18 WIRTSCHAFT Samstag, 28. März 2020
In China ist noch nichts normal
Pekingwillvorallem Arbeitsplätze retten –bis die Wirtschaft wiederläuft, dürfte es nochWochendauern
MATTHIAS MÜLLER, PEKING
Wie nervösPeking wegen eines neuer-
lichenAusbruchs der Lungenkrankheit
Covid-19 ist, hat das chinesischeAus-
senministerium Donnerstagnacht bewie-
sen. In einer kurz vor Mitternacht ver-
öffentlichten Mitteilung heisst es, dass
von diesem Samstag an mitAusnahme
von DiplomatenkeineAusländer mehr
einreisen dürfen, selbst wenn sie eine
Aufenthaltsgenehmigung besitzen.Wie
lange dieRegelung gültig sein wird, um
den Import von Infektionen zu stoppen,
steht in den Sternen. Die Massnahme ist
jedoch exemplarisch für die schleppende
und mit Unsicherheit behafteteWieder-
belebung der chinesischenWirtschaft.
Der an der CheungKong Graduate
School of Business lehrende Ökonom
LiWei hat amFreitagdafür eine tref-
fendeWendung gewählt: EineWirtschaft
könne man nicht wie eine Glühbirne ein-
fach ein-und ausschalten.Vor allem die
Wiederbelebung erweist sich als schwie-
riges Unterfangen, weil es dauert, bis die
Produktion wieder hochfährt.
Leere Restaurants
Wie vorsichtig die chinesischen Zentral-
und Provinzregierungen agieren, zei-
gen Zahlen, welche die bei der UBS in
Hongkong für das chinesischeFestland
zuständige ÖkonominWangTao zusam-
mengetragen hat. So beläuft sich das
Verkehrsaufkommen in und zwischen
den Städten auf 60 bis70% desVorjah-
resniveaus. DieBasis dafür bildet ein
vom chinesischen Suchmaschinen-Kon-
zernBaidu entwickelterIndex, der für
367 chinesische Städte in 27 Provinzen
die Zahl derFahrradfahrer, Fussgänger,
Kraftfahrzeuge und dasAufkommen im
öffentlichenVerkehrerfasst.Esverdich-
ten sich zwar die Anzeichen, dass die
seitJanuar ausharrendenWanderarbei-
terlangsam wiederan ihreArbeitsplätze
zurückkehren. Allerdings sollen laut den
Ökonomen des Beratungsunternehmens
Capital Economics noch immer 20 bis
30% dieser Arbeitskräfte nochkeinen
Bescheid erhalten haben,wann sie ihre
Arbeit wiederaufnehmenkönnen.
Dieser Prozesskönnte sich bis Ende
April hinziehen, weil vor allem die wohl-
habenden Städte Guangzhou, Hang-
zhou,Peking,Schanghai und Shenzhen
aus Angst vor Infektionen den Prozess
kanalisieren. In den vergangenen – nor-
malen –Jahren warendie Wanderarbei-
ter spätestens dreiWochen nach dem
chinesischen Neujahrsfest– dasJahr der
Ratte hat am 25.Januar begonnen – wie-
der an ihre Arbeitsplätze zurückgekehrt.
LautWang von der UBS ist dasVer-
kehrsaufkommen in diesen Städten noch
deutlich unter demVorjahresniveau.
Darin spiegelt sich der Umstand, dass
viele Leute noch nicht auf die Strassen
gehen, sie meiden die öffentlichenVer-
kehrsmittel, und auf den sonst prall-
gefüllten Strassen verläuft derVerkehr
reibungslos. Diese Zurückhaltung in
den wohlhabenden Städten dämpft die
Nachfrage erheblich. DiejenigenRestau-
rants, die wieder geöffnet haben, sind oft
leer und müssen strengeAuflagen erfül-
len. In den Einkaufszentren gibt es viel-
mals mehrVerkäuferinnen alsKunden.
Und dasVergnügungsangebot ist noch
erheblich eingeschränkt. Die Museen
bleiben geschlossen, die Verbotene
Stadt inPeking ist seitWochen zu, und
die Kinos öffnen ihreTorenur ganz lang-
sam wieder.
Neben dem Dienstleistungssektor tut
sich auch das verarbeitende Gewerbe
mit dem Neustart schwer. DerKohle-
verbrauch der Kraftwerke beläuft sich
zwar inzwischen auf mehr als 90% des
Vorjahresniveaus. Allerdings ist dieser
Umstand vor allem der Schwerindus-
trie geschuldet. DieAutomobilbranche
ist dagegen nochweit davon entfernt,
dasVorkrisenniveau erreicht zu haben.
Laut UBS hatten vor rund zweiWochen
neun von zehn Produktionsstätten die
Arbeit wieder aufgenommen. DieAus-
lastung der Kapazitäten belief sich je-
doch auf gerade einmal 40%.
Im März sieht dieLage damit etwas
besser aus als in den beidenVormona-
ten; damals ist die industrielle Produk-
tion umreal 13,5% gegenüber derVor-
jahresperiode eingebrochen, und die
Investitionen sowie die Umsätze des
Detailhandels sind um nominal 24,5 bzw.
20,5% zurückgegangen. Ökonomen wie
LiWei gehen davon aus, dass Chinas
Wirtschaftsleistung in den ersten drei
Monaten des laufenden gegenüber dem
Vorjahr im zweistelligen Bereich ge-
schrumpft ist. Und das Beratungsunter-
nehmen OxfordEconomics prognosti-
ziert ein mageresWachstum von 1% für
das gesamteJahr 2020.
Nach der Publikation der desaströ-
senDaten für die beiden ersten Monate
des laufendenJahres ist offensichtlich
geworden, dass sich die chinesischen
Machthaber vonWachstumszielen ver-
abschiedet haben. Eigentlich müsste
ChinasWirtschaft im laufendenJahr
zwischen 5,6 und 5,7% zulegen, damit
sie sich gegenüber 2010real verdoppeln
würde. Diese ehrgeizigeVorgabe hatte
Partei- und Staatschef Xi Jinping beim
- Kongress derKommunistischenPar-
tei im Herbst 20 17 gesetzt.
Hoffen auf den Konsum
Peking wird dieses Ziel jedoch nicht
mehr erreichenkönnen, weshalb der
Fokus der Massnahmen nun auf der
Rettung der kleinen und mittelständi-
schenFirmen liegt, wo mehr als 70%
der städtischen Bevölkerung beschäf-
tigt sind. Die Zentralregierung hat di-
ve rseMassnahmen ergriffen, um diese
Wirtschaftsstruktur zu erhalten.
Am 20.Februar wurde bekannt, dass
viele KMU bis mindestens EndeJuni von
den Zahlungen an die Sozialversicherun-
gen inTeilen oder gänzlich befreit sind;
zudem bekommen kleineFirmen, denen
es gelungen ist, das Beschäftigungsniveau
zu halten, die 20 19 entrichteten Beiträge
an die Arbeitslosenversicherung zurück-
erstattet; darüber hinaus hat dieRegie-
rung denBanken vorgegeben, dass sie die
für verlängerte Kredite zu entrichtenden
Zins- undTilgungszahlungen für strau-
chelnde KMU mindestens bis EndeJuni
aussetzen müssen; und schliesslich geben
diverse Lokalregierungen Gutscheine
an die Bevölkerung aus, mit denen die
Menschen essen oder einkaufen gehen
können. DerVorteil dieser Massnahme
gegenüber Helikoptergeld besteht laut
den Ökonomen NicholasLardy undTi-
nalei Huang vomPeterson Institute for
International Economics darin, dass ein
Coupon zweckgebunden ist und nicht ge-
spart werden kann.
Ob esPeking gelingt, die KMU zuret-
ten, ist noch ungewiss. In welch schwie-
riger Situation sich vieleFirmen befin-
den, zeigen Zahlen derWebsite Zhao-
pin, auf der es um dieAkquisevonPer-
sonal geht.Danach hat rund einViertel
der antwortenden Arbeitnehmer ange-
geben, dass ihre Arbeitgeber Endever-
gangeneWoche ihre Lohnzahlungen
eingestellt haben;rund20% monier-
ten verzögerte Überweisungen, und an-
nähernd 30% gaben an, dass ihre Saläre
gekürzt worden seien.
Es handelt sich für Chinas Macht-
haber um schlechte Nachrichten, denn
derKonsum der Haushalte sollte im
laufendenJahr eigentlich dieWirtschaft
stützen. AndereFaktoren fallen dagegen
aus: Die Unternehmen werden wegen
der unsicheren Wirtschaftslage sich mit
Investitionen zurückhalten; der Staat
wird darauf achten,keineKonjunktur-
programme wie 2008 und 2009 zu ver-
abschieden, um dieVerschuldung auf
dem bisherigen Niveau zu halten. Und
vomAussenhandel ist wegen der welt-
weiten Covid-19-Krise auchkein Schub
zu erwarten.
Eine Angestellte im Lager einesWarenhausesin Wuhan in einerAufnahme vom vergangenen Dienstag. GETTY
Die Fed-Bilanz
explodiert
Über 5 Billionen Dollar
in den Büchern
MARTIN LANZ,WASHINGTON
Es ist erst wenigeTage her, dass der
geldpolitische Ausschuss des Fede-
ral-Reserve-Systems (Fed) seine Be-
reitschaft kundgetan hat, so viele US-
Staatsanleihen und staatlich garantierte,
hypothekenbesicherteWertpapierezu
kaufen, wie für einreibungslosesFunk-
tionieren der Finanzmärkte und die
Umsetzung der Geldpolitik nötig sind.
Und es hat nicht lange gedauert, bis
diese Ankündigung Spuren in derFed-
Bilanz hinterlassen hat.Jeweils am Don-
nerstag nach Börsenschluss werden die
Details (Mittwochswerte) veröffentlicht.
Demnach ist die Bilanz in einerWoche
um fast 600Mrd. $ aufüber 5,25 Bio. $
angeschwollen. Der bisherige Höchst-
stand aus derFinanzkrise von 4,5 Bio. $
wird damit bei weitem übertroffen. Ge-
wichtigster Bilanzposten sind die Staats-
anleihen der USA (3 Bio. $, ein Plus von
338 Mrd.$ gegenüber derVorwoche).
Noch kaum sichtbar sind die wieder auf-
genommenen Käufe von hypothekenbe-
sichertenWertpapieren.
Dafür wird ab nächsterWoche ein
neuerPosten in derFed-Bilanz auftau-
chen. Am Donnerstag gab dieFede-
ral ReserveBank of NewYork, die im
Namen desFed am Markt auftritt, be-
kannt, dass sie amFreitag die Anfang
Woche angekündigten Käufe von ver-
brieften gewerblichen Hypotheken-
darlehen aufnehmen werde.Das ange-
st rebte Kaufvolumen von einigen Mil-
liarden Dollar über diekommenden
Tage nimmt sich aber imVergleich zu
den anderen Wertpapierkäufen beschei-
denaus. Die Dollar-Swap-Arrangements
mit den Zentralbanken andererWäh-
rungsräume sind ebenfalls imAufwind.
Sie erreichten über 200 Mrd. $. Die
Liquidität zuführendenRepo-Operatio-
nen sind dagegen etwas zurückgegangen
und stehen derzeit bei 352 Mrd. $. Eben-
falls von Interesse ist die Entwicklung
der Kredite, die dasFed direkt anBan-
ken vergibt. Diese Kredite, welche via
das Diskontfenster zu einem Zins von
0,25% vergeben werden,sind innert
einerWoche um 81 Mrd.$ auf über
109 Mrd. $ hochgeschnellt.Auf derPas-
sivseite dominieren die Sichtguthaben
derBanken.Wenn dasFed Wertschrif-
ten erwirbt, schreibt es den Kaufbetrag
den Girokonten gut. Diese sind um über
400 Mrd. $ auf 2,35 Bio. $ gestiegen.
Derzeit ist nicht absehbar, wohin die
Bilanz-Reise geht.Das vomKongress
dieserTage verabschiedete 2-Billionen-
Dollar-Hilfspaket enthält auch Gelder,
die zur Hebelung von weiteren Fed-Kre-
diten verwendet werden dürften. Sobald
dieVorlage in Kraft gesetzt wird, dürfte
dasFed sein bereits am Montag inAus-
sicht gestelltes Programm für dieVer-
gabe von Krediten an kleine und mitt-
lere Unternehmenkonkretisieren. Alle
Zeichen stehen also auf Expansion. Der
Fed-ChefJeromePowell sagte am Don-
nerstag, das Coronavirus werde den
Fahrplan diktieren.
Aevis Victoria setzt auf umfassende Staatshilfe
Die Privatklinik- und Hotelgruppe rechnet mit einem regulären Spitalbetrieb abSommer
DOMINIK FELDGES
Seit Mitte März werden in den 21 Klini-
ken vonSwiss Medical Network (SMN)
nur noch notfallmässige Operationen
durchgeführt, wie in allenSchweizer
Spitälern.Das Netzwerk ist daher mit
hohen Einnahmeverlustenkonfrontiert.
Aus Sicht des Managements der Gruppe
AevisVictoria, zu der SMN ebenso wie
mehrere Schweizer Luxushotels gehört,
sollten dieAusfälle indes vollumfäng-
lich durch Staatsgelder kompensiert
werden.Wenn die Kantone dies nicht
täten, werde der Bund einspringen, sagte
Antoine Hubert, der Delegierte desVe r-
waltungsrats, an der perTelefon durch-
geführten Bilanzmedienkonferenz des
Unternehmens. Schliesslich sei man vom
Bund per Dekret am16. März gezwun-
gen worden,aufsämtliche nicht notfall-
mässigen Eingriffe zu verzichten. Hubert,
der zusammen mit zwei weiteren Privat-
personen 73,9% des Kapitals vonAevis
Victoriakontrolliert,rechnet damit, dass
die SMN-Kliniken ab Sommer wieder in
denregulären Betrieb übergehen werden
dürfen. Operationen liessen sich ohne-
hin nicht beliebigverzögern. Eingriffe,
die heute noch als aufschiebbar gälten,
seien die Notfälle von morgen.
Obschon die meisten der in den
SMN-Spitälern tätigen Mediziner als
Belegärzte tätig sind und damit auch auf
eigeneRechnungarbeiten,hält sich die
Unruhe unter ihnen offenbar in engen
Grenzen. Bedrohlicher ist dieLage laut
Hubert für selbständige Allgemeinärzte,
derenPatientennun den Gang in die
Praxis scheuen würden.Auch sie dürften
jedoch, so ist derPatron vonAevisVicto-
ria überzeugt, in den Genuss einesRet-
tungsprogramms des Bundeskommen.
Hubert scheint ohnehin voll und ganz
auf die Hilfsbereitschaft der öffentlichen
Hand zu vertrauen. Der Bund werde
wohl auch einPaket für die Hotels
schnüren – diese Branche sei für die
Schweiz zu wichtig, als dass sie nun im
Stich gelassen werdenkönne. Weil trotz
allem noch nicht absehbar ist, wie diese
Finanzspritzen aussehen werden, will
AevisVictoria vorläufigkeine Progno-
sen für den Geschäftsgang 2020 ab-
geben. Im Bereich der Hotellerie wird
es laut Angaben des Unternehmens
auch darauf ankommen, ob das «Belle-
vuePalace» in Bern und das frischre-
novierte «EdenauLac» in Zürich sowie
vor allem das stark vom Sommertouris-
mus abhängige Grand-HotelVictoria-
Jungfrau in Interlaken im Sommer ihren
Betrieb wieder aufnehmenkönnen.
Um die Liquidität zu schonen, ver-
zichtetAevisVictoria auf dieAusschüt-
tung einer Dividende. Die imJuni fäl-
ligeRückzahlung einer Obligation im
Gesamtwert von 55 Mio. Fr. sollte die
Firma nach Einschätzung von Hubert
vorkeine Probleme stellen. Allerdings
wird das Unternehmen zurFinanzierung
bestehende Kreditlinien derBanken in
Anspruch nehmen müssen. Ende 20 19
verfügteAevisVictoria lediglich über
Barmittel von 40 Mio. Fr. Hinzu kam ein
Kreditrahmen von 90 Mio. Fr.