Neue Zürcher Zeitung - 28.03.2020

(Tina Sui) #1

Samsta g, 28. März 2020 SCHWEIZ 11


Eine «Lex Ticino» im Kampf gegen das Virus


Der KantonTessin darf künftig strengere Massnahmengegen das Coronavirus erlassenals der Bund– dochAusgehsperrenbleiben verboten


FABIAN SCHÄFER


Von einem «Krisenfenster» war imVor-
feld dieRede: Gemeint war damiteine
Ausnahmeklausel für diejenigen Kan-
tone, die im Kampf gegen das Corona-
virus weitergehende Massnahmen ergrei-
fen möchten, als dies der Bund tut. Nun
hat der Bundesrat amFreitag tatsäch-
lich ein solchesFenster geöffnet – doch
es ist ausgesprochen schmal. Man spürt
das Bemühen, die Bedingungen so eng
zu definieren, dass sie zumindest heute
einzig vom KantonTessin erfüllt werden.
Die Südschweiz ist vomVirus beson-
ders betroff en. Die Zahl derFälle pro
Einwohner ist rund dreimal so hoch wie
im Rest desLandes. Die Kantonsregie-
rung hat deshalb letztesWochenende
Entscheide gefällt, die über die Mass-
nahmen des Bundes hinausgehen. Sie
hat nicht nur sämtlicheBaustellen im
Kanton geschlossen, sondern auch alle
Industriebetriebe, die nicht im Gesund-
heitsbereich tätig oder anderweitig sys-
temrelevant sind.


Konfrontation vermieden


Die Reaktion aus Bern kam umgehend:
Aus Sicht des Bundes sind dieTessiner
Beschlüsserechtlich unhaltbar, weil in
der ausserordentlichenLage der Bun-
desrat im ganzenLand das Sagen hat.
Und dieser hat entschieden, dass nur
diejenigenBaustellen und Betriebe ge-
schlossen werden, welche die Empfeh-
lungen des Bundesamts für Gesundheit
(BAG) zu Hygiene und Abstand nicht
einhalten. Die anderenFirmen sollen
explizit weiterarbeiten. Die unklare
Rechtslage imTessin war für dieWirt-
schaft unangenehm.Wenn eineFirma
den Betrieb aufgrund einer widerrecht-
lichenVerfügung einstellt, erhält sie
keine Kurzarbeitsentschädigung.
Der Bundesrat hat nun aber entschie-
den, nicht dieKonfrontation mit Bellin-
zona zu suchen, sonderneinenKompro-
miss zu lancieren.Neukönnen stark vom
Virus betroffene Kantone ein Gesuch
stellen, wenn sie für eine bestimmte Zeit
die Tätigkeit ganzer Branchen einstellen
oder einschränken wollen. Gemäss Ge-
sundheitsminister Alain Berset ist klar,


dass der KantonTessin die Bedingungen
für ein Gesuch erfüllt. Das bedeutet mit-
unter, dass in der Südschweiz die Kapazi-
täten in der Gesundheitsversorgung nicht
mehr ausreichen. Ein weiteres Kriterium
sieht vor, dass die betroffenen Branchen
unter demAusbleiben vonGrenzgängern
leiden. Somitkönnten wohl höchstens
andere Grenzkantone wie Genf oder
Basel von derAusnahmeklausel profi-
tieren. Hinzukommt, dass Arbeitgeber
und Gewerkschaften den Einschränkun-
gen zustimmen müssen.
Allerdings müssen auch dieTessiner
Kompromisse machen. Wenn ein Unter-
nehmen zeigt, dass es dieVorschriften
des BAGeinhalten kann, muss ihm der
Kanton erlauben, den Betrieb wieder
aufzunehmen. DieselbeRegel gilt für
Baustellen.

Auch imTessin will der Bundesrat
strengere Massnahmen nur im Bereich
der Wirtschaft zulassen. Nicht möglich
sind somit zusätzliche Einschränkungen
der Bewegungsfreiheit, wie sie in einzel-
nen Kantonen erörtert wurden. In Uri
hatte vorübergehend eineAusgangsbe-
schränkung für über 65-Jährige gegolten.

Nachträgliche Genehmigung


SolcheEingriffe sind weiterhin ver-
boten. Allerdings hat sich dieTessi-
ner Regierung in diesem Punkt ohne-
hin zurückgehalten. Sie hat zwar spezi-
fischeRegeln für Senioren ausgespro-
chen, bei diesen handelt es sich aber
nicht umVerbote, sondern eher um ein-
dringliche Ermahnungen.Nun liegt der
Ball in Bellinzona. Der Staatsrat kann in
Bernein Gesuch stellen, um seinRegime
nachträglich zu legalisieren. Der Bundes-
rat kommt ihm insofern entgegen, als er
die «LexTicino» rückwirkend auf den


  1. März in Kraft setzt – denTag, an dem
    die TessinerRegierung ihre eigenmächti-
    gen Entscheide gefällt hat.


Längst nicht alle Schweizer Touristen


können jetzt zurückreisen SEITE 12


Der Bundesrat als Krisenmanagerfür das ganze Land –


das hat es schon lange nicht mehr gegeben SEITE 13


«Die Situation im Tessin nötigt uns zu frühzeitigen Massnahmen»


Der Tessiner Regierungspräsident ChristianVitta fühlt sichin seinemVorpreschen vonder jüngstenEntscheidungdes Bundesratesbestätigt


HerrVitta, wie beurteilenSie alsTessiner
Regierungspräsident dieBefindlichkeit in
der Südschweiz, da sich hier vermutlich
die Corona-Krise dem Höhepunkt nähert?

Unser Kanton durchlebt eine sehr
schwierige Zeit, das schlägt auch aufs
Gemüt. Doch dieTessiner Bevölkerung
steht zusammen und beweist Solidarität.
Das gibt uns Kraft, um die Situation ge-
meinsam zu meistern.


Sie haben letzten Samstag eigenmäch-
tig Massnahmen imTessin eingeführt,
die schärfer sind als jene des Bundes-
rates für die ganze Schweiz, also rechts-
widrige Massnahmen. ZumBeispiel den
Baustellenstopp oder auch das Quasi-
verbot für die Senioren, einkaufen zu
gehen.Warum das?

Bei uns imTessin ist dieVerbreitung
des Coronavirus zuerst losgegangen,
und erst noch in höheremTempo als in
den anderen Kantonen.Daher herrscht
hi er eine besondere Situation, die uns
dazu nötigt, frühzeitig Massnahmen zu
ergreifen.


Der Bundesrat hat nun demTessin ein
Hintertürchen geöffnet:Die Kantonsregie-


rung könne aufgrund der Corona-Ge-
fährdungBetriebe und sogar ganzeWirt-
schaftsbranchen stilllegen. Ist dasTessin
also wieder einmal ein Sonderfall?
Der Bundesrat zeigt seine Offenheit
gegenüber der schwierigen Situation bei
uns, indemer rückwirkend denTessiner

Firmen wirtschaftliche Hilfe zugesteht.
Diese wichtige Entscheidung stärkt den
nationalen Zusammenhalt und den gut-
eidgenössischen Geist der Solidarität.

Vielleicht hat auch die Fürsprache des
Tessiner Bundesrates Ignazio Cassis für
seinen Kanton geholfen.
Auch Cassis hat dasTessin, das zu be-
stimmten Massnahmen griff, unterstützt.

Warum hat der Bundesrat bisher das
Tessin punkto schärferer Massnahmen
gebremst, undwarumzögert er selber,
härter vorzugehen?
Die Landesregierung versucht, einheit-
liche Massnahmen umzusetzen und
gleichzeitig die unterschiedlichen Situa-
tionen in den einzelnenLandesteilen zu
berücksichtigen. DieAusbreitung des
Coronavirus ist aber nicht einheitlich.
Also gibt esauch verschiedene Mass-
nahmen zum Schutz der Bevölkerung.
Und weil eben imTessin dieVerbrei-
tung früher angefangenhat, sind schär-
fere Massnahmen notwendig geworden.

Werden Sie nun dem Bundesrat entgegen-
kommen undzulassen,dass zumBeispiel
Baustellen wieder geöffnetwerden?
Wir haben dem Bundesrat sofort nach
dessen Erklärung unserenRegierungs-
beschluss zugeschickt, der mit unse-
ren Sozialpartnern und den Unterneh-
mern abgesprochen wurde und der ei-
nige der ergriffenen Massnahmen näher
regelt. Er gilt ab nächsterWoche. Wir
sind zuversichtlich, dass ihn der Bun-
desrat im Sinne der erwähnten Solida-
rität gutheisst.

Was werden die nächsten Schritte sein?
Wir monitorieren laufend die Situation
und passen unsere Massnahmen an.Das
Ziel ist, dieVerbreitung des Corona-
virus zu verlangsamen und so die Spi-
täler zu entlasten.

Was tun Sie für die gebeutelteWirtschaft?
Ein erstes Hilfspaket, das zum Beispiel
Zahlungsstundungen füralle Firmen um-
fasst, wird bereits umgesetzt. Fo lgen wer-
den langfristige Massnahmen wie finan-
zielle Spritzen für denTourismus oder
Investitionshilfen für dieFirmen.

Sie sprachen davon, dasTessin lasse sich
vom Bund nicht «erpressen», was zum
Beispiel die Ersatzzahlungenwegen
Kurzarbeit betreffe.
Das Tessin musste frühzeitig Massnah-
men ergreifen, um die sich verändernde
Situation in den Griff zu bekommen.Wir
begrüssen daher die Entscheidung des
Bundesrates, denn sie bestraft dieTessi-
ner Firmen undArbeitnehmenden nicht.

Können Sie sich auch die Einführung noch
schärferer Massnahmen imTessin vorstel-
len, zumBeispiel eineAusgangssperre?

Hier Prognosen zu machen, ist schwierig,
aber wirkönnen nichts ausschliessen..

Wie befolgen eigentlich die Senioren Ihren
dr inglichen Appell,zu Hause zu bleiben?
Wir stellen allgemein fest, dass den
Menschen die Risiken punkto Corona-
virus viel bewusstergeworden sind–
und die notwendigenVerhaltensregeln.

Schon vorJahren hat die NZZ ge-
schrieben, dasTessin erweise sich als
politisches und auch gesellschaftliches
Experimentierfeld. Gilt das heute noch
viel mehr?
Der gegenwärtigen Sondersituation im
Tessin sollte man grosseAufmerksam-
keit schenken, weil wir vomVirus ei-
nigeWochen früher getroffen wurden.
DierascheAusbreitung des Corona-
virus wird auch die anderen Kantone
nach und nach erfassen. Und dann wer-
den auch sie vor der Notwendigkeit ste-
hen , dringliche und sehr gezielte Mass-
nahmenzu e rgre ifen.Das Tessin be-
weist in dieser schwierigen Zeit viel Zu-
sammenhalt.Das gibt Kraft, um diese
Krise zu meistern.
Interview:Peter Jankovsky

ChristianVitta
Tessiner
KEYSTONE Regierungspräsident

Kantone dürfenBaustellen, welche dieVorschriften des Bundes erfüllen, nichteigenmächtigschliessen. P. GIANINAZZI / TI-PRESS / KEYSTONE

«Fahren Sie über Ostern nicht ins Tessin»


For.· SeiteinigenTagen flacht sich die
Kurve der Corona-Ansteckungen in
der Schweiz ab. Die Zahl derFälle ver-
doppelt sich derzeit alle sechsTage. Die
Schweizkonnte dieVerbreitung des
Coronavirus schneller verlangsamen als
Italien oder Deutschland. Noch besser
ist dies Südkore a gelungen.
Seit elfTagen (Laden-,Restaurant-
und Schulschliessungen) beziehungs-
weise seit einerWoche (Versammlungs-
verbot für mehr als fünfPersonen) sind
die drastischen Einschränkungen des
Bundesrats in Kraft. Nun scheinen sie
zu wirken. Der BundesexperteDaniel
Koch widersprachjedo ch am Freitag
dieser Interpretation. Es sei noch zu

früh, um abschätzen zukönnen, wie
stark der Einfluss der bundesrätlichen
Massnahmen sei. Externe Spezialis-
ten seien in einer vom Bund bestellten
Analyse zum gleichen Schluss gekom-
men.Laut Koch flacht sich dieKurve
auch nicht ab, sondern steigt weiter an.
Am Freitag vermeldete der Bund 12 161
bestätigteFälle und197 Todesfälle.
Gesundheitsminister Alain Berset
sagte, die Einschränkungen des Bun-
desrats würden weitgehend eingehal-
ten. Man dürfe jetzt aber aufkeinenFall
nachlassen. Er appellierte an die Bevöl-
kerung: «Fahren Si e über Ostern nicht
ins Tessin.» Man solle zu Hause bleiben
und die Distanzregeln einhalten.

05101520253035

100

1000

10000

40000

NZZ/nth., cke.

QUELLEN:JOHNS-HOPKINS-UNIVERSITÄT (DATEN),
FINANCIAL TIMES (INSPIRATION)

AbflachendeKurveinder Schweiz,
schnelleAusbreitung in den USA
Anzahl bestätigte Coronavirus-Ansteckungen
pro Tagseit dem 100. Fall
Italien
Schweiz

USA
Japan Singapur

Südkorea Deutschland

Tage seit dem Auftreten des 100. Falls
Die vertikale Achse wurde logarithmisiert (gestaucht),
um dieVeränderungder Ausbreitungsgeschwindigkeiten
besser darstellen zu können. Stand: 26. 3. 2020
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