Neue Zürcher Zeitung - 28.03.2020

(Tina Sui) #1

12 SCHWEIZ Samsta g, 28. März 2020


Manche Touristen sitzen trotz Rückholaktion fest


Das Aussendepartement chartert Flugzeuge –aber nicht allen Schweizern im Ausland ist damit geholfen


LARISSA RHYN, ANTONIO FUMAGALLI


DerAufruf von Bundesrat Cassis vor
knappzweiWochen war unmissver-
ständlich: Schweizer, die imAusland
auf Reisen sind, sollten angesichts der
Coronavirus-Pandemie unverzüglich in
die Heimat zurückkehren. Inden Tagen
danach überschlugen sich dieEreignisse:
Grenzen wurden weitgehend abgerie-
gelt, Flüge gestrichen,Ausgangssperren
verhängt. Seit rund einerWoche chartert
das Aussendepartement (EDA) deshalb
auf eigeneFaust Flugzeuge, um Schwei-
zern die Heimreise zu ermöglichen.
Laut Hans-Peter Lenz, dem Leiter
des Krisenmanagementzentrums des
EDA,läuft derzeit die grössteRück-
holaktion der Schweizer Geschichte.
So konnten bereits1400 Personen aus
Chile, Kolumbien, Marokko, Costa Rica
und Senegal heimreisen. Schweizer
Touristen sind grundsätzlich selbst da-
für verantwortlich,ihre Heimreise zu
planen. Ein Anrecht auf eine organi-
sierteAusreise aus einem Krisengebiet
oder einer Krisensituation gibt es ge-
mässAuslandschweizergesetz nicht. Der
Bund hilft subsidiär, wenn es nicht mehr
anders geht – doch mittlerweile geht es
nun fast überall nicht mehr anders.
Darum hat das EDA schon für die
kommendenTage weitere Heimreisen
geplant. Der Bund schicktFlugzeuge
nach Argentinien, Chile undPeru. Später
sind organisierteRückreisen ausThai-
land,Australien, den Philippinen,Alge-
rien,Tunesien und anderen Destinatio-
nen vorgesehen. Wer wieder heimischen
Boden betritt,muss sich zehnTage lang
selbst isolieren.


Im Host el unte r Quarantäne


Doch nicht alle Schweizer, die sich im
Ausland aufhalten, können aufatmen.
So hat beispielsweise dieRegierung in
Peru den Notstand ausgerufen und ein
Reiseverbot im Landesinneren ver-
hängt. Wer sich nicht in der Hauptstadt
Lima befindet, hat daherkeine Chance,
den Heimflug zu erwischen.Das EDA
schätzt, dass allein in Cusco, etwa 1000
Kilometer von Lima entfernt, rund 170
Schweizer festsitzen.
Zu ihnen gehört AndreaTrüb, die mit
ihremPartner seit knapp zweiWochen
in einem Hostel unter Quarantäne ist.
Sie sagt:«Anfangskonnten wir noch
einmal proTag Lebensmittel einkau-
fen, mittlerweile dürfen wir nicht ein-
mal mehr unser Zimmer verlassen.»
Die strengeren Regeln seieneinge-
führt worden, nachdem zwei Hostel-
gäste positiv auf das Coronavirus getes-
tet worden seien. Sie sind nun in Einzel-
zimmern isoliert.Für alle gelten strenge
Hygieneregeln. «In der Strasse patrouil-
liert das Militär, alles ist desinfiziert wor-
den .» Das Hostel hat die Gäste in einem


Schreiben gewarnt, dass jeder, der sich
nicht an die Quarantäne halte, mit bis zu
zehnJahren Gefängnis bestraft werden
könne. Dauernkönne diese Massnahme
bis zu drei Monate.
Das SchweizerPaar belegt einVier-
bettzimmer, Social Distancing ist dort
kaummöglich. Insgesamt halten sich
acht Schweizer im Hostel auf. Sie ver-
suchen nun, die Heimreise zu organisie-
ren. Trüb ist mit demKonsulat in Cusco
in Kontakt: «Wir werdenregelmässig in-
formiert,aber momentankönnen wir
nur abwarten und hoffen.» Botschafter
Markus-Alexander Antonietti schrieb
vor einigenTagen aufTwitter, dass die
Lage inPeru «sehr schwierig» sei.
Das EDA wollte dieseWoche be-
reits einen Inlandflug von Cusco nach
Lima chartern, alles war organisiert.
Doch dann schritten die peruanischen
Behörden ein, wieJohannes Matyassy,
Direktor derKonsularischen Direktion
des EDA, erklärt. Sie gabenkeine Start-
erlaubnis. Nun prüft die Botschaft, ob
die SchweizerTouristen auf demLand-
weg nach Lima gebracht werdenkön-
nen, um von dort nach Hause zureisen.
Wie viele Schweizer derzeit irgendwo
auf derWelt festsitzen, ist nicht bekannt.
Das EDA bietetAuslandreisenden an,
ihreKontaktdaten auf freiwilligerBasis
auf der Plattform Itineris zu hinterlegen.
Im System sind knapp17 000 Personen

vermerkt. Doch längst nicht alleReisen-
den tragen sich auf der Plattform ein.
Dank Itineris sollen dieTouristen im
Krisenfall besser lokalisiert undkontak-
tiert werdenkönnen.Dass dies in der
jetzigen Krisensituation nicht immer ge-
nügend speditiv funktioniert, zeigt die
Schilderung von Bruno*, derauf der
Plattform eingeschrieben war und vor
wenigenTagen ausKolumbien zurück-
gekehrt ist. Mehr als zweiTage nachdem
Aussenminister Cassis zur sofortigen
Heimkehr aufgefordert hatte, erhielt er
vom EDA eine standardisierte E-Mail.
Darin wurde er aufgefordert, sich mit
seinemReisebüro oder derTransport-
gesellschaft inVerbindung zu setzen,
«umrasch eine Lösung für dieRück-
kehr in die Schweiz zu finden».
Bruno empfing dieNachricht am
Flughafen in Bogotá – er hatte für sich
und seineFrau, so wie vom EDA pro-
pagiert, dieRückreise selbst organisiert.
Heute sagt er: «Hätten wir nur uns nur
auf die via Itineris verschickten Infor-
mationen verlassen, hätten wirkeinen
kommerziellen Flug mehr erwischt.»
Ihm sei schleierhaft, warum es ange-
sichts der klaren Ansage aus Bern ver-
hältnismässig lange gedauert habe, «bis
jemand auf den Senden-Knopf gedrückt
hat». Das EDA sagt auf Anfrage, es
nehme die Kritik vonReisenden ernst
und habe seinenPersonalbestand stark

ausgebaut. Allein die Zahl der Mitarbei-
ter bei der EDA-Helpline hat sich seit
Beginn der Corona-Krise verfünffacht.
Verwirrlich war aber auch, dass die
Schweizer Botschaft inKolumbien ihren
Landsleuten eine E-Mail der österreichi-
schen Botschaft weiterleitete. Darin war
erwähnt,dasssich auch EU/EWR-Bür-
ger für einen Sonderflug meldenkönnten


  • also eigentlichkeine Schweizer Staats-


bürger. Gemäss EDA handelt es sich da-
bei um einVersehen. Man gehe davon
aus, «dass auf dem besagten Flug auch
Schweizer Bürger mitreisenkönnen».

20 000 Anfragen in einerWoche


Solche Freundschaftsdienste unter
Nachbarländern werden seit Anbeginn
der Corona-Krise erbracht. AlsFrank-
reich EndeFebruar seine Staatsbürger
aus dem chinesischenWuhan zurück-
holte, konnten einige Schweizerauf dem
Spezialflug mitreisen. Gemäss Angaben
des EDA haben insgesamt rund 70 Bür-
ger von der Hilfeleistung eines anderen
Staates profitiert.Auch die Schweiz bie-
tet, wenn «ihre» Flugzeuge nicht voll
werden, anderenLändern Plätze an.
Die Schweizer, die Glück hatten und
einen Platz in einem vom EDA gechar-
terten Flug ergatternkonnten,zahlen
ungefähr so viel wie für ein übliches
Flugticket. DierestlichenKosten trägt
der Bund – der dafür wegen der ausser-
ordentlichenLage ein Spezialbudget hat.
Rund 10 000Anrufeund ungefährgleich
viele E-Mails hat die Helpline desBun-
des in der letztenWoche erhalten. Bis
am Donnerstag hatte das EDAKennt-
nis von mehrere n Schweizern, die im
Ausland an Covid-19 erkrankt sind,so-
wie von einerPerson, die gestorben ist.
Konsulardirektor Matyassy sagte am
Donnerstag, Schweizer Bürger müssten
weiterhin versuchen,aufkommerziel-
len Flügen zurückzukehren. Nicht allen
sei bewusst, dass sie hierbei Eigenver-
antwortung hätten: «Es gibt derzeit eine
interessante Diskrepanz zwischen der
Erwartungshaltung und dem, was mach-
bar ist», sagte Matyassy weiter. So könne
dasAussendepartement nicht einfach
einen Helikopter auf eine kleine Insel
vor Venezuela schicken.
* Namegeändert.

Das Tessin rechnet mit dem Corona-Peak in zwei Wochen


Die Verantwortlichen inden Covid-19-Spitälern geben sich optimistisch – vorausgesetzt, die Bevölkerung bleibt tatsächlich zu Hause


PETERJANKOVSKY, BELLINZONA


Im Südkanton liegen die Corona-Patien-
ten in zweieigens für sie eingerichteten
Spitälern. Das KrankenhausLa Carità in
Locarno kann man als eigentliches Co-
vid-19-Zentrum bezeichnen, die Privat-
klinik Moncucco in Lugano ist die zweite
Adresse für akuteFälle. In der gleichen
Stadt nimmt auch das Ospedale Italiano
Corona-Patienten auf, und zwar solche,
die auf demWeg der Besserung sind.
Man habedie Situationaus jetziger
Sicht unterKontrolle, sagt der Direktor
des Carità-Krankenhauses Luca Mer-
lini. Und er siehtnoch einigen Spielraum,
was die Belegung der Betten für Corona-
Patienten betrifft.Dennlaut seinenWor-
ten treffen proTag 20 neue Erkrankte im
Locarner Spital ein, und 10 bis15 ver-
lassen es. Somit sieht sich dasPersonal
immer noch in derLage, sich um jeden
Patienten ausreichend zu kümmern.


Doch wie gross ist der Spielraum
noch? Die aktuellen Zahlen legen eine
Zeitdauer von etwa zweiWochen nahe.
GemässPaoloFerrari, dem medizini-
schen Direktor derTessiner Kantons-
spitäler, zu welchen auch das Carità-
Krankenhaus gehört, stehen imTessin
498 Betten für Corona-Patienten ohne
künstliche Beatmung zurVerfügung.
Und von diesen Betten sind seitFreitag
317 belegt. Bisher wurden1688 Anste-
ckungen verzeichnet, die Zahl der ver-
storbenenPersonen stieg auf 76 an.

Soziale Distanzist entscheidend


Nun stehen auf denTessiner Intensiv-
stationeninsgesamt98BettenfürCorona-
Patienten zurVerfügung. Davon waren
am Freitag 63 besetzt,57 Personen wur-
den künstlich beatmet.Weil man lautFer-
rari momentan im Schnitt jedenTag drei
Intensivbetten mehr braucht, dürfte die

Kapazitätsgrenze in etwa zweiWochen
erreicht sein. «Uns steht dasWasser nicht
bis zum Hals, und das wird es auch spä-
ter nicht, wenn das Gebot der sozialen
Distanz genügend greift.»Falls dieKurve
der Ansteckungen in den nächsten zwei
Wochen nicht allzu schnell und zu steil
ansteige, werde man den Höhepunkt der
Erkrankungen bewältigenkönnen.Dies-
bezüglich zeigt sichFerrari zuversichtlich,
zumal sich dasTessin schon seit längerem
auf einen solchenPeak vorbereite.
Umrechtzeitig vorzusorgen, bringt
man unter anderem die allmählich ge-
nesenden Corona-Patienten so früh wie
möglich aus den drei Covid-19-Spitä-
lern in andere Krankenhäuser. Dort lei-
tet man ihre Erholungs- undRehabilita-
tionsphase ein.So sollte die Bettenauslas-
tun g in den Corona-Spitälern möglichst
langsam an ihre Grenzen stossen.Wie
zudem Carità-Direktor Merlinierklärt,
könnten in seinem Spital maximal 75 Be-

atmungsgeräte zurVerfügung stehen, in
der Moncucco-Klinik45 und imTessiner
Herzzentrum weitere 6.Das wären insge-
samt 126 Geräte bei momentan 98 vor-
handenen Covid-19-Intensivbetten.
Ist aber eine weitereAufstockung
an Betten für Corona-Patienten über-
haupt noch möglich?Das scheine nicht
sehrrealistisch, meint der medizinische
DirektorFerrari.Was vor allem daran
liege, dass bereits alles verfügbare quali-
fiziertePersonal im Einsatz sei.In seinen
Augenkönnen praktischkeine zusätz-
lichenPersonen aufgeboten werden,und
auch die bisherige punktuelle Hilfe aus
der Deutschschweiz dürfte wegfallen.
Denn dort steht eine massive Zunahme
der Erkrankungen erst noch bevor. Also
wirdTessinerPersonal,das zwar Corona-
positiv ist, aber nach 48 Stunden Beob-
achtungszeitkeine Beschwerden auf-
weist,wieder in den Spitälern eingesetzt.
«Wir alle geben unser Bestes, niemand

lässt den Mut sinken», erklärt Carità-
Direktor Merlini.Das an seine Grenzen
gehende medizinischePersonal müsse
jedenTag neue Probleme lösen, so dass
niemand ins Grübeln gerate. Dies helfe
auch, die starke seelische Belastung im
Zusammenhang mit denTodesfällen
auszuhalten. Und schliesslich spreche
man sich gegenseitig Mut zu.

DankbarerFes tivalpräsident


Genau für diese Haltung dankbar ist
auch Marco Solari, Präsident desFilm-
festivals Locarno. Er wurde vor etwa zwei
Wochen ins Carità-Spital eingeliefert und
am Dienstag nach Hause entlassen.Ärzte
und Pflegende hätten sich trotz der un-
glaublichen Belastung ihreFreundlich-
keit und Zuversicht bewahrt, erklärte
Solari. Und er selber habe den Sensen-
mann schon sehr nahe vor sich gesehen.
Doch er habe sich nicht aufgegeben.

SchweizerReisendewarten am Flughafen vonBogotá – sie kehren per Spezialflugnach Hausezurück. MARWIN PRODUCTIONS / KEYSTONE

Was be zahlt die Reiseversicherung?


fum.· Viele SchweizerTouristen ver-
fügen über eineReiseversicherung. Aber
kommt dieseauch zumTragen, wenneine
Auslandreise – wie derzeit in unzähligen
Fällen – aufgrund eines weltweit gras-
sierendenVirus frühzeitig abgebrochen
werden muss? Eine allgemeingültige
Antwort gibt es nicht, jedeVersicherung
behandelt dieKundenanfragen indivi-
duell. DieReiseversicherung der Allianz
schreibt aufihrer Website etwa, dass es
sich bei Epidemien undPandemien um
Ereignisse handle, die explizit nicht ver-
sichert seien.Auch behördliche Mass-
nahmen wieReisebeschränkungen seien
vomVersicherungsschutz ausgeschlos-
sen.Reisenden in Not biete man aber
«selbstverständlich aktive Hilfe» an, so
die Allianz.Dass der Bundesrat die aus-

serordentlicheLage im Sinne des Epide-
miengesetzes ausgerufen habe, ändere
nichts an derVersicherungsleistung.
Die EuropäischeReiseversicherung
(ERV) ihrerseits erstattet auf freiwilliger
Basis die Mehrkosten für unplanmässige
Rückreisen bis 2000 Franken pro versi-
chertePerson, sofern dieReise vor dem


  1. März angetreten wurde. Zudem biete
    man bei der Organisation derRückreise
    Unterstützung an. BeiReisen, die bis

  2. April geplant waren und nun nicht
    angetreten werdenkönnen, werden die
    Annullationskosten übernommen. Doch
    auch die ERV schreibt: «Pandemien ge-
    hören als Extremereignis zu den nur sehr
    beschränkt versicherbaren Ereignissen,
    da sie schwer kalkulierbar sind und welt-
    weit mit grossem Ausmass auftreten.»

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