Neue Zürcher Zeitung - 28.03.2020

(Tina Sui) #1

14 ZÜRICH UNDREGION Samstag, 28. März 2020


«Aline,


hören Sie mich?»


Alle Zürcher Gymnasien haben auf


Online-Fernunterricht umgestellt. Das klappt


bereits recht gut. Doch die Verbindung


zu den anderen in der Klasse bleibt essenziell,


wie ein «Schulbesuch» in der zweiten Woche


des Shutdowns zeigt.


ROBIN SCHWARZENBACH (TEXT),
CHRISTOPH RUCKSTUHL (BILDER)


Dienstagmorgen um8 Uhr, die Klasse
von Stefan Hofer an der Kantonsschule
Enge trudelt langsam ein – am Bild-
schirm. «Aline, hören Sie mich?», fragt
der Deutschlehrer. «Jona, sind Sie auch
bei uns?Vermissen Sie den langen Schul-
weg?» –«Definitiv nicht!», antwortet
die 15-Jährige, die in Samstagern wohnt
und bis vor zweiWochen jedenTag bi s
zu zwei Stunden mit dem öV unter-
wegs war. Jetzt, da die Schule wegen
des Coronavirus geschlossen ist, sind es
nur noch wenige Schritte, vom Bett bis
zum Schreibtisch zu Hause. Das Kurz-
zeitgymnasiumarbeitet mitTeams, einer
Software, die in diesen aussergewöhn-
lichenTagen auchvon vielen Unterneh-
men benutzt wird für Online-Konferen-
zen und Gruppen-Chats. Und wie in vie-
len Firmen dauert es auch in der Klasse
A1a ein paar Minuten, bis alle 23 Schü-
lerinnen und Schüler zugeschaltet sind.


Wie läuftes zu Hause?


Doch das macht nichts – vor allem nicht
bei diesen erstenTreffen desTages, die
die Kanti Enge eigens für die klassen-
zimmerfreie Zeit eingerichtet hat: Die
täglichen«Morgenrituale» um 8 Uhr
sind nicht zum Unterrichten da, Schüler
und Lehrer sollen sich über mindestens
ebenso wichtigeFragen austauschen:
Wie läuft es zu Hause?Wer braucht
Unterstützung, technische oder persön-
liche Hilfe?
Und vor allem:Wie geht es den
Jugendlichen,die mit ihren Klassen-
kollegen nur noch onlinekommunizie-
ren können?
Jeder soll kurz etwas sagen. Bei Be-
darf steht der Lehrer später auch für
Einzelgespräche zurVerfügung. Und wie
wäre es mit ein paar Untergruppen, mit
vier bis fünfFreundeskreisen zum vir-
tuellenAustausch untereinander, wie es
eine Kollegin von Hofer eingeführt hat?
«Das wäre vielleicht etwas für die nächs-
ten Tage. Oder für die nächstenWochen



  • wir wissen ja nicht, wie lange wir
    noch so arbeiten werden.»Dann folgt
    der morgendliche Höhepunkt: Schüler
    und Lehrer führen vor, wie gut sie be-
    reits jonglierenkönnen mit zweiBällen.
    Diese Idee stammt von Stefan Hofer;
    etwasAblenkung vom Home-Schooling-
    Trott kann nicht schaden.
    An der Kantonsschule Enge müssen
    sich die Schüler an einenWochenplan
    halten, ähnlich wie an den Stundenplan
    im Normalbetrieb. Nach den «Morgen-
    ritualen» folgen«Touchpoints» in den
    einzelnenFächern: Die Lehrer vermit-
    teln neuen Stoff am Bildschirm, verge-
    ben Aufträge oder stehen fürFragen
    live zurVerfügung, dies während einer
    Einzel- oder einer Doppelstunde. Das
    kann, muss aber nicht die ganze Lek-
    tion über im Präsenzunterrichtam Com-
    puter geschehen.Wichtig ist, dass Schü-
    ler und Lehrer in diesen Zeitfenstern in
    Kontakt miteinander sind – «in welcher
    Form auch immer», wie es in einerVer-
    einbarung unter Lehrerinnen und Leh-
    rern des Gymnasiums heisst.


Für ein anderesKonzept hat sich
die KantonsschuleWiedikon entschie-
den. Dort lernen die Schüler asynchron:
Einen Stundenplan gibt es nicht mehr.
Stattdessenkönnen dieJugendlichen
ihre Aufträge undAufgaben online sel-
ber abgreifen. Fristen für die einzelnen
Punkte gibt es zwar. Und am Ende einer
Woche müssen die Schüler der Klassen-
lehrpersonjeweils ein Feedback geben.
Doch wann sie welche Module bearbei-
ten, ist ihnen überlassen.

Druck herausnehmen


Dieser selbstorganisierte Ansatz hat
viel mitVertrauenschenken zu tun.
«Die Schüler geniessen das», sagt Mar-
tin Andermatt, derRektor des Gymna-
siums. Und natürlich: Die Lehrer seien
auch imWiedikon gehalten, mit ihren
Schülerinnen und Schülern inKontakt
zu bleiben.Das funktioniere auch ohne
Stundenplanstruktur, zum Beispiel in
Klassenforen.
Der Rektor lässt im Gespräch indes
durchblicken, dass seine Schule in der
Digitalisierung bisher eher behutsam
agiert habe – bis man von der Corona-
Kriseüberrum pelt worden sei: «Bis am
Mittwoch vor dem Bundesratsentscheid
rechneten wir nicht damit, dass Schu-
len geschlossen werdenkönnten.» Er-
fahrungen mitTeams oder demVerwal-
tungsprogramm OneNote hatte bis zu
diesem Zeitpunkt nur einTeil derPäd-
agogen gemacht.ImFernunterrichtkon-
zept vom16. März werden Lehrerinnen
und Lehrer gebeten,zuerst beiKolle-
gen in derFachschaft nachzufragen, da-
mit die IT-Abteilung der Schule nicht
mit Anfragen überhäuft werde.
Weiter berichtet Andermatt von der
Sorge pflichtbewusster Lehrpersonen,
wie die (Online-)Leistungen der Schüler
zu benoten, wie die Klassenziele unter
diesen Umständen zu erreichen seien.
DerRegierungsrat hatam vergange-
nen Mittwoch zwar beschlossen,dass im
laufenden Semesterkeine Noten verge-
ben werden.Davon ausgenommen sind
allerdings die letzten beidenJahrgänge
vor der Matur. Und was ist, wenn die
Schulen auch nach denFrühlingsferien
EndeApril geschlossen bleiben sollten?
Andermatt betont, was man wohl
nicht genughervorheben kann:Jetzt
gehe es zuerst darum, Druck herauszu-
nehmen aus dem Schulalltag. «Wir wol-
len sinnvoll unterrichten,sinnvolle Leis-
tungsbeurteilungen für Maturanden
werden sich später ergeben.»

Arbeitsblätter, Lernvideos, Quiz


PatrickSpengler, Phy sik- und Infor-
matiklehrer in Wiedikon,setzt für sei-
nen Unterrichtauf Moodle, eine weitere
Lernplattform. Dortlädt erAufgab en
und Lernvideos für seineKlassen hoch,
deren Inhalt die Schüler zu Hause auf
entsprechenden Arbeitsblätternrekapi-
tulieren können:individuell, im eigenen
Tempo, ähnlich wie später an der Hoch-
schule, so der Gedanke.Theoretisch lies-
sen sich auchVideos von Experimenten
einbinden.Doch weil sich solcheVer-
suche vor allem dann einprägen, wenn

die Schüler sie selber durchführen,müs-
sen Spenglers Gymnasiasten derzeit mit
anderenElementen vorliebnehmen. In
dieserWoche etwa mit einem Quiz in
Bewegungslehre mit folgenderAufgabe:

Ein Auto fährt mit einer konstanten
Ges chwindigkeit von 67,8 km/h und
befindet sich um 8:43 Uhr noch 159
Kilometer vom Ziel entfernt.Wie viele
Kilometer ist dasAuto um 9:19 Uhr
noch vom Ziel entfernt?

Notizen machen,rechnen. Die Antwort
eintippen, und dann weiter zur nächs-
ten Aufgabe. Spengler sagt: «Bis jetzt
wurden alleAufträge fristgerecht ein-
gereicht.»
Bei Stefan Hofer steht am späte-
ren Dienstagvormittag eine Doppel-
stunde auf dem Programm. Die A1a der
Kanti Enge befasst sich mit «Nora (Ein
Puppenheim)», einem sozialkritischen
Drama von Henrik Ibsen. DieJugend-

lichen freuen sich: Der Deutschlehrer
hat sie auf Zoom eingeladen. Mit die-
ser Video-Appkönnen sich alle Schüler
gleichzeitig sehen,und nicht nur vier auf
einmal wie beiTeams. Und man kann
den Hintergrundam Bildschirm mit
lustigen Bildern personalisieren. «Al-
ter, wie hast du das gemacht?!» – «Oh
Mann, mein Computerist zualt dafür!»
Dann sind für alle die ersten Seiten
der Reclam-Ausgabe zu sehen: die aus-
führliche Beschreibung desWohnzim-
mers vor dem ersten Akt; die Drama-
tis Personae, wo – sinnbildlich für das
ganze Stück – die Hauptfigur bereits
zum Objekt eines Mannesreduziert
wird («Advokat Helmer / Nora, seine
Frau»). Der Lehrer erläutert,stell t Fra-
gen in dieRunde. Er blendet Slides ein,
auf denen auchKommentare aufschei-
nen,die ihm die Schüler zuvor (über So-
crative, ein weiteres Online-Tool) zuge-
schickt haben. Später bittet Hofer die
Jugendlichen darum, ihre Eindrücke
vom Beginn desTheaterstücks in einem
Live-Chat am Bildschirm festzuhalten.
Hofer lässt seine Schüler viel schrei-
ben.Das können auch wenige Sätze
sein, die gleich eingebunden werden in
den Unterricht und zu weiteren Diskus-
sionen anregen. «Das hat denVorteil,
dass sich auch Schüler zumAusdruck
bringen, die mündlich zurückhaltender
sind», sagt der Deutschlehrer.

Digital allein genügt nicht


Sicher, der 48-Jährige gehört zu jenen
Pädagogen, die sich schon länger mit
digitalen Möglichkeiten im Klassen-
zimmerauseinandersetzen. Die tech-
nische Umstellung aufFernunterricht
dürfte Lehrerinnen und Lehrern wie
ihm etwas leichter fallen alsKollegen,
die bis anhin vor allem klassisch unter-
wegs waren. Doch auch in der Corona-

Krise dürfte sich bewahrheiten, was
keine neue Erkenntnis ist und im Zuge
der fortschreitenden Digitalisierung
trotzdem gerne vergessen geht: Schule
bleibt Beziehungsarbeit. Neue Kanäle
solltenkein Selbstzweck sein, da die
Verbindung zwischen Schülern und
Lehrern – hoffentlich – schon vorher
funktioniert hat.
«Ich finde Online-Unterricht nicht
toll.Aber es klapptrecht gut», sagt zum
Beispiel Reto Bonifazi, ein Kollege
Hofers, der sich als Skeptiker digitali-
sierter Methodenbezeichnet und statt-
dessen grossenWert auf den persön-
lichenAustausch mitden Jugendlichen
legt. Seine Schüler hingegen fänden es
super am Computer. Seinen Deutsch-
unterrichtkönne er fast gleich fortfüh-
ren wie vor der Pandemie, erläutert
der 61-Jährige. Würde er ähnlich klin-
gen, wenn er dieBasis dafür nichtschon
längst gelegt hätte – offline, in eingehen-
den Diskussionen mit seinen Klassen?
Die Doppellektion von Stefan Hofer
neigt sich derweil dem Ende zu.Bald
würde es klingeln – Mittagspause. Die
meisten Schülerinnen und Schüler der
A1a sind zwar zufrieden mit dem Unter-
richt.«Andere Lehrer machen garkeine
Videokonferenzen», sagt eine Schüle-
rin. «Aber die vielenTools, die vielen
Informationen der Schule, jeder Lehrer
macht es anders – das ist anstrengend»,
entgegnet einKollege. – «Ja, und dass
wir die ganze Zeit am Bildschirm sitzen.
Ich habe oftKopfschmerzen.» –«Voll,
ich habe das Gefühl, ich mache mehr
für die Schule als vorher. Ich bin ständig
dran.» – «Ich hoffe, dass wir Schule und
Freizeit bald wieder trennenkönnen.»
Abgrenzung, ein bekanntes Problem
im Home-Office. Es dürfte dieA1a noch
eine Weile beschäftigen – ebenso wie
Hunderte von anderen Gymi-Klassen
in der Schweiz.

Der Deutschlehrer Stefan Hoferbittet seine Schülerzum täglichen Morgenritual am Bildschirm: Jeder soll kurz etwas sagen.

Der Lehrer erläutert,
stellt Fragen. Er
blendet Slides ein,
auf denen auch
Kommentare von
Schülern aufscheinen.
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