Neue Zürcher Zeitung - 28.03.2020

(Tina Sui) #1

28 FEUILLETON Samstag, 28. März 2020


Wohin mit unserer Sehnsucht


nach Verlässlichem?


Am Sonntag läuft «Lindenstrasse» zum letzte n Mal, nach 1758 Folgen. Unser Autor hat kaum eine verpasst


RAINER MORITZ


Was haben Sie am 8. Dezember 1985
gemacht? Damals, als man Kanzler
Kohl für eine vorübergehende Erschei-
nung hielt, als Claude Simon den Lite-
raturnobelpreis erhielt,ModernTalking
unsere Ohren mit «Cheri CheriLady»
quälten, die norwegische Gruppe Bob-
bysocks mit «La det swinge» den Euro-
vision Song Contest und der siebzehn-
jährige Boris BeckerWimbledon ge-
wann? Ich weiss genau, was ich an die-
sem Sonntag um18 Uhr 40 tat:Ich sass
in einerschwäbischenLandgemeinde
unweit vonTübingen vor demFernseh-
apparat und führte mir die ersteFolge
der «Lindenstrasse» zu Gemüte.
Als notorischer Anhänger von
Robert Strombergers «Die Unverbes-
serlichen», «Bonanza» oder «Die Leute
von der Shiloh-Ranch» stand und stehe
ich Serien mitSympathie gegenüber.
Dennoch glaubte ich (wie viele andere)
damals nicht daran,dass H ansW. Geis-
sendörfers um die MünchnerFamilie
Beimer gebauten Sonntagsfolgen eine
lange Lebenszeit beschieden wäre.
Zum Glück täuschte ich mich. 1757
Folgen kamen danach,von denen ich
kaum eine verpasst habe. Nun aber,
an diesem Sonntag, soll alles ein Ende
haben. Herzlose Programmmacher der
ARD haben beschlossen, einer fast 35
Jahre alten Institution den Garaus zu
machen.AlleProtestenutztennichts;die
SonntagewerdenkünftigleereSonntage
sein.Wohin,frage ich mich,mit unserer
Sehnsucht nachVerlässlichem? Denn
die «Lindenstrasse» gab Halt im Chaos,
sie liess uns hoffen,dass nicht alles dem
Untergang geweiht ist.
Wer Fernsehserien als Selbstver-
ständlichkeit in den Alltag integriert,
spürt die physiognomischen und men-
talenVeränderungenseinerHeldennur
unmerklich – so wie man sich selbst un-
beirrt als forschen Draufgänger sieht,
der ohne Haartönung und Rheuma-
pflaster auskommt. Serien-Nerdskom-
men mitAlterungsphänomenen gut zu-
recht – besser zum Beispiel als der Er-


zähl er in Marcel ProustsRoman «Auf
der Suche nach der verlorenen Zeit».
Der trifft in einer Schlüsselszene nach
langer Zeit alteWeggefährten wieder,
an denen – zu seinem Entsetzen – die
Zeit nicht spurlos vorbeigegangen ist.
«Obgleich an sich etwas Gleichgül-
tiges, verstörte mich ihr hohes Alter,
da es mir das Nahen des meinigen dro-
hendvorAugenführte», lautetdasFazit
dieser Maskenschau – eine jähe, bit-
tere Erkenntnis, die «Lindenstrasse»-
Seher nicht schockiert.Die schreck-
lichen Wandlungen tun sich ihnen erst
auf, wenn sie die Homepag e der Serie
du rchforsten und mitWehmut erken-
nen, dass früher alles anders und vor
allem jünger war.
Dann erst sieht man ungläubig, wie
kleinKlausiBeimeramAnfangwar,wie
viele Pfunde die Nervensäge Iffi Zen-
ker zugelegt hat, wie wenig Anna Bei-
mer(vormalsZiegler)vonihrerAttrak-
tivität verloren hat, wie sie dafür aber
in schönerRegelmässigkeit (letztmals
noch inFolge 1757) Männer in denTod
trieb, oder wie aus ihrer Cousine Gaby
eine patente Café-Betreiberin wurde,
die imLauf derJahre Techtelmech-
tel mit skrupellosen Hauseigentümern
oder hasenfüssigenPostboten durchlitt,
ehesieindieArmeihresresolutenTaxi-
fahrersAndi zurückfand.

Wie einVorläufer von Facebook


So normal der biologisch unabwend-
bare Triumph desVergänglichen, des
Altwerdens sein mag:Wir wollen ihn
nicht akzeptieren und erliegen deshalb
nur zu gern der Suggestion, bei uns zu
Hause und inder «Li ndenst rasse» se i
eigentlich alles beim Alten geblieben.
Die Serie pflegte seit je eine ArtRea-
litätssimulation und machte Menschen
mit geringen Sozialkontakten froh.
Meine Tante Karin inFürstenfeld-
bruck treffe ich seitJahren nicht mehr,
meinen Bruder spreche ich viermal im
Jahrtelefonisch,undwasmeineSchwes-
termacht,lasseichmirvonmeinerMut-
ter erzählen,die ich leider nur alle paar

Monate sehe. Eigentlich müsste ich
unter dem leiden, was man dieVerein-
zelung des anonymen Gros sstädters
nennt. Doch so leicht bin ich nicht aus
derBahnzuwerfen.Bisher warichnicht
auf Facebook-Freunde angewiesen, um
michgeborgenzufühlen,dennichhatte
ja die «Lindenstrasse»...
Viele der Serienhelden sind inzwi-
schengestorben,wennauchnichtimmer
freiwillig ,vonElseKlingbisDr.Dressler
und Hansemann Beimer. Nicht immer
istesder(Serien-)Tod,dergeliebteDar-
steller aus unseren Herzenreisst und in
den Schrein der Erinnerung verbannt.
IchzumBeispieltrauerebisheutejener
AngelikaKur nach, die ausser mir ver-
mutlichniemandmehrkenntunddiein
den Folgen 40 bis 49 (anno1986) Franz
SchildknechterstimHaushaltunddann
im Bett aushalf, ehe man sie knallhart
aus dem Skript strich.
AnAngelikas Seite wäreFranz nicht
dem Alkohol verfallen, hätte nicht be-
gonnen, gruselige Bilder zu malen, und
er hätte1992,in derFolge 369,denTod
durchErfrierenvermieden.FüreineRe-
animation Angelikas ist es nun zu spät.
IhrewunderbareDarstellerinFranziska
Grasshoff wechselte zu Privatsendern
und verstarb1999. Das verzeihe ich
Hans Geissendörfer und seinen Dreh-
buch-Schreiberlingen nie.
An Katastrophen mangelte es im
kleinen «Lindenstrassen»-Verbund nie.
Alles – Abtreibung, Spielsucht, Selbst-
morde , Vergewaltigung, Magersucht,
Afghanistan-Krieg,Aids,Esoterik,Teen-
agerschwangerschaft, Cannabis-Anbau,
Hebephilie,islamistischerTerror ,Migra-
tionsprobleme, Salmonellen – kam vor,
was wahre Lebensfreude eindämmt.
Routinierte Serienschauer wie ich
nahmen – anders als CSU- und FDP-
Hinterbänkler, die regelmässig scharfe
Protestnoten an den WDR richteten–
den linksliberalen, zur Empörung nei-
genden Besserwisserduktus der «Lin-
denstrasse» nicht ernst,wussten um die
Vorhersehbarkeit der Ereignisse und
freuten sich, dass es im eigenen Leben
keine solche Elend sanhäufung gab.

Immerhin ist die seit langem unter
Quotenschwund leidende «Linden-
strasse» längst in derWissenschaft an-
ge kommen. Zahllose akademische Stu-
dien untersuchen in kritischer Absicht
jedes Detail.Da schrieb derPädagoge
Peter Moritz in seiner Habilitations-
schrift «Seife fürs Gehirn» davon, dass
«beliebten TV-Unterhaltungsserien
etwas notwendigFalsches» eigne, «wie-
wohl sie einenWahrheitskern über die
allgemeine Defizienz, die sie hervor-
bringt», enthielten.

Ich muss meinLeben ändern


Und die Soziologin Almut Zwen-
gel merkte an, dass es bei «binationa-
len Paaren» in der «Lindenstrasse» zu
«unrealistisch wirkenden Häufigkei-
ten» komme – etwa wenn die polnische
Friseurin Ursula «Liebesbeziehungen
zu je einemPartner russischer, vietna-
mes ischer, südafrikanischer und italie-
nischer Herkunft sowie zu zwei auto-
chthon Deutschen» unterhalte.Von sol-
chenTexten werde ich künftig zehren.
Eigentlich stand es für mich ausser
Zweifel, dass die «Lindenstrasse» und
ich gemeinsam steinalt würden.Tattrig,
so dachte ich mir, hätte ich in zwanzig
Jahren alleAvancen meiner Mitbewoh-
nerinnen im Heim ignoriert,sobald der
Zeiger der Uhr auf die magische Sonn-
tagabendstunde zugesteuert wäre.
Daraus wi rd nichts. Ich mussmein
Leben ändern. Zum Glück wohnt die
Schauspielerin Marie-Luise Marjan
in meiner Nähe, die unentbehrliche
Mutter Beimer, die schon in derers-
ten Folge ihre mütterlichen Qualitäten
zeigt e. Vi elleichtverab rede ich mich
bald mit ihr, wir trinken Kaffee, ein
Likörchen, und dann brät sie mir ihre
berühmten Spiegeleier, mit denen sie
sichinallenSeriennotlagentröstete.So
könnte ich über meinenVerlust hin-
wegkommen.

«Lindenstrasse»:Die 1758. undletzteFolge,
«AufWiedersehen»,amSonntag, 29. März,
um 18 .50 Uhr inder ARD.

Einletztes Malin der«Lindenstrasse» zu sehen: LisaDagdelen (SontjePeplow), HelgaBeimer (Marie-Luise Marjan) und KlausBeimer (Moritz A. Sachs). STEVEN MAHNER / WDR


Zusammensein


ist eine


Kampfzone


Der Göttinger Tatort deckt sinistre
Gedanken-Experimente auf

TOBIAS SEDLMAIER

«Zum Glück schiesst sie gut» , sagt
Haupt kommissarin Charlotte Lind-
holm (MariaFurtwängler)über ihre
Kollegin Anaïs Schmitz (Florence Ka-
sumba).Ja,zumGlück,dennsonstwäre
nach den ersten zwei Minuten bereits
Schluss gewesen mit dem Ermittler-
te am, das erst seinen zweitenFall be-
streitet. Der Schuss war unvermittelt
losgeg angen:Einoffensichtlichverwirr-
ter Mann hält Lindholm ein Messeran
die Kehle,redetvonStimmeninseinem
Kopf. Doch die dramatische Geisel-
nahme findet ein jähes Ende: Schmitz
tötet den Angreifer mit einem geziel-
ten Schuss.

ZunächstdasEigeneregeln


Der ehemalige Soldat war an einem
Bundeswehreinsatz in Mali betei-
ligt, bei einer fehlgeschlagenen Mis-
sion kam seinhalbes Team ums Le-
ben. War der Auslöser für die Aktion
also eine posttraumatische Belastungs-
störung?DerVerdachterhärtetsich,als
auch di e erdrosselteFrau des Mannes
aufgefunden wird.Doch ehe Lindholm
und Schmitz der Sache weiter nach-
gehen können, müssen sie das eigene
Verhältnis klären.
Vonden männlichenCopsweissman:
Partnerschaft bedeutet in erster Linie
eine MengeReibung, ehe das sprich-
wörtliche Sich-Zusammenraufen ein-
setzen kann. Ganz so weit ist das Göt-
tinger Frauenduo noch nicht.Bereits in
der ersten gemeinsamen Episode, «Das
verschwundeneKind»,klapptedieKom-
munikation zwischen den beiden nicht
immer reibungslos.
Auch im neuestenFall, «Kriegim
Kopf»,dauertes,bisdieZusammenarbeit
halbwegsFrüchte trägt. «D u kannst zu
Hause bleiben», sagt Lindholm. «Ich
dachte,wirsind einTeam»,erwiderteine
angesäuerteSchmitz.«DasistkeinWett-
bewerb», meint Anaïs’Ehemann Nick.
Aber wohl doch: Es geht nicht zuletzt
um Territorialkämpfe, um zwei Ermitt-
lerinnen, die streng zu sich selbst und
diszipliniert im Dienst sind.
Doch imFokus steht das gemein-
same traumatische Erlebnis des an-
fänglichen Befreiungsschusses. Wä h-
rend Lindholm gegen ihre Schlaflosig-
keit ankämpft, taumelt Schmitz näch-
tens durch die Disco und hört plötzlich
selbstStimmen.ZwarwirddieAnnähe-
rung der beidenreif präsentiert. Aber
vor allem Florence Kasumba, die durch
Kino-Blockbuster wie «BlackPanther»
und «Wonder Woman» bekannt wurde,
hätte noch mehr Szenenverdient, um
ihre starke Präsenz auszuspielen.

Kurzfristigschmerzfrei


In der zweiten Hälfte wendet sich die
ambitionierteFolge ab vom psycholo-
gischenKonflikt derPolizistinnen und
richtetdieAufmerksamkeitganzaufden
Einsatz in Mali und damit verbandelte
obskure militärische Methoden. Der
Drehbuchautor Christian Jeltsch und
der RegisseurJobst Oetzmann spielen
dabeimitExperimentenzurGedanken-
kontrolle , wie sie die CIA mit dem ge-
heimen Programm MK Ultra während
des Kalten Krieges durchführte.
Schliesslichläuft alles bei einem
Rüstungskonzern zusammen, der
hochgefährliche Hightech-Waffen wie
Spielzeug anpreist. Spätestens wenn
sich Lindholm einen Cyberhelm auf-
setzt und sich,durch Schallfrequenzen
kurzfristig schmerzfrei gemacht, einen
Bleistift durch die Handfläche treibt,
verschwimmen paranoide Zukunfts-
vision und technisch bald machbare
Möglichkeit.«Was sind Soldaten ande-
res als Roboter?» , lautet dieFrage am
Schluss ,dieeinetolleGeschichte,nicht
nur für die letzte halbe Stunde, son-
dern für einen eigenen«Tatort» hätte
einleitenkönnen.

Tatort: «KriegimKopf»,amSonntag, 29. März,
um20. 05 bei SRF 1und um20. 15 inder ARD.
Free download pdf