10 MEINUNG & DEBATTE Samstag, 28. März 2020
Bei überlasteten Intensivstationen müssen Mediziner entscheiden,wer no ch behandelt wird undwer nicht. STEPHANE MAHE / REUTERS
Wenn Knapph eitüber
LebenundTodentschei det
Die absehbar e Überlastung des Gesundheits wesens bringt die Gesellschaft
in ein tiefes et hisches Dilemma.Von Helmut Stalder
Die Schweiz tut alles, um in der Corona-Krise die
Überlastung der Spitäler zu verhindern. Überall
hofft man, dass der Lockdown und die Isolation die
AnsteckungsratenzumSinkenbringen.Gleichzeitig
haben Spitäler im ganzenLand in kürzester Zeit die
Zahlan Betten in Isolationsabteilungen und Inten-
sivstationenhochgefahrenundPflegepersonalmobi-
lisiert.EssollunterkeinenUmständeneintreten,was
in Italien, Spanien und anderenLändern teilweise
sichtbar wird – derKollaps des Gesundheitssystems
unter der Masse anPatientinnen undPatienten.
Insgesamt gibt es derzeit in der Schweiz 82 Inten-
sivst ationen mit rund 1000 Betten, von denen etwa
850 mit Beatmungsgeräten ausgerüstet sind. Hinzu
kommen etwa 450 Betten auf Überwachungsstatio-
nen. Obdies reicht, wenn dieWelle anrollt, kann
ni emand sagen. Doch man muss das Schlimmste
befürchten. Modellrechnungen haben gezeigt, dass
schon nächsteWoche mehr als 1000Personen und in
wenigenWochen2000 Personen auf Intensivstatio-
nen behandelt werden müssen, wenn die Übertra-
gungsrate nichtrasch und deutlich sinkt.Dann sind
die Betten in wenigenTagen belegt, zumal Corona-
Patienten mit schweren Lungenentzündungen bis
zu zweiWochen Beatmung brauchen und noch an-
dere Patienten mit akutenErkrankungen oder Un-
fallopfer Platz benötigen.
Wer soll gerettet werden?
Die Vorstellung, dass es nichtreichenkönnte und
bestimmtePatienten von derrett enden Behandlung
ausgeschlossen werden, trifft die meisten Menschen
im Land unvorbereitet. Und die Mediziner, die am
Krankenbett dieTriage vornehmen müssen, stehen
voreinemfastnichterträglichenethischenDilemma.
Die ärztliche Ethik verlangt,dass alles zumWohl
des Patienten getan wird undalles unterlassen wird,
was ihm schadet. Dies ist die auf den individuellen
Patienten ausgerichtete Sichtweise, die in normalen
Zeiten gilt.In der Geriatrie und derPalliativmedizin
gibt sie den Ärztinnen und Ärzten die Richtschnur
bei der Entscheidung, ob sie einem Schwerkranken
eine lebensrettende oder lebensverlängernde inten-
sivmedizinische Behandlung verordnen oder solche
Massnahmen abbrechen. Sie müsseneine ethisch
hoch anspruchsvolle Entscheidung über Leben und
Tod treffen.Aber imRegelfall ist die Entscheidung
grundsätzlich immer patientenzentriert und darauf
ausgerichtet,das Leiden des individuellenPatienten,
der hilfsbedürftig vor ihnen liegt,zu lindern oderes
nicht unnötig zu verlängern.
Ganz anders ist die Entscheidung in einer Situa-
tion der Knappheit.Sie tritt ein, wenn in einem Kri-
senfall wie einem Krieg, einem Erdbeben, einem
Massenunfall oder eben einer Epidemie schnell
sehr vielePatient en auft reten und die vorhandenen
odermobilisierbarenMittelnichtreichen.Dannver-
schiebt sich die ethischeFragestellung weg vo m ein-
zelnenPatienten hin zu einer überindividuellenPer-
spektive. Das hippokratische Gebot, dass der Arzt
stets zumWohl seinesPatienten zuhandeln und
Schaden von ihm abzuwenden hat,umfasst diese Si-
tuation der Mangellage nicht.Wenn die Mittel nicht
reichen, um alle zurett en, muss der Arzt unweiger-
lich zwischen Menschen entscheiden,die leben dür-
fen, und solchen, die sterben müssen.Er wird zum
Ressourcenmanager, der im Moment selektioniert,
wer an den begrenztenRettungsmitteln teilhaben
darf. Die Triage von Menschenleben in Situationen
der Knappheit ist selbst für Intensivmediziner der
Ausnahmefallundäusserstschwierigundbelastend.
Und für die meisten anderen Menschen, die natur-
gemäss die individuellePerspektive beibehalten,
wäre es kaum akzeptierbar, wenn es heissen würde,
blossaus ein em Mangel anRessourcen erhalte eine
Angehörige oder man selbst die lebensrettende Be-
handlung nicht,jemand anders jedoch schon.
Für die ethisch schwierige Zuteilung von lebens-
rett endenRessourcen wie in Zeiten der Corona-
Krise braucht es folglich transparente, praktikable,
allgemeingültige Kriterien. Und zwar für die Ärz-
tinnen und Ärzte am Krankenbett, die die Schick-
salsentscheide treffen und ihr Handeln vor An-
gehörigen, Pflegenden und vor sich selbstrecht-
fertigenkönnen müssen. Und auch für die Nor-
malsterblichen imVolk, welche diese Entscheide
nachvollziehen und akzeptierenkönnen müssen.
Für solcheRationierungen gibt es unterschied-
licheVerfahren, die jeweils auf unterschiedlichen
Konzepten von Gerechtigkeit basieren.Wir ken-
nen beispielsweise den Losentscheid. Er ist in vie-
len Situationen breit akzeptiert,denn er bietet allen
die gleiche Chance, zu gewinnen oder denKürze-
ren zu ziehen. Doch er lässt ausser acht, ob jemand
dringenderauf die Behandlung angewiesen istals
ein anderer, und auch, obRessourcen an jeman-
dem mit geringen Erfolgschancen verschwendet
werden. Ferner kennen wir das Prinzip «First come,
first served». Auch diese Art der Zuteilung prakti-
zieren wir an jederLadenkasse, aber Schlange ste-
hen und warten, bis man an derReihe ist, akzep-
tieren wir nur, wenn letztlich für alle genug da ist.
Ein anderes Prinzip stammt aus der Seefahrt,wenn
es in Seenot heisst:Frauen und Kinder zuerst. Es
gibt Schwachen und Bedürftigen denVortritt,funk-
tioniert aber nur, wenn genügend Gentlemen auf
einen Platz imRettungsboot verzichten. In der
Transplantationsmedizinkennen wir ein Mischver-
fahren, wo die Organe nach Dringlichkeit, Erfolgs-
aussichten undWartezeit zugewiesen werden, um
eine gerechte Zuteilung zu erreichen.
Das Problem der Zuteilung knapperRettungs-
mittel führt aber leicht dazu, dass man einzelne
Menschenleben bewertet und ihrenWert gegen-
einander abwägt. Ein Kriterium beispielsweise wie
«Prima i nostri» – «Die Unseren zuerst» – würde
das Leben von Gruppenmitgliedern über jenes von
Fremden stellen. Mankönnte auch argumentieren,
eine Politikerin sei wichtiger als eine andere. Oder
ein Konzernchef leiste mehr für die Gemeinschaft
als eine anderer, oder jemand habeeine Familie zu
versorgen und solle deshalbVorrang haben.Umge-
kehrt könnte man behaupten, ein Handlanger sei
gesellschaftlich unbedeutend oder einVerbrecher
wegen seines Lebenswandels gar schädlich undver-
diene es deshalb nicht, gerettet zu werden. Oder–
diese Argumentation hört man derzeit oft – alte
Menschen hätten ihr Leben schon gelebt und soll-
ten deshalb die Intensivpflegebetten freigeben für
jüngere, die noch mehr Lebensjahre vor sich hät-
ten.Alle diese Zuteilungsideen,von den noblen bis
zu den zynischen,sind hilfloseVersuche, angesichts
des drohendenTodes wegen Mangelversorgung so
etwas wieFairness herbeizuführen oder mindestens
die Unfairness derAuslese zu verschleiern.
«Survival of the fittest»
Ein anderesVorgehen für dieTriage derPatienten
in der Corona-Pandemie empfehlen die Schweize-
rischeAkademie derMedizinischenWissenschaf-
ten und die Schweizerische Gesellschaft für Inten-
sivmedizin. In ihren Richtlinien wechseln sie von
der patientenzentrierten Sicht zu einer bevölke-
rungsorientierten Sicht. Statt einer Individualethik
soll eine utilitaristische Ethik zurAnwendungkom-
men, die den Gesamtnutzen für die Gemeinschaft
maximiert. Ziel ist es, mit den beschränktenRes-
sourcen möglichst viele Leben zurett en. Die Ärz-
tinnen und Ärzte sollen so handeln, dass die meis-
ten Menschen überleben und die Zahl derTodes-
fälle möglichst gering ist.Damit dieRessourcen den
grösstmöglichen Gesamtnutzen ergeben,ist das ein-
zige Kriterium für dieAufnahme in die Intensiv-
pflege die unmittelbare Überlebenschance. Nicht
aufgenommen oder aus der Intensivpflege verlegt
wird, wer zusätzlich zur Corona-Infektion an einer
schweren Kreislauferkrankung, einem fortgeschrit-
tenen Krebs oder einer mittelschweren Demenz lei-
det.Andere Merkmale wie Geschlecht,Nationalität,
Sozialstatus, Religionszugehörigkeit, Behinderun-
gen dürfen bei der Zuteilung nicht beachtet werden.
Die Richtlinie hält zwar fest, dass auch das Al-
ter per sekeine Rolle spielen darf. Doch das Alter
ist gleichwohl einAusschlusskriterium: Alte sollen
nicht mehr aufgenommen werden, wenn sie über
85-jährig sind oder wenn sie über 75-jährig sind und
an Zirrhose, schwerem Nierenversagen oder Herz-
insuffizienz leiden.Begründet wird dies damit,dass
das Alter ein Risikofaktor sei für die Sterblichkeit
und damit ein Indikator für die schlechte Prognose.
Gestützt wird dies lediglich durch eineAuszählung
der Mortalität inWuhan.
So stringent und klar die Richtlinie formuliert
ist, zeigen sich hier versteckte Schwächen. Einziges
Kriterium für den Zugang zur Intensivbehandlung
bei Knappheit sind die unmittelbaren Überlebens-
chancen.Aber für Prognosen undWahrscheinlich-
keitseinschätzungen zumVerlauf der Krankheit
und zum Einfluss vonAlter undVorerkrankungen
fehlen dieDaten. ImFall der Überlastung sollen
also prioritär diejenigen aufgenommen werden,von
denen man annimmt, dass sie eher davonkommen.
Die mit mutmasslich geringen Chancen sollen aus-
sortiertwerden. Es gilt in der Not unausgesprochen:
«Survival of the fittest.»
Mediziner, welche dieRessourcen im Knapp-
heitsfall zu verwalten haben, müssen diese Art der
Selektionpraktizieren,umdengrösstmöglichenNut-
zen für die Gesellschaft als Ganzes zu erreichen.Für
dienormaleBevölkerunghingegen,beideresimmer
umdeneinzelnen,bestimmtenAngehörigengeht,ist
diessehrschwerzuakzeptieren.DieCorona-Pande-
mieunterwirftunsalleeinersolchenbrutalenLogik.
Die Corona-Pandemie
unterwirft uns alle
einer brutalen
Nützlichkeitslogik.