Neue Zürcher Zeitung - 28.03.2020

(Tina Sui) #1

Samsta g, 28. März 2020 SCHWEIZ 13


Wer das Land durch die Krise führt


Die ausserordentliche Lage gibt dem Bundesrat grosse Kompet enzen – die föderale Schwei z betritt Neuland


GEORG HÄSLERSANSANO, BERN


Es warJahre vor der Corona-Krise in
einemBernerOberländerDorf.DieGe-
meindepräsidentin sass zusammen mit
ihrem Feuerwehrkommandanten, dem
ZivilschutzchefundeinemGeologenam
BesprechungstischinihremengenBüro.
Nach tagelangenRegenfällen war die
linke Talflanke ineinemMurgangabge-
rutscht.DerSchuttstautedenBergbach
zu einem See oberhalb des Dorfs.
Der Betreiber des lokalen Kraft-
werks machte Druck: Die Gemeinde
solle dafür sorgen, die Strasse wieder
zu öffnen.EineBaustelle stehe still,das
koste jedenTag viel Geld.
Doch der Geologe riet der Ge-
meindepräsidentin, standhaft zu blei-
ben. Die neueLandschaft zu akzeptie-
ren. Beim Kanton eine neue Strasse zu
beantragen. DieBaustelle könne war-
ten, auch wenn die Kraftwerke der
grösste Arbeitgeber imTal seien. Die
Gefahr einer Flutwelle sei zu gross,
wenn am Schuttkegel etwas verändert
werde. Ausserdem sei der Berg weiter
oben noch immer in Bewegung. Der
Feuerwehrkommandant und der Zivil-
schutzchef stimmten zu. Der Kanton
bauteeineNotstrasseundbaggertespä-
ter ein neues Flussbett. Ein Entscheid
des Gemeindeführungsorgans, der am
Ende auch vom Kraftwerkbetreiber ge-
tragen wurde.


Lokale Führung als Rückgrat


Genau so, wie damals während der
Hochwasser imJahr 2005, funktioniert
dieSchweizinKatastrophen:Inkleinen,
lokalen Zellen, von unten nach oben
organisiert. «Bottom up», um es etwas
modischer zu sagen. Die Gemeinden
und Bezirke kümmern sich um die un-
mittelbare Not im Nahbereich,vernetzt
mit demFührungsorgan auf StufeKan-
ton ,dasdieübergeordnetenEntscheide
trifft und zwischen den einzelnen Orga-
nisationenkoordiniert. DieFührungs-
organe auf dieser Stufe sind dasRück-
gratdesschweizerischenBevölkerungs-
schutzes, weil sie die einzelnen Men-
schen und Gemeinschaftenerreichen,
aber auch dieWirtschaft mit einbezie-
hen können.
Doch jetzt,in der Corona-Krise, hat
der Bund übernommen. Die ausser-
ordentlicheLage, die ihm gemäss Epi-
demiengesetz weitgehendeKompeten-
zen gib t, übersteuert seit einerWoche
die Kompetenzen der Gemeinden und
Kantone. Jetzt führt der Bundesrat,
beraten vom Bundesamt für Gesund-
heit (B AG). Der Handlungsspielraum
der kantonalen Behörden wird mit den
«Verordnungen über die Massnahmen
zur Bekämpfung des Coronavirus»
mehr und mehr beschränkt.


Katastrophen und Notlagen


Was sich bei Hochwasser, Bergstür-
zen oder Sturm bewährt hat, gilt in der
grössten Bedrohung der öffentlichen
Ordnung der Schweiz seit dem Zweiten
Weltkrieg nur noch bedingt.Das Virus
scheint sich in die ererbten und erprob-
ten Strukturen des Gemeinwesens ein-
zuschleichen.
Doch ein wirklicher Paradigmen-
wechsel sei dies nicht, stellt Hanspeter
von Flüe, Vorsteher des Amtes für Be-
völkerungsschutz,SportundMilitärdes
Kantons Bern, auf Anfrage derNZZ
fest. Von Flüe hat sich in derVergan-
genheitstetsfürdenFöderalismusinder
Krisenbewältigung starkgemacht und
sich gegen zu vieleKompetenzen auf
Bundesebene ausgesprochen.Entschei-
dend für die Zuteilung derFührungs-
kompetenz ist laut von Flüe allerdings
die Unterscheidung zwischen Katastro-
phen und Notlagen.
Unmittelbare Naturere ignisse wie
ein grosserMurgang müssen gemäss
von Flüe in erster Priorität auf lokaler,
allenfallsregionaler Ebene bewältigt
werden. Es handeltsich um Katastro-
phen oder Grossereignisse, die punk-
tuell und plötzlich auftreten.Eine Not-
lage dagegen erstreckt sich über eine
längere Zeit. DieFolgen sind erst mit


de r Zeit spürbar– wie jetzt imFall
der Corona-Pandemie. Auch Hitze-
wellen, Nuklearunfälle oder Stromaus-
fälle über längere Zeitkönnen zu Not-
lagen führen.
Im Gegensatz zu Katastrophen
müsse in solchen Situationen, so der
oberste Berner Bevölkerungsschüt-
zer von Flüe, von oben nach unten ge-
führt werden. Dieser Logik folgt auch
das Epidemiengesetz. Es eskaliert von
dernormalenüberdiebesonderebiszur
ausserordentlichenLage und delegiert
damit auch dieKompetenzen weg von
den Kantonen hoch auf Bundesebene.
Je schlimmer dieLage, desto einheit-
licher dieFührungsstruktur.

Krisentyp der Zukunft


Deutlich wird die Unterscheidung zwi-
schen Lage und Ereignis auch in einer
Risikoanalyse des VBS, die 20 15 noch
unterBundesratUeliMaurerveröffent-
lic ht worden ist.Das Kernstück ist ein
Diagramm, das die Gefährlichkeit von
Ereignissen nach Häufigkeit und Scha-
denpotenzial in Milliarden einordnet.
Als höchstes Risiko wird eine mehr-
wöchige Strommangellage ausgewie-
sen. Fast a ls ebenso gefährlich wird
eine Pandemie eingeschätzt. Gemäss
derAnalyse unter demTitel «Katastro-
phen und Notlagen Schweiz»kommt
eine solche Krankheitswelle einmal
alle dreissigJahre vor und verursacht
einen Schaden von gegen 100 Milliar-
den Franken.
DasThemaPandemiehatinderPrä-
vention des Bevölkerungsschutzes seit
Anfang des 21.Jahrhunderts eine hohe
Priorität. Bereits 2005 führte der Bund
eine strategischeFührung sübung mit
einem entsprechenden Szenario durch.
Ausgangspunkt waren die Erfahrungen
mit der Lungenkrankheit Sars in den
Jahren zuvor. Die Bundeskanzlei for-
mulierte denKontext wie folgt: «Das
Szenario ‹Epidemie in der Schweiz› bil-
detdie KulissezurÜberprüfungundzur
Optimierung derFührungssysteme des
Bundes.Esstehtstellvertretendfürneu-
artigeHerausforderungeneinesKrisen-
typs der Zukunft.»
ÜberprüftwurdenindiesemZusam-
menhang damals die Zusammenarbeit
zwischen den Departementen, die Zu-
ständig keiten innerhalb derFührungs-
organisationen und dieKommunika-
tion als Teil der Führungsprozesse. Im
Schlussbericht zur Strategieübung wird
lobend erwähnt,dass dieFederführung
situationsgerecht dem Innendeparte-
ment übertragen worden sei. Der Kri-
senstab desBundesamts für Gesund-
heit «übte f achlich in überzeugender

Weise eineFührungs rolle aus» , schrieb
die Übungsleitung im Schlussbericht.
Optimierungspotenzial wird, aller-
dingssubtilzwischendenZeilenformu-
liert, in der Koordination zwischen den
Departementen und mit den Kantonen
erkannt.DieEinführungderStabsstelle
im Bundesamt für Bevölkerungsschutz
2011 und derAusbau der elektroni-
schen Lagedarstellung schafften dar-
aufhin Instrumente, die einekohärente
Führung ermöglichen sollten.
Zehn Jahre später, 2014, wurde in
einer Verbundsübungderverschiedenen
Partner des Bevölkerungsschutzes aller
Staatsstufen,von den Kantonspolizeien
bis zum Bundesamt für Gesundheit,die
Kombination einer Strommangellage
miteinerPandemieüberprüft.DieEmp-
fehlung der Übungsleitung im Schluss-
bericht war unmissverständlich: «Die
Verbindung mit denKanton en ist zu
klären, ihreVertretung im Bundesstab
zu überprüfen und zu verbessern.»

Mehr Aufgabenfür Bundesstab


UnteranderemalsFolgedieserÜbung
erweitertederBundesratvorzweiJah-
rendie AufgabendesBundesstabs.Neu
koordinierterauchbeiErdbeben,Pan-
demien,einemAKW-Unfallodereiner
St rommangellage.MehrereInsideraus
der Verwaltung berichten, dass dieses
zentraleKoordinationsinstrumentin
der Corona-Krise erst sehrzöge rlich
hochgefahren worden sei. Spätestens
seit dem 28.Februar, als der Bundes-
rat die besondereLage gemäss Epi-
demiegesetz beschloss, ist der Bundes-
stab als oberstes Krisenführungsorgan
aktiviert.
Das Bundesamt für Gesundheit
(BAG) schreibt a uf Anfrage, dass die
verantwortlichen Behörden von Bund
und Kantonen ad hockooperierten,
«basierendaufdenaktuellenBedürfnis-
sen, und siekoordinieren sich imRah-
men des Bundesstabs». DenVorsitz hat

das BAG, der Bundesstabkoordiniere
seitens Bund,«falls erforderlich».
DieKantonesindwesentlicherfahre-
nerinihrerKrisenorganisation,weildie
kantonalenFührungsorgane (KFO) in
der Vergangenheit verschiedene Ernst-
fälle zu bewältigen hatten. Im Kanton
Bern bündelt das KFO unter Hanspe-
ter von Flüe alle Aktivitäten im Zu-
sammenhangmitdemCoronavirus.Die
Kantonsärztin liefert die epidemiologi-
sche Einschätzung, der Generalsekre-
tär derWirtschaftsdirektion dieDaten
über den Zustand der Wirtschaft. Mit
am Tisch sind neben anderen auch die
Kantonspolizei,derZivilschutzoderdie
Rettungsdienste.

«Lessons learned»


Die Führungsorgane der Kantone spie-
len also weiterhin eine Schlüsselrolle in
derBewält igungderKrise.Siesindeiner
derResilienzfaktorendesSystems–und
auch Treiber für weitergehende Mass-
nahmen. Die Ausnahmeregelung für
besonders betroffene Kantone, die der
BundesratamFreitagindieVerord nung
aufnahm, trägt diesem UmstandRech-
nung. So hatte Bundesrat Alain Berset
die Tessiner Regierung schon bei sei-
nem Besuch in Bellinzona für ihr muti-
gesHandelngelobt:«DerKantonTessin
hat eine Pionierrolle in dieser Corona-
virus-Krise übernommen.»
DerBundbetrittmits einemKrisen-
managementtäglichNeuland.DasFazit
von Toni Frisch, der die letztePande-
mie-Übung2014 leitete , gilt jetzt für
denErnstfall:DiewichtigeZusammen-
arbeit zwischen Bund,Kantonen und
Dritten zur Bewältigung einer natio-
nalen Notlage sei weiter zuverstä r-
ken und zu trainieren. Die «lessons
learned», die Lehren aus der Corona-
Krise, werden dem Bund ebenso zu-
gutekommenwiedenFührungsorganen
der Gemeinden die Erfahrungen aus
Unwettern und Murgängen.

Der Bund übernimmt nur in extremen Notlagen das Krisenmanagement.Der Bundesstab als oberstes Führungsorgan erlebt nun
seine Bewährungsprobe in der schwerstenKrise seit demZweiten Weltkrieg. DOMINIC STEINMANN / NZZ

IN KÜRZE


Militär für die
Grenzsicherung ei ngesetzt
(sda)· Das wegen der Covid-19-Pan-
demie verschärfteGrenzregime fordert
dasZollpersonalinderSchweiz.Darum
helfen Militärpolizisten und ein Miliz-
bataillon an den Grenzen aus. Ihr Ein-
satzstarteteamFreitagundläuftbefris-
tet bis EndeJuni. Die Unterstützung
dient der «längeren Durchhaltefähig-
keit» ihresPersonals , wie die eidgenös-
sische Zollverwaltung (EZV)mitteilte.
DieEZVkanndieverschärftenKontrol-
lenanderGrenzeundimHinterlandmit
ihre m Personal nicht über längere Zeit
aufrechterhalten. Deshalb beantrag-
ten das EidgenössischeFinanzdeparte-
mentunddasDepartementfürVerteidi-
gung,BevölkerungsschutzundSportdie
Unterstützung durch dieArmee. Diese
erfolgt imRahmen des vom Bundesrat
beschlossenenEinsatzesvonbiszu80 00
Wehrleuten.

Lage bei Schutzmaterial
hat sich entspannt
(sda)· In Deutschland bestehenkeine
Einsch ränkungen mehr beim Export
von medizinischem Schutzmaterial in
die Schweiz, wie das Seco amFreitag
mitteilte. Die Waren seien unterwegs
oder bereits in der Schweiz. Die dem
Staatssekretariat für Wirtschaft be-
kannten Probleme seien gelöst.«Gene-
rellhatsichdieLageentspannt.»Verein-
zelte Unternehmen hättenVerzögerun-
gen in derAbwicklung der Lieferungen
aufgrund von «operationellen Heraus-
forderungen» gemeldet.

Boom von Sendungen
bei der Post
(sda)· Bei der SchweizerischenPost
gibtesderzeitalleHändevollzutun.Das
UnternehmenwirdmitPaketsendungen
überschwemmt.DieserklärtePost-Chef
Roberto Cirillo in einem Interview mit
denZeitungenderCH-MediavomFrei-
tag. «Vor zweiWochen hatten wir bei
den Paketen einen Zuwachs von etwa
15ProzentgegenübernormalenZeiten»,
sagtederManager.DieSendungenhät-
ten aber nochmals stark zugenommen.
«Mittlerweile transportieren wir gleich
viele Pakete wie üblicherweisevor
Weihnachten», betonte er.

Halbtax-Kunden
gehen leer aus
(sda)· De r öffentlicheVerkehr ver-
ringert unter der Leitung von SBB
und Postauto sein Angebot, weil in der
Coronavirus-Krise diePassagiere aus-
bleiben. Die Organisation Alliance
Swisspass beschäftigt sich derweil unter
Hochdruck mit der Entschädigung von
Abonnementskundinnen und -kunden.
DieUnternehmendesöffentlichenVer-
kehrsmöchtenInhaberneinesGeneral-,
Verbund-, Strecken- und Moduljahres-
abonnements eine adäquate Entschä-
digung zukommen lassen, wie Alliance
Swisspass amFreitag mitteilte. Inha-
berinnen und Inhaber eines Halbtax-
Abonnements hingegen gehen leer aus.
SiehättendieKostenderErmäss igungs-
karte meistnach kurzer Zeit und weni-
gen Fahrten amortisiert, begründet die
Allianz den Entscheid.

Eine Röhre des Löt schberg-
Basi stunnels bleibt gesperrt
(sda)· Nachdem Mitte März erneut
WasserundSchlammindenLötschberg-
Basistunnel eingedrungen sind, bleibt
einederbeidenTunnelröhrennochmeh-
rere Wochengeschlossen.DerBahnver-
kehr kann dennoch abgewickelt wer-
den, da der öffentlicheVerkehr wegen
derCorona-Epidemieohnehinreduziert
wurd e. Das Bahnunternehmen BLS hat
daherbeschlossen,dieReinigungsarbei-
tennurnochineinerstattzweiSchichten
weiterzuführen.Dadurch dauerten die
Arbeiten zwar länger, doch könne das
Bahnunternehmen umsichtiger mit sei-
nen Personalressourcen umgehen.

Grosseinsatz des Zivilschutzes


geo.· Neb enderArmeestehtauchder
Zivilschutz im Einsatz.Laut Christoph
Flury, stellvertretendem Direktor des
Bundesamts für Bevölkerungsschutz,
unterstützen rund 5000 Schutzdienst-
pflichtige das zivile Gesundheitswesen.
WeiterehaltensichzuHausebereit,um
ebenfalls einzurücken.
Die Zivilschützer betreibenTriage-
stellen vor Spitälern, helfen bei der
ambulanten Betreuung vonPatienten
oder sitzen amTelefon von Helplines.

Die Einsatzkompetenz dafür liegt
beidenKantonen.Aufgebotesindver-
bindlich.AufunentbehrlicheMitarbei-
ter ziviler Betriebe wird Rücksicht
genommen. ImKanton Graubünden
haben sich Angestellte aus derTou-
rismusbranche freiwillig für Einsätze
gemeldet.
2004 wurde der eigentliche Sanitäts-
dienstdesZivilschutzesabgeschafft.Seit
längerem wird intern über dieWieder-
einführung diskutiert.
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