Neue Zürcher Zeitung - 28.03.2020

(Tina Sui) #1

Samstag, 28. März 2020 FEUILLETON 27


Seit Ende 1985 sind 1957 Folgen der «Lindenstrasse»


ausgestrahlt wo rden – nun endet die SerieSEITE 28


Statt Vorkehrungen für eine Pandemie zu treffen,


hat man lieber über Political Correctness diskutiert SEITE 29


«Wir kommen durch, New York ist tough»


Beängstigend schnell ist Manhattan zu einem Br ennpun kt der Pandemie geworden. Aber noch schlägt das Herz der heimgesuchten Stadt


SARAH PINES, NEWYORK


NewYork im Stillstand? Kaum vorstell-
bar, doch vordergründig wirkt es so. Die
Corona-Pandemie hat das Leben der
Metropole praktisch zum Erliegen ge-
bracht. Mankönnte mit demAuto in
zwanzig Minuten durch ganz Manhat-
tanrasen, von Harlem bis hinunter zur
SouthFerry, der Anlegestelle gegenüber
derFreiheitsstatue. DerTimes Square ist
leer, Rockefeller Center und Brooklyn
Bridge sind verwaist, auf demWashing-
ton Square wehen nur ein paarPapier-
tüten, eskönnte auch Präriegras sein.
Kein Menschauf dem Universitäts-
campus, keineTouristen, keinePferde-
kutscherollt durch den CentralPark, so-
gar die Obdachlosen sind von den Stras-
senverschwunden.


Kommtblossnicht hierher!


Mit über 21 800 Infizierten istNew
York City das Epizentrum derPande-
mie in den USA, trägt den Spitznamen
«AmericanWuhan». Die USA selber
haben seit Donnerstag mit über 81 000
Infizierten mehr Krankheitsfälle als
jedes andereLand, China inbegriffen.
Kommt bloss nicht hierher und verpes-
tet uns!, heisst es an dieAdresse wohl-
habender NewYorker, die in ihre opu-
lentenFerienhäuser im Umland flüch-
ten wollen, nahe ansWasser, weg von
Stadtluft, Dreck und Krankheit – in die
Hamptons, ins HudsonValley, nachMar-
tha’sVineyard.
Im Blick auf NewYork, so Gouver-
neur Andrew Cuomo, sollesich der
Rest desLandes wappnen.«Was hier
geschieht, was wir hierdurchstehen,ist
auch bald bei euch», sagt er imFernse-
hen, bittet dieRegierung um mehrVenti-
latoren, mehr Geld für dieWirtschaft, bis
jetzt vergeblich. Mit ruhiger Stimmeer-


klärt er die empfohleneAusgangssperre
sowie das nach seiner eigenen Mutter be-
nannte «Matilda»-Gesetz – die am Sonn-
tag im Kraft getretene Schliessung aller
nicht überlebensnotwendigen Betriebe,
infolge deren Hunderttausende New
Yorker binnen 24 Stunden Arbeit und
Versicherungen verloren.
JedenTag sitzt Cuomo dort vor den
Kameras in Albany, immer gegen 11 Uhr
amVormittag. Die Stadt NewYork, der
Gliedstaat, inzwischen ganz Amerika
hängt an seinen Lippen; bis dato mässig
populär, ist Cuomonun Held undHoff-
nungsträger in dunkler Zeit geworden,
wie einst Bürgermeister Giuliani nach
den Anschlägen von 9/11.
Die schrecklichen Szenen, die sich
in unterversorgten spanischen oder ita-
lienischen Altersheimen und Kranken-
häusern abspielen – Alte oder beson-
ders Gebrechliche werden garnicht
mehr behandelt, sterbenallein, ohne
Besuch,ohneTr ost –,werden auch
in NewYork erwartet. Etwa 2 00 Er-
krankte sind dieseWoche bereits ver-
storben; vor dem Bellevue-Kranken-
haus stehen Zelte für dieToten, die
Stadt errichtet provisorische Leichen-
häuser, Kriegsschiffe undKonferenz-
zentren werden zuLazaretten.
Insbesondere ärmere und dicht-
bevölkerte Stadtteile wie East Harlem,
Queens, die Bronx haben zu kämpfen,
Menschen bevölkern dort zudem wei-
ter die Strassen. «Frühmorgens ist es in
der Subway in die Bronx leer und sehr
ordentlich», erzählt ein Lehrer. «Einige
Menschen mit Masken,alle sitzen in sich
gekehrt mit einem Meter Distanz. Am
Nachmittag aber ist hier alles chaotisch
und drängt sich im Bus, wie auf einem
Jahrmarkt.» Er fügt hinzu:«Hierin New
York in einem Krankenhaus zu enden,
stelle ich mir schrecklich vor, schlimmer
als in diesem vollgestopften Bus.»

Das amerikanische Gesundheits-
system ist bekanntermassen mangelhaft
ausgestattet, hält europäischenVerglei-
chen zukeiner Zeit stand. «Der Unter-
schied zu nordeuropäischen Kranken-
häusern?», sagt eine Ärztin für klinische
Infektiologie ausWestchester, dem Ort
des ersten grossen Covid-19-Ausbruchs
im Gliedstaat NewYork.«Uns feh-
len dieRessourcen, wir haben bei wei-
tem nicht genug Schutzkleidung, hier
inWestchester wie auch in Manhattan.
Es gibt nur wenige Beatmungsgeräte
und kaumFachpersonal für Atemwegs-
erkrankungen. Es geht zu wie in der
DrittenWelt. Ärzte werden angesteckt,
die älteren unter ihnenkommen nicht
mehr wieder, weil sie zu krank sind.»
Das Virus treibe überdies die Spal-
tung der NewYorker Gesellschaft in Alt
undJung voran, sagen warnende Stim-
men,in Arm undReich. An öffentlichen
NewYorker Schulen sind etwa 114 000
Kinderregistriert, die auf der Strasse, in
Obdachlosenheimen oder in prekären
Wohnverhältnissen leben.Während der
vom Staat angeordneten Schulschlies-
sungen haben sie nicht oder nur sel-
ten Zugang zu Online-Ressourcen für
Heimunterricht, fallen hinter die ande-
ren Schüler zurück.

Stummer Frühling


Frühling ist in NewYorkCity eigent-
lich die Zeit, in der die Luft beginnt,
anders zu riechen.Vom Fluss wehen
Brisen herüber, die man beglückt und
tief einatmet.Auf denBänken im Cen-
tralPark sitzen wieder Menschen und
lesen Bücher, heben ihre Gesichter der
Sonne entgegen.Auf der Upper East
Side treffen elegante Blumenlieferun-
gen ein, die 5thAvenue scheint trotz
dem Brausen undTosen desVerkehrs
weit weg. Frauen tragen Chiffonkleider,

erste Klimaanlagen brumme n, es ist die
Zeit der Blumen, der Blumenshows und
Kirschblütenfeste. DiesesJahr ist es die
Zeit der Angst vor Krankheit undTod.
Die alteTante, die weiblicheFami-
lienmitglieder «Pussycat» und denRest
derWelt «Darling» nennt und in Ge-
schäften immer so innig an Obst und Ge-
müse schnuppert, dassVorübergehende
entsetzt denKopf schütteln, verbringt
die sonnigenTage zu Hause. Ihr Mann
glaubt nicht an Corona und geht ohne
Händedesinfektionsmittel in derTasche
stur jedenTag weiter in die Kanzlei in
Midtown. Internet hat dieTante nicht,
Essen kann sie nicht nach Hause bestel-
len, sie isst Hühnersuppe aus der Dose
und sitzt auf ihremBalkon im15. Stock
mit Blick auf den Hudson.
In normalen Zeiten istNewYork
neben Glitzer, Glanz undKultur auch
immer unsägliche Armut,Gier und
Neid;Aufstieg und Gentrifizierung für
die einen bedeutetAusschluss für die
andern. Und jetzt verschwinden auch
die kleinen Dinge,die für die Stadt
typisch waren: Die «NewYorkTimes»
wird nicht mehr morgens an denTüren
abgeworfen, dieöffentlichenBasketball-
körbe in Soho sind abmontiert. Door-
men an der Upper East und derWest
Sidereiben dieTürfallen nicht mit Mes-
singpolitur ab, sondern mit Desinfek-
tionsmitteln, tragen Gesichtsmasken.
Menschen, die es gewohnt sind, draus-
sen herumzuhetzen, hocken daheim auf
Sofas, coachen Kinder in der ohnehin
schon engenWohnung bei Hausaufga-
ben, beim Online-Ballett-Unterricht
oder bei virtuellen Chorproben. «Ge-
niessen Sie IhrWohnzimmer, viel mehr
kann ich nichtraten», sagteTr ump un-
längst bei einer Pressekonferenz.
«Wir werden durchkommen, weil
wir NewYork sind und schon andere
Dinge hinter unshaben.. .und weil wir

tough sind wie NewYork», sagtdagegen
Cuomo. «Dieser Ort macht einen tough,
aber auf gute Art.»Für NewYork be-
deutet der Stillstand auch ein Atem-
holen und eine – wenn auch seltsame–
Pause von Hetze und Gedränge, in der
Raum für neue Gesten entsteht. Men-
schen sind einsamer als sonst, aber zu-
gleich wächst das Gemeinsame.

Gemeinsam einsam


Auf demDach gegenüberraucht nun
jeden Mittag zur selben Zeiteinjunger
asiatischer Mann eine Zigarette, und
jeden Mittag winkt er herüber zu einem
anderenFenster, das um diese Zeit offen
steht – wer dort wohlsitzen mag? Nachts
schenkenBars durchsFenster Cock-
tails aus –Take-away ist weiterhin er-
laubt. Leute, die einander nichtkennen,
lächeln sich an, sagen «Pass auf dich auf»,
«Bleib gesund». AnTüren geschlossener
Geschäfte sieht man «Stay safe»-Aufkle-
ber. Väter aus der Upper East Side oder
demBankenviertel gehen mit ihren Kin-
dern spazieren, sonst sind es immer die
Mütter. Gutbürgerliche Stadtteile wie
die UpperWest Side scheinenpraktisch
leer zu stehen.
Aus europäischer Sichtkönnte man
die Stimmungsonntäglich nennen: Der
Himmel ist blass und sonnig, alles ist zu,
Menschen gehen in sicheren Abständen
spazieren, telefonieren wieder mehr,
schauen sich an, statt mit gesenktemKopf
aneinandervorbeizueilen. InParks sind
mehr Ältere zu sehen als sonst, manche
beginnen zu joggen, wie die alteDame,
die jeden Morgen ganz langsam den Pfad
an der 86. Strasse gleich neben dem Me-
tropolitan Museum hochläuft. «Oh my
God, this is hard, this is great!», ruft sie.
Nein, in NewYork herrschtkein Still-
stand. NewYork ist eine Maschine, die
gar nicht anders kann, als zu laufen.

Die FifthAvenue, sonst eine Lebensader der Stadt, ist praktischausgestorben. MIKE SEGAR / REUTERS
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