Feuilleton
18 Berliner Zeitung·Nummer 67·Donnerstag, 19. März 2020 ·························································································································································································································································································
Zufrüherwachsen
DreineueBüchererzählendavon,wasKrieg,FluchtundGewaltmitKindernundJugendlichenmachen
VonBarbaraWeitzel
A
ls die 15-jährige Freddie
Overstegen und ihrezwei
JahreältereSchwester
Truus1940gefragtwurden,
obsiesichdembewaffnetenWider-
stand gegen dieNazis anschließen
wollen,stelltedieMutterdenbeiden
eine einzigeBedingung:„Bleibt im-
mer menschlich.“AufSeite 87 von
WilmaGeldofs Buch„RedenistVer-
rat“ sagt dieIch-Erzählerin Freddie:
„Es ist etwas geschehen, wodurch
ichkein Kindmehrbin.“
Wasist geschehen? Freddie
musstefürsichdieFragebeantwor-
ten, woMenschlichkeit aufhört.Ist
derNazi-Offizier,densieindenWald
gelockt und erschossen hat, ein
Mensch? Oder nur „Zielperson“,
„Mof“(dasniederländischePendant
zu Nazi), „Schwein“?Nachdem sie
ihn verbuddelt haben, geht ihr sein
Gesicht nicht aus demKopf.„Ohne
UniformisterkeinMofmehr.(...)Er
istwiewir.Heinrich. Vater.Mensch.“
Passagen wie diese machen die
Geschichte derFreddie Overstegen
erst zu der eindringlichen Lektüre,
deren Wirkung anhält.Freddie,
Truus und die später dazustoßende
Hannie Schaft durchlebenHunger,
sehenjüdischeKindervorihren Au-
gen sterben und erleiden grauen-
hafteVerletzungen.Undsie werden
mit Problemen konfrontiert, an de-
nendieerwachseneMenschheitver-
zweifelt:DarfmaneinenMörderer-
morden? Einem Folterer das
Menschsein absprechen?Wird man
soselbstzumUnmenschen?
Fragen, die auf quälendeWeise
wiederkehren, hat man es bis auf
Seite258einesweiterenaktuellenJu-
gendbuchs geschafft. „Geschafft“
weil Alan Gratz’thrillerspannende
FluchtgeschichtenebenkeineThril-
lersind.„VorunsdasMeer“ist Reali-
tät. Bitterste Realität –aus der Sicht
dreier Kindererzählt,diewieFreddie
Overstegen sehr früh erwachsen
werden. Josef ist elf, als er imJahr
1940seinerMutterdie Entscheidung
abnimmt,welches ihrerKinder sie
behältundwelchesinsKonzentrati-
onslagergeht.DerSchmuck,densie
dem Soldaten bietet,reicht nur für
eines.JosefoderRuthchen.
AuchderzwölfjährigeMahmoud,
2015aufderFluchtvonSyriennach
Europa,rettetseineSchwester.Nach
demKenterndesBootesimeiskalten
Meer schwimmend, bittet er dieIn-
sasseneinesanderenvölligüberfüll-
tenKahns,wenigstensdenSäugling
mitzunehmen.ErfragtseineMutter
nicht;ihreSuchenachdemverlore-
nenKindwir dihnvonnunaninal-
lenLagernmitder Fragekonfrontie-
ren, ob er schwereSchuld auf sich
geladenoderdasRichtigegetanhat.
Isabel, die 1994 vonKuba nach
Miamiflieht,wirfteigenmächtigden
Motordes Bootesins Wasser,umd as
sinkende Schiff leichter zu machen.
DieFamilieschafftespaddelndund
schwimmend.Wissen konnteIsabel
dasnicht.WasfüreineBürde.
Schwer an der Verantwortung
trägtauchLeightoninKyrieMcKau-
leysRoman„Youare(not)safehere“.
Siewäreschon lange geflohenvor
dem prügelnden Vater,wären da
nichtihr ejüngerenSchwestern.Darf
sie die beiden in der KleinstadtAu-
burnzurücklassen, in der alle wis-
sen, was diesemHaus voller Angst
vorg eht,aberwegsehen?Sichander
Universität bewerben, auch nur ei-
nen Abend auf eine Partygehen?
Und: Darf sie,Leigton, auchweiter
schweigen? Als dieGewalt eskaliert
machtLeightonnichtnurdiehäusli-
chenZustände,sonderndieFeigheit
der ganzenStadt in derZeitung öf-
fentlich.Siebringt damit das Leben
ihrer Familiein Gefahr,unddassihre
Geschichte gut ausgeht, daran lässt
die Autorin keinenZweifel, soll nie-
manden beruhigen.Eine „Survival-
Story“nenntsiedasBuchim Nach-
wort–„im Kern“. Denn, so schreibt
sie weiter,sie spielt eben nicht im
Dschungel, sondern„mittendrin“.
Mitten unter uns.Und lässt eine
ListevonAnlaufstellenfolgen,andie
sich Opfer oderZeugen vonhäusli-
cherGewaltwendenkönnen.
Freddie,Truusund Hannielebten
wirklich.Mahmoud,Josefund Isabel
sind erfundeneFiguren, doch viele
Personen und Situationen in „Vor
uns dasMeer“ hat AlanGratz der
Zeitgeschichte entnommen. Leigh-
ton ist eine literarischeIch-Erzähle-
rin.Wasallihr eSchicksaleeint:Kin-
der erleiden sie.Jeden Tag, überall
dort, wo Gewalt und Krieg den
Schwächsten Verantwortung und
Fragenaufbürden,diesiemehrver-
wunden als Schläge undWaffenge-
walt und sie imKindesalter zu ge-
zeichnetenErwachsenen machen –
unumkehrbar.„Ichhabeerneuteine
Grenzeüberschritten und kann nie
zurück“, sagtGeldofs Freddie.Mö-
gen alle drei Bücher auch viele er-
wachseneLeser finden.Damit auch
siesichdenFragenstellen.
LESELISTE
Wilma Geldof: Reden ist
Verrat.Ausdem Niederlän-
dischenvonVerena Kiefer.
Gerstenberg,Hildesheim
- 304S.,18Euro.
Ab 14 Jahren.
Alan Gratz:Voruns das
Meer.Ausdem Englischen
vonMeritxell JaninaPiel.
Hanser,München 2020.
304 S.,17Euro.
Ab 12 Jahren.
Kyrie McCauley:Youare
(not) safe here.Ausdem
amerik. EnglischvonUwe-
Martin Gutzschhahn. dtv,
München 2020. 400S.,
14,95 Euro. Ab 14 Jahren.
MitWitzundHaltung
DieBerlinerSchauspielerinChristinaGroßeglänztinderSerie„DasInstitut–OasedesScheiterns“
VonIrene Bazinger
G
ibtes eigentlichdeutschenHu-
mor?Gewiss,dieFrageistnicht
besonders originell, doch Christina
Große kann ihr durchaus etwas ab-
gewinnen: „Ich glaube,Humor ist
immersehrsubjektiv!Wodemeinen
vorLachenTränen kommen, schüt-
teltdieanderenurden Kopf.“
Sieweißgenau,wovonsiespricht,
denndieComedy-Serie„DasInstitut
–Oase des Scheiterns“ruft solche
Reaktionen hervor. Wa rumdas so
ist?Weildie Dinge,dieindieserEin-
richtung–dieaneinGoethe-Institut
erinner t–passieren,einerseitsstark
an der Wirklichkeit orientiertsind,
sichandererseitsohneScheuvorpo-
litisch unkorrektenWitzen undver-
rückten Albernheiten darüber lustig
machen. Drehbuchautor Robert
Löhr und Regisseur Markus Sehr
kennen dabei kein Pardon –zur
Freudeder Zuschauer.
IndenneuenFolgenspieltChris-
tinaGroßewiederdieungnädigeIn-
stitutsleiterin AnnelieseEckart, die
esinsfiktivezentralasiatischeKisbe-
kistanverschlagenhat,wosiemitein
paar Mitstreiter ndeutscheKultur
verbreitensoll.Allerdingshatsiewe-
derfürihrGastlandnochfürdieKol-
legen vielSympathie.„DieEckart“,
sagt die Schauspielerin, „ist im
Grundeeinalter,weißerMann,igno-
rant, anmaßend, voller Vorurt eile
undBesserwisserei.“
Lange Zeit hat ChristinaGroße,
wiesieeinmalsagte,alsdas„Emotio-
nalchen des deutschenFernsehens“
aufgewachsen mit dreiBrüdernim
thüringischenSaalfeld, studierte sie
ab 1990 an derFilmhochschuleBa-
belsberg.Heutezähltsiezudenviel-
beschäftigten und in unterschied-
lichsten Rollen überzeugenden
Schauspielerinnen. In aufwendigen
ProduktionenwieinLow-Budget-Fil-
men hat sie sich alsSpezialistin für
Charaktereprofiliert,dieeinigesaus-
zuhalten haben–wie die gebeutelte
alleinerziehendeMutter in „Anders
schön“ vonBartosz Werner oder die
Ehefrau eines Alkoholkranken in
„AlkiAlki“vonAxelRanisch.
„Ja,michreizen Rollen,beidenen
esum Haltungsfrageninnerhalbder
Gesellschaft geht!“, sagt Christina
Große.SievermagmitderRaffinesse
ihrer Gestik,der BeredtheitihrerMi-
mik und mit der Kraft desHerzens,
dassieinallihrenFigurenschlagen
lässt,lebendigzumachen–selbst„in
der Eckart“, diesem teutonischen
Besenam Randeder Weltunddabei
immermittenmanginDeutschland.
DasInstitut–Oase des Scheiternsab 19.3.,
22.45 Uhr,BayerischerRundfunk
gegolten.Nungenießtsiees,auchihr
komödiantisches Talent zeigen zu
können.In„Das Institut“prasselndie
GagsschnellunddichtaufdasPubli-
kum ein, dieKomik ist ansatzlos –
und genau das mag und braucht
ChristinaGroße.Dannkannsievöllig
inden KosmoseinersolchenProduk-
tion eintauchen–wie früher ,als sie
im „Theater 89“ oder im Maxim-
Gorki-Theater auf der Bühne stand.
Geboren 1970 inBlankenhain und
Dr.Eckart(Christina Große) vor demPorträt von Erich Honecker. BR
In„Vor uns das Meer“ verarbeitet der Autor Alan Gratz bitterste Realität von Kindern. Hier im Bild: Junge Bootsflüchtlinge auf Lesbos Anfang März 2020. IMAGO
QUARANTÄNE-TIPPS
VonDoris Meierhenrich
E
sgibtTheater,dieverfügendoch
überden7.Sinn.Oderwaresder
Zufall, dass kurzvor der schmerzli-
chenTheaterschließungvergangene
WocheimDTnochdiePremieredes
berühmtenGeschichten-Zyklus aus
demGeistder Pest-Flucht„Decame-
rone“ über die Bühne ging?Jeden-
falls konnte das Setting aktueller
kaum sein.Heute ist es das HAU,
dessen Festival „S py on me“ dem
plötzlich wichtigsten Kulturraum
dieser Welt –dem Internet –einen
kreativ-kritischenSpiegelvorhält.
Home Office und Kultur-Strea-
ming sind ja dieWorteder Stunde,
wobeiderenklimakillenderEnergie-
fraß und datenverschleuderndeBe-
denklichkeit erstaunlicherweise
schnellmalvergessenwird.Undwas
ist eigentlich dieses Theater-Strea-
ming? Bisher nicht viel mehr als
dürftige Abfilmungengenuinanalo-
ger Inszenierungen, die einfach on-
line abrufbar sind.EinBlick auf die
schnell aus ihrenVideoarchiven zu-
sammengetackerten Online-Spiel-
pläne der Theater,die das Portal
nachtkritik.de verdienstvollerweise
einmal gebündelt hat,zeigt das un-
umwunden.Vorallem gut gespon-
serte OpernhäuservonNewYorkbis
MünchenpreisendaihreVerdi-,Do-
nizetti-Kinoproduktionen an, in de-
nen man Sänger-und Pultstars be-
wundernkann,soferneinemDolby-
Digital-Konservenmusikreicht.
Studienbehelf
Wo abernichtzuerstderKommerz-
effektzählt,sondernsperriges ,kom-
plexes Bühnengeschehen seinUn-
wesen treibt, imSprechtheater also,
dienen Videostreamings,wenn
überhauptvorhanden, allenfalls als
grober Studienbehelf.Extreminte-
ressiertekönnenauchdasaneinsa-
men Quarantäne-Nachmittagen in
derauchtheatergeschichtlichschür-
fenden Nachtkritik-Linkliste nach-
klicken.Eine Verlusterfahrung eige-
ner Art. Gerade deshalb wirddieser
Frühling 2020 zweifellos alsMeilen-
stein derDigitalentwicklung auch
der analogstenKunst in dieKultur-
geschichte eingehen.Dienächste
Pandemiekommtbestimmt!
DassTheaterauchfürsStreamen
tatsächlich mal interessantwerden
kann,sofernesd enPCalsProdukti-
ons- undRezeptionsmittelvonBe-
ginn an mitdenkt und eine eigene
Hybrid-Kunst daraus entwickelt,
deutet das TheaterLuzern zumin-
dest schon an.Regisseur Franz von
Strolchen hat dortdie Theaterserie
„Taylor AG“entworfen, die in meh-
rerenStaffelnà30FolgenvonMen-
schenderZukunfthandelt,dieihre
ArbeitlängstandieKIabgegeben
haben,abereinmalimJahrnochzu-
sammenkommenmüssen,umeine
eigene,neueIdeezuentwickeln.
Schaffensiedas?Seitgesternläuft
dievierteStaffelüberdieTheater-
website,woTag für Tageine neue
Folge abrufbar ist. SchönesExperi-
ment, das auch gleich zum HAU
überleitet, wo heute um 19Uhrdas
Kernprogramm des erwähnten„Spy
on me“-Festivals beginnt, das ei-
gentlichimHAU2stattfindensollte,
nun aber über den HAU-eigenen
Youtube-Kanal sendet.DerKI-For-
scherJamesBridlewir deinenEröff-
nungsvortrag halten und unter an-
derem wirddas künstlerische The-
sen-Labor dgtl_fmnsm experimen-
telle Videoscreenings zeigen und
„Talks“führen.Eswirdumn eueIn-
telligenzen gehen und alteMacht-
strukturen, wobei die kritisch-tech-
nikfreudigen Performer-Aktivisten
diedigitaleGegenwartinn eueNut-
zernischenführen.EinKreativschub
inöder Zeit.
Spyonme:hebbel-am-ufer.de/spy-on-me-2/
Streaming-Liste:nachtkritik.de
Taylor-AG:luzernertheater.ch/taylorag
Streamen
gegendas
böseC.
DVD-TIPP
VonRalf Schenk
G
erade erst wurde die restau-
rierte Fassung vonPaul Lenis
„Wachsfigurenkabinett“aufderBer-
linaleuraufgeführt.DerSenderArte
zeigte,alsPartnerder StiftungDeut-
sche Kinemathek, denFilm zu Mit-
ternacht.Undschonistdiesesletzte
Meisterwerk des deutschen expres-
sionistischenKinosauchfürdiepri-
vateFilmbibliothekerhältlich.
PaulLeni,deralsGrafiker,Plakat-
zeichner und Bühnenbildner zum
Kinokam,knüpftmitdieserepisodi-
schen Arbeit an dieTyrannenfilme
vonCaligaribisMabusean.Zwarist
die Hauptfigur des erstenKapitels,
Kalif HarunalR aschid (EmilJan-
nings), nochHeld eines burlesken
orientalischen Zaubermärchens.
Aber schon derrussische ZarIwan
der Schreckliche (ConradVeidt) er-
scheint als pathologischer Sadist,
der glaubtverg iftet zu werden und
im Wahnsinn endet. Leni konnte
nichtahnen,dasserdamiteinePara-
bel auf den kommendenDiktator
Stalinentwarf;heutedenktmanden
sowjetischenDespoten unbedingt
mit. Diedritte Episode beschwört,
mit schrägenBildernund kunstvol-
lenÜberblendungen,denLondoner
FrauenmörderJacktheRipper(Wer-
nerKrauss).
WeildasOriginalnegativ1925auf
demPariserZollamtverbrannteund
deutscheKopien nichtvorhanden
sind,nutztdieRekonstruktionMate-
rial aus Archiven in London,Paris,
Prag und Bologna, dazu eineText-
liste ausStockholm.Eine Sisyphus-
arbeit.UnddieschöneWiederentde-
ckung einesFilms,über denSieg-
friedKracauerschrieb,erg ebe„dem
Ineinandervon
Chaos undTy-
rannei“endgül-
tige symboli-
scheGestalt.
DasWachsfiguren-
kabinettDeutsch-
land 1924, Regie:
Paul Leni, 12,59 Euro
Chaosund
Tyrannei
Expressionismus
imKino:„Das
Wachsfigurenkabinett“
StuartWhitmann
mit92Jahren
gestorben
DerSchauspielerdrehte
überwiegendWestern
D
er amerikanische Schauspieler
StuartWhitmanstarb nach An-
gabesseinesSohnesJustinWhitman
mit92 JahreninseinemHausin Kali-
fornien. MitJohnWaynedrehteWhit-
man „DieComancheros“ (1961). An
derSeite von
HenryFonda,
Sean Connery
und Gert Fröbe
wirkte er in dem
Kriegsfilm „Der
längste Tag“
(1962) mit. Zu
seinen über 100
Film- undFern-
sehproduktio-
nen zählt auch
die britischeKomödie „Die tollküh-
nenMännerinihrenfliegendenKis-
ten“ (1965). Eine Oscar-Nominie-
rungalsbesterHauptdarstellerholte
Whitman für dasDrama „Gebrand-
markt“(1961),indemereinenverur-
teilten Missbrauchstäter spielte.Bei
derOscar-VerleihungunterlagWhit-
man Maximilian Schell, der dieTro-
phäe für seineRolle in „DasUrteil
vonNürnberg“gewann.(dpa)
StuartWhitman
(1928–2020)
DPA