Neue Zürcher Zeitung - 28.03.2020

(Tina Sui) #1

Samstag, 28. März 2020 WIRTSCHAFT 17


In China setzt sich die Wirtschaft


nur schleppend wieder in Bewegung SEITE 18


Der grosse Umzugstermin EndeMärz gilt doch–


der Bundesrat verzichtet auf ein landesweites Verbot SEITE 19


Einmenschenleerer Platz inBern.Wie wäre es mitInselzonen, indenenBetriebeweiterhin arbeiten können? ANTHONY ANEX / KEYSTONE

Mögliche Wege zurück in die Normalität


Der gesellschaftliche Notbetrieb kostet jede Woche Milliarden – wie könnte man den Stillstand überwinden?


MATTHIAS BENZ, WIEN,
CHRISTOPH EISENRING, GERALDHOSP


Das gegenwärtige Notregime (Lock-
down) wird viele Menschenlebenret-
ten.Aber der Stillstand hat auch enorme
Kosten.Das soziale und kulturelle Le-
ben kommt zum Erliegen.Wirtschaft-
lich droht der schwerste Einbruch seit
der Grossen Depression. Schätzungen
von Ökonomen weisen aufVerluste für
die SchweizerVolkswirtschaft von 16
Mrd.Fr. pro Monat. Bei einem umfas-
senden Shutdown, wie ihn Italien ver-
ordnet hat, wäre es laut der Denkfabrik
Avenir Suisse sogar fast doppelt so viel.
Es sind deshalb Ideen gefragt,wie wir
möglichst schnell aus diesem Stillstand
herauskommen – ohne Menschenleben
zu gefährden.Jede gewonneneWoche
hat einen Milliardenwert.Wir präsentie-
ren Vorschläge, wie sich der Lockdown
verkürzen liesse. Sie sind als Denk-
anstösse gedacht.Wichtig ist, dass ein
Diskussions- und Lernprozess in Gang
kommt.Wir laden Leser und Expertin-
nen allerFachrichtungen ein, unsVor-
schläge zuzusenden, am besten perE-
Mail an: [email protected], Betreff :
«Raus aus dem Lockdown».


„So breit wie möglich testen:Gross-
flächigesTesten ist einer der wichtigs-
ten Ansätze, um denLockdown kurz zu
halten. Die Behörden sollten möglichst
schnellrepräsentativeTeile der Bevöl-
kerung auf eine Coronavirus-Anste-
ckung testen. Je günstiger und schneller
die Tests, desto zügiger kann dasWirt-
schaftsleben wieder in Gangkommen.
Vorteile:Erstenskönnen nurTests
repräsentativer Stichproben der Be-
völkerung zeigen, wie gefährlich die
Coronavirus-Pandemie tatsächlich ist.
Bis jetzt fehlen verlässlicheDaten dar-
über, wie viele derAngesteckten schwer
krank werden oder sterben, weil viele
Fälle gar nicht erkannt werden. Mit bes-
seremKenntnisstand lassensich dieBe-
kämpfungsstrategien anpassen und der
Lockdown allenfalls verkürzen. Zwei-
tens würden günstige Schnelltests das
Wirtschaftsleben wieder deutlich ver-
einfachen. Idealerweisekönnten Men-
schen nach einem morgendlichen nega-
tivenTest wieder zur Arbeit gehen. Be-
reits Immune dürften nach einem Anti-
körper-Test wieder arbeiten, zur Schule
gehen oderreisen.
Ökonomen der Universität Zürich
haben eine grobeKosten-Nutzen-Ana-
lyse von flächendeckendenTests mit
Contact-Tracing gemacht. ProWoche
Lockdown verliert die SchweizerWirt-
schaft 4 Mrd.Fr. Die Kosten proTest mit
gegebenenfalls nachfolgendem Contact-
Tracing (in 20% derFälle) setzen sie auf
300 Fr. an. Damit würde es sich lohnen,
13 Mio. Tests durchzuführen, um nur
eine Woche Lockdown zu verhindern.
Nachteile:Dass möglichstviel ge-
testet werden soll, ist an sich unbe-
stritten. Derzeit fehlen allerdings die
Kapazitäten dazu. Zentral sind deshalb
Mechanismen, damitFirmen möglichst
schnell geeigneteTests entwickeln und
produzierenkönnen.


„Umstellung der Produktion auf
Medizintechnik: Der amerikanische
Wirtschaftsnobelpreisträger Edmund
Phelps fordert, dass die US-Regierung
Fabrikenrasch auf die Produktion von
Schutzmasken, Desinfektionsmitteln,
Tests, Beatmungsgeräten, Spitalbetten
oder Schutzbekleidung und Handschu-
hen ausrichtet.Finanzielle Hilfenan
Firmen sollen damit verknüpft werden,
dass sie im Gegenzug solche Güter her-
stellen. Eine weniger extremeVariante
wäre, wenn der Staat Anreize zur Pro-
duktion gibt, wie Abnahme- oder Preis-
garantien. Zunächst muss er aber wissen,
was es überhaupt braucht.


Vorteile:Will man möglichst viele
Bürger testen, braucht es viel mehr
Kapazitäten als heute. Und geradeFir-
men, die noch produzieren, fordern
mehr Schutzmaterial, damit es für jeden
zum Beispiel eine Schutzmaske hat.
Dies gilt fürFabriken,aber auch für den
Bau, für Kassiererinnen in den Super-
märkten oder für Bus- undTaxichauf-
feure. Lassen sichrasch Engpässe besei-
tigen, kann die wirtschaftliche Aktivität
mancherorts aufrechterhalten bleiben.
Zudem gilt es, die Kapazitäten der Spi-
täler in der Intensivmedizin zu erhöhen.
Nachteile:Eine «Kriegswirtschaft»
à la Phelps wäre ein schwerwiegender
Eingriff. Viel besser ist es, wennFirmen
aus Eigeninteresse umstellen oder (tem-
porär) mit deröffe ntlichen Hand zusam-
menarbeiten. DieFirma Hamilton aus
Bonaduz baut ihre Kapazitäten für Be-
atmungsgeräte um 50% aus. Roche hat
eine vollautomatisierteTestauswertung
entwickelt,dank der sich innert 24 Stun-
den 4000Prob en analysieren lassen.Der
Bund und der Kanton Zürich haben in
China zwei Maschinen gekauft, mit
denen dieFirma Flawa täglich 64 000
Schutzmasken herstellen kann. Oft lie-
gen allerdings die Knappheiten beiRoh-
stoffen undReagenzien oder beim qua-
lifiziertenPersonal.

„Wirtschaftsinseln schaffen:In Ita-
lien oder imTessin sind ganze Industrie-
zweige stillgelegt. Hierkönnen «Insel-
zonen» helfen, in denen Menschen und
Betriebe weiterhin ungehindert ihrer
Tätigkeit nachgehenkönnen.Dazu müs-
sen sie sich – nach einer Quarantäne
oder einem negativen Coronavirus-Test


  • in Isolation begeben. InWien haben
    sich zum Beispiel 53 Mitarbeiter der
    städtischen Stromwerkefreiwillig iso-
    liert. Sie leben auf unbestimmte Zeit in
    Wohncontainern und erhalten den Be-
    trieb aufrecht.Ähnliche Modelle gibt es
    in der Erdölwirtschaft:Mitarbeiter leben
    im Schichtbetrieb für einigeWochen auf
    einer Erdölplattform.
    Vorteile:Mit Insellösungenkönnen
    gewisseWirtschaftsbereiche ihren Be-
    trieb schrittweise wieder aufnehmen
    oder müssen ihn nicht einstellen. Der
    Ansatz eignet sich für Infrastrukturbe-
    triebe, Fabriken,Baustellen oder grosse
    Dienstleistungsfirmen bei einem umfas-


senden Shutdown.Das Modell lässt sich
kombinieren mit der Schaffungregiona-
ler «Inselzonen».
Nachteile:In sellösungen eignen sich
nicht für alleWirtschaftszweige. ImTou-
rismus oder in der Gastronomie bringen
sie wenig, weil die Betriebe geschlossen
bleiben müssen.Auch dürftees für viele
Menschen mit Kindern schwierig sein,
sich für mehrereWochen in eine Selbst-
isolation am Arbeitsplatz zu begeben.

„Gezielt Regionen testen und öffnen:
Die GemeindeVò inVenetien hatte den
ersten Corona-Todesfall in Italien. Des-
halb wurdeVò unter strikte Quarantäne
gestellt und die gesamte Bevölkerung
von 3300 Menschen getestet. 3% hatten
sich angesteckt,wovon viele kaum etwas

gemerkt hatten.Alle Angesteckten – ob
mit Symptomen oder nicht – wurden iso-
liert. NeunTage später wurde erneut die
gesamte Bevölkerung getestet. Es gab
noch 6 neueFälle. Mittlerweile gibt es
keine neuen Infektionen mehr.
Vorteile:Nach wenigenWochen mit
intensivemTesten kann eine Ortschaft
das Virus besiegen. Die Hoffnung ist,
dass sie dann langsam zum Alltag zu-
rückkehren kann,wobei etwaAbstands-
regeln weiter eingehalten werden müs-
sen. In der Schweiz sind die Kantone
Appenzell Innerrhoden undThurgau
mit 3 Erkrankungen auf 10000 Ein-
wohner bis jetzt milde betroffen. In den
KantonenTessin, Genf undWaadt ist
die Häufigkeit zehn Mal so hoch. Man
könnte in diesen Kantonen starten und
ganze Gemeinden testen.Das Gebiet
ohneAnsteckungen würde fortwährend
ausgedehnt.
Nachteile:Die am Experiment in
Vò beteiligtenWissenschafter sagen,

dass die Methode für grosse Städte, in
denen das Gesundheitswesen bereits am
Anschlag ist, kaum geeignet sei. Zudem
muss man eine solche Gemeinde vor-
übergehend hermetisch isolieren.Das
ModellVò zu vervielfältigen, ist auch
deshalb schwierig, weil dieTestkapazitä-
ten zu gering sind. Im Momentkonzen-
triert man sich in der Schweiz aufPerso-
nen, die Symptomezeigen, und hatkeine
Kapazitäten für ganze Dörfer, in denen
sich nur ein kleinerTeil der Einwohner
angesteckt hat.

„Neue Eindämmungstechnologien:
Südkorea gilt alsVorbild dafür, wie man
eine Epidemieerfolgreich eindämmt.
Das Land setzt auf breitflächigesTesten,
eine transparente Informationspolitik,
konsequentes Isolieren vonVerdachts-
fällen – und auf neue digitaleFormen
des Contact-Tracing.Von infiziertenPer-
sonen werden rückwirkend Bewegungs-
profile erstellt anhand von Smartphone-,
Videoüberwachungs- und Kreditkarten-
daten. So sucht man nachKontaktperso-
nen.Die Betroffenen müssen sich in der
Quarantäne per Smartphone-App zwei
Wochen lang zweimal täglich bei den
Behörden melden.
Vorteile:Südkorea ist es gelungen,
die Coronavirus-Ausbreitung unter
Kontrolle zu bringen.Dabei musste
nicht das ganze öffentliche Leben
lahmgelegt werden. Man hat von frühe-
ren Epidemien wie Mers (Middle East
RespiratorySyndrome) gelernt.
Nachteile:Das Modell in Südkorea
erinnert an einen Überwachungsstaat.
Im Westen wird dagegen das Grund-
recht auf Privatsphäre undDatenschutz
hochgehalten.Auch die Südkoreaner
setzen jetzt stärker auf anonymisierte
und verschlüsselte Lösungen. Zudem
eignet sich der Ansatz vor allem dann,
wenn eine Epidemie noch nicht weit
fortgeschritten ist.In Europa ist dieser
Punkt bereits überschritten. Allerdings
können digitale Eindämmungstechno-
logien helfen, um nach dem Ende des
Lockdown eine zweite grosseWelle von
Coronavirus-Ansteckungen gegen den
Winter hin zu verhindern.

„Keine oder kürzere Sommerferien:
Die Sommerferien fallen diesesJahr
aus oder werdenverk ürzt. Schülerkön-

nen wieder in die Schule und Eltern zur
Arbeit.
Vorteile:Viele Lehrerinnen und
Lehrer bemühen sich zwar, den Unter-
richt digital weiterzuführen. Doch in
der jetzigen Phase wird oft nur rund die
Hälfte des üblichen Stoffes v ermittelt.
Dazu kommt,dass es derzeit noch mehr
als sonst ohnehin schon auf die Hilfe
durch die Eltern ankommt.Wird in den
Sommerferien unterrichtet, lässt sich
Stoff nachholen, und die Lehrer kön-
nen Kinder identifizieren,die sich einen
Rückstand eingehandelt haben.EinTeil
der Sommerferienkönnte allenfalls im
Juni vorgeholt werden,noch während
des Stillstands.
Nachteile:Falls sich das Leben im
Sommer normalisieren sollte, wären
wohl viele Menschen ferienreif, gerade
diejenigen, die etwa im Gesundheits-
wesen unter besonderem Stress standen.
Gleichzeitig dürften sich für viele ohne-
hin Ferien auf «Balkonien» anbieten.Ist
der Sommer heiss, lernt es sich schlecht.

„Kontaktlose Dienstleistungen:Die
Fahrradwerkstatt Pbike inWien erfreut
sich trotz Corona-Pandemie guter Ge-
schäfte. Sie wickelt Aufträge nun digi-
tal a b. Die Kunden vereinbaren online
einenTermin oder scannen direkt vor
derTür einen QR-Code. Nach einemAn-
ruf öffnet sich dieWerkstatttür, die Kun-
den stellen ihrFahrrad ab, der Mechani-
ker hebt eskontaktlos in denLaden.Die
Abholung erfolgt nach gleichem Muster.
Viele Detailhändler forcieren jetzt das
Online-Geschäft.Fast-Food-Ketten ma-
chenvor, wie Restaurants den persön-
lichenKontaktreduzieren können.
Vorteile:Der Handelgehört zu den
Branchen,die vom Lockdown am stärks-
ten betroffen sind.Zudem sind dieVer-
luste anWertschöpfung wohl noch grös-
ser als etwa in Beherbergung und Gas-
tronomie. Wenn Firmen einenTeil de s
Geschäftskontaktlos weiterführen kön-
nen, lassen sichdie wirtschaftlichenKos-
ten des Lockdown eindämmen.
Nachteile:Kontaktlose Dienstleis-
tungen eignen sich nicht für alle Bran-
chen. Zum Beispiel gehörtfür Coif-
feure, Masseure oderKosmetikerinnen
der Kundenkontakt zum Geschäft.

„Corona-Immunität nutzen: Die
meisten Regierungen versuchen, die
Verbreitung von Covid-19 hinauszu-
zögern.Dabei besteht jedoch die Ge-
fahr, dass weitere Infektionswellen
unvermeidlich sind, wenn die drasti-
schen Massnahmen zugunsten sozialer
Distanzierung aufgehoben werden. Für
die Ökonomen Reiner Eichenberger
und David Stadelmann sowie den Phi-
losophen Rainer Hegselmann sind die
Corona-Infizierten, die immun gewor-
den sind,eine wichtigeRessource. Diese
wächst über die Zeit mit der steigen-
den Zahl der Erkrankten. Immune sol-
len deshalb eingesetzt werden, um den
Stillstand zu überwinden. Ein Immu-
nitätszertifikat für den Nachweisvon
Antikörpern soll als «Pass in die Nor-
malität» dienen.
Vorteile: Je mehr «zertifizierte»
Immune es gibt, die ihrer Arbeit nach-
gehenkönnen,destoweniger schwer las-
tet der notwendige Schutz vonPersonen
in Risikogruppen auf derWirtschafts-
entwicklung. Der schrittweiseAusstieg
aus dem Stillstandkönnte möglich sein,
ohne dass eine weitere massive Infek-
tionswelle und ein zweiter Lockdown
befürchtet werden müssen.
Nachteile:DieserWeg hängt von
flächendeckenden zuverlässigen Anti-
körpertests ab; passieren hier aberFeh-
ler, führt dies zu einer verstärktenVer-
breitung der Infektionskrankheit. Zu-
dem gibt es Bedenken, ob einmal Infi-
zierte wirklich völlig immun sind.
«Reflexe», Seite 26

Je schneller flächen-
deckendeTests
durchgeführt werden,
desto zügiger kann
dieWirtschaft wieder
in Gang kommen.
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