis-
tenführenderamerikanischerZei-
tungenangeordnet.(dpa)

Spectrum-Fotografie-Preis
2021 an Zanele Muholi

DiesüdafrikanischeKünstlerinund
AktivistinZaneleMuholierhältden
mit 15000 Eurodotierteninternatio-
nalenSpectrum-PreisfürFotografie
2021.DasteilteamMittwochdie
StiftungNiedersachseninHannover
mit,diedeninternationalrenom-
miertenPreisverleiht.DieJurysahin
denAufnahmenMuholis„eine
WuchtundSchönheit,dieseltenin
derzeitgenössischenFotografiezu
findensind“.DerPreissollbeider
Eröffnungeinerumfangreichen
WerkschauimSprengel-Museumim
März2 021 überreichtwerden.(dpa)

Glastonbury-Musikfestival
um ein Jahr verschoben

DasGlastonbury-Musikfestivalin
GroßbritannienistumeinJahrver-
schobenworden.DasteiltendieVer-
anstalteramMittwochmit.ImJuni
solltedas50.JubiläumdesFestivals
inderenglischenGrafschaftSomer-
setgefeiertwerden. Erwartetwurden
StarswiederEx-Beatle PaulMcCart-
ney,TaylorSwift,DianaRossundUS-
RapperKendrickLamar.DasFestival
warfürden24.bis28.Junigeplant.
(dpa)

Bücher sind


Lebensmittel


D


ie gutenNachrichten schicken
seitDienstagabenddieBerliner
Buchhandlungen herum. Manche
schreiben einfach „Wir sind fürSie
da!“,anderezitieren,alskönntensie
es selbst kaum glauben,Paragraf 3a
Absatz 2der SARS-CoV-2-Eindäm-
mungsmaßnahmenverordnung des
LandesBerlin,derdemZeitungsver-
kauf undBuchhandel gestattet, of-
fenzubleiben.
Lesen und Hörbuchhören schüt-
zenvorderdurchdasVirusausgelös-
tenÖdnis.UnbeschulteKinderkön-
nen beschäftigt, unbesuchteGroß-
elternunterhaltenwerden.Gedichte
wieProsaer weiterndenHorizont,in
den man derzeit nicht fliegen oder
kreuzfahren kann.Sicher ist jetzt
auch nicht jedeBuchhändlerin, je-
derBuchhändlerbereit,sichmitden
Kunden gemeinsam über einzelne
Bücher zu beugen. Doch so ein
RundgangdurchdieRegaleistunge-
meininspirierend.
Werdiesnochzunahfindet,kann
denLesestofftelefonischoderonline
ordern. VieleBerlinerBuchhandlun-
genwieAnagrammoderUslar&Rai
haben eigeneWebsites,viele liefern
das Bestellte in derNachbarschaft
persönlich aus.Der Internetauftritt
Geniallokal.de bietet eine Buch-
handlungssuche an–von Belle-Et-
Tristeim WeddingbisZenitin Mitte,
wo sich das auf derSeite erstöberte
Buch abholen lässt.Postversand ist
ebenfallsmöglich.Esmussnichtbei
dem Konzer nbestellt werden, der
hierzulandekeineSteuernzahlt.
WernichtjedesBuchauchbesit-
zenmuss,kann dieBibliotheken
nutzen, auchwenn sie geschlossen
sind. Dasgeht allerdings nur,wenn
man online lesen möchte.Über
voebb.deistdieOnleiheerreichbar.
MitderMöglichkeitzumBuchla-
denbesuchprofitierenBerlinerLeser
vomFöderalismus,inB randenburg
bleibenauchdieseLädenwegender
Ansteckungsgefahr geschlossen.
Wenn es noch eines amtlichenBe-
weises bedurft hätte,Berlin hat ihn
erbracht:BüchersindLebensmittel.
UndZeitungensowieso.


Kulturgut


Cornelia Geißler
dankt dem Berliner Senat
für eineAnordnung.

Rom &Peter


WodieBüsche


pranschen


UNTERM


Strich


VonPeterWawerzinek

M


eine Tochtersagt, eswerdeinR om
deutlichmehrgeknutscht,gekuschelt,
geflirtet als inBerlin. DieHäuser inRom
seien bunter.Sie muss es ja wissen, treibt
sichvielmehrinderStadtherumalsich.Sie
weiß worüber sieredet, wenn sie sagt, die
Straßen sind lauter und dieKurven stinken.
Es gibt so viele mehr schnurlange undvoll-
breite Alleen inRomals in Berlin. Undir-
gendwiegehendieLeutemitihrenHunden
fürsorglicher um, nahezu wie mitFamilien-


mitgliedern.Einen Mann führ tsie an, im
Freien angetroffen, der trank seinenKaffee
undaßetwas.EinszuzweigingendieHap-
pen in seinenMund und in die Schnapp-
schnauzeseinesHundes.Ertrugihnim Fort-
gehenwieeineZeitunguntermArm.
UndwievieldieLeutehieranMengenes-
sen,ohnedassmansiefettnennenmöchte.
Nixda. Alle zusammen imDurchschnitt
schlankmussmansieschimpfen,dieRömer
unddieRömerinnen.Fettleibigwerdenhier
erstdie Touristenwieder,diedannaberhap-
pig megagewichtig und schwabbelig, dass
siemitihrenFingernkaumdieAuslöserder
Kamerasdurchdrückenkönnen.
Ach, und dieMode.Damit müsste man
seinenRom-Berlin-VergleichimGrundebe-
ginnen.Sietragenvorwiegendschwarzund
schmücken sich darüber hinaus mit all den
Farben,dieaufdenLaufstegenderWeltsonst
auch so zu sehen sind. Ob männlich wie

weiblich.Siesehenalletrèsschickaus,som it
Tüchlein um die Hälse,Jacketttasche,Knie
und Handgelenk.Vonhinten nicht einmal
durch dieFrisur zu unterscheiden. Man
musssieschonüberholenundrückwärtsge-
hendvonvornebetrachten.

Sieredensofurchtbarungeniertundlaut
alswär edieÖffentlichkeiteineschummrige
Bar. SiehabeneinganzsonderlichesBeneh-
men am jeweiligenHandy.Sie drohen ihm,
brüllen es an, schmeicheln ihm, beflüstern
es,tätscheln beimReden dieLuft. Bleiben
stehenputzenjemandenrunter,dernurim
Geistvorihnenkniet.Sindununterbrochen
in Gesprächen befindlich, die Römer.Kön-
nen sanft, ehrbar,heftig, lustig, wichtig,
schmetternd gemein bös säuseln, lieb la-
bern,wieaufgezogenschnattern,seiern,sich
um das lose ungelegteNichts in Hohnki-
chernoderRagereden.
MeinTöchterchenist,wenneseinzurich-
ten geht, am liebsten in denParkanlagen
Roms.Dortmachte sie kürzlich dieEntde-
ckungderEntdeckungen.Fragtmich,obich
esauchbemerkthätte.Nichtdoch,nein,ant-
worte ich halblaut.Wasdenn? Na,dass sie
Büsche undHecken grün pranschen.Bitte,

wastundie?Pranschenwiederholtsie.Deine
Generationsagtewohldazumitkünstlichen
Farben sprayen.Undwie sie das alsEntde-
ckung ausposaunt, merke ich es mir sofort,
und werdeesg leich morgen gewissenhaft
überprüfen.Nahmichmirvor.
Waswirklichirreistan RomundvonBer-
lin absolut nicht zu toppen, ist dasZusam-
menl eben vonAlt und Jung. Sienennt es
DurchmischungderGenerationen.Ichhöre
ihrzuundhabeeineWaschtrommelvorAu-
gen. Bube,Greis,Oma undBackfisch, ge-
standeneHerrenundDamen,bebrillterPro-
fessor und loseBraut zu einemMixvereint.
DieRömischeMelange .Die haben sie ein-
fach drauf und sich durch keineweltlichen
Vorgänge,vonniemandenjeuntersagenund
wegnehmen lassen.Undjetzt –jetzt leben
wirmitteninRomind erVilla,diesieMass-
imonennen,abgeschottetvonderStadt,die
Stadtabgeschottetvonuns.

KLAUS ZYLLA
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