Neue Zürcher Zeitung - 28.03.2020

(Tina Sui) #1

Samstag, 28. März 2020 INTERNATIONAL 3


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Das Elsass weckt dunkle Vorahnungen


Nirgendwo sonst in Frankreich hat das Coronavirus so viele Opfer gefordert wie in der Grenzregion


NINA BELZ,PARIS


Mit Armeeflugzeugen und -helikoptern
sowieumfunktionierten TGV sind in
den vergangenen zweiTagen mehrere
Dutzend Corona-Patienten aus derRe-
gion Grand-Est in andereLandesteile
verbracht worden. Schon seit mehr als
einerWoche geht das so, denn die Bet-
ten in den Intensivstationen sind alle be-
legt. Die an Deutschland, Luxemburg
und die Schweiz grenzendeRegion hat
sich zuFrankreichs Krisengebiet Num-
mer eins entwickelt – und lässt andere
Regionen imLand befürchten, dass
ihnen noch Ähnliches bevorstehe. Das
an die Schweiz grenzende Département
Haut-Rhin verzeichnet mit mindestens
268 Corona-Todesfällen seit Anfang
März einen traurigenRekord.
Den Anfang nahm die Krankheits-
welle nach einemTr effen von etwa
2000 evangelikalen Gläubigen aus ganz
Frankreich und dem nahenAusland, das
vom17. bis zum 24.Februar in Mülhau-
sen stattfand. Unter ihnen waren auch
rund 300 Kinder, die bekanntlich kaum
biskeineSymptome zeigen, dasVirus
aber trotzdem verbreitenkönnen. An-
gesichts derrasch steigendenPatienten-
zahlen bekam das Département Haut-
Rhin schon eineWoche früher verord-
net, was denRest desLandes erst Mitte
März nach und nach ereilte – allem
voran Schulschliessungen undVerbote
fürVeranstaltungen mit mehr als 50Per-
sonen. Dennoch hat sich dieLage seither
stark zugespitzt.Auch das von der fran-
zösischen Armee seit Anfang derWoche
in Mülhausen eingerichteteFeldlazarett,
wo 30Patienten betreut werdenkönnen,
ist angesichts der weiterhin stark anstei-
gendenFallzahlen nur einTr opfen auf
den heissen Stein.


VorwürfeundDementis


Neben Zeugenberichten erschöpfter
Ärzte sorgten in dieserWoche auch
Presseberichte für Alarmstimmung.
Mehrere französische Pflegekräfte be-
richteten anonym darüber, dass in man-
chen Spitälern bereits eineTr iage statt-
finde und diskutiert werde, wer noch
beatmet werden solle. Eine vehemente
Abwehrreaktion zog im Elsass zudem
ein Bericht des Deutschen Instituts für
Katastrophenmedizin nach sich, den
dieses für dieLandesregierungBaden-


Württemberg angefertigt hatte und der
von der deutschen Presse aufgenommen
wurde. Zwei deutsche Mediziner und
eine Pflegekraft ausTübingen wollen
bei einem Besuch am Universitätsklini-
kum Strassburg festgestellt haben, dass
unter anderem über 80-Jährige systema-
tisch nicht mehr beatmet würden. Dies
wurde vonder Klinikleitung umgehend
dementiert. Auch widersprach sie der
Behauptung einer deutschen Kranken-
schwester, wonach mehr als 200 Pflege-
kräfte, die selbst mit dem Covid-19-Vi-
rus infiziert seien, inFrankreich weiter
Dienst leisteten.
Dieregionalen Gesundheitsbehör-
den haben sich angesichts der Situa-
tionauch hilfesuchend an die Nach-
barländer gewandt. Bis zum Ende der
Woche haben Luxemburg, Deutschland
und die Schweiz 36 schwer erkrankte
Personen in ihren Spitälern aufgenom-
men. In der Schweiz hat der Grand Est

die beidenBasel sowie die KantoneJura
und Aargau um Hilfe geben,fürmin-
destens 5Patienten gibt es grünes Licht.
Präsident Emmanuel Macron,der sich
am Mittwoch in Mülhausen ein Bild der
Lage machte, bedankte sich daher nicht
nur beim Gesundheitspersonal und bei
all denen, die trotz der Gefahr weiterhin
zur Arbeit gingen. Er dankte den Nach-
barn für die Solidarität, die für ihn das
echte Europa ausmache.

Eine gesunde 16-Jährigestirbt


DerRegierungschef Edouard Philippe
sagte amFreitag warnend, dass dasLand
erst am Anfang der Krise stehe, die an-
dauern werde. Laut Einschätzungen des
Verbandes des Spitäler wird die Krise
als Nächstes dieRegion Ile-de-France,
also jene umParis, hart treffen.Inabso-
luten Zahlen hat sie bezüglichPerso-
nen in Intensivpflege bereits vor eini-

genTagen dieRegion Grand-Est ab-
gelöst.Aus einem der dazugehörigen
Départements stammt auch das bisher
jüngsteTodesopfer von Covid-19. Eine
16-Jährige Schülerin, die nach Angaben
ihrerFamiliekeinerleiVorerkrankun-
gen hatte, verstarb in der Nacht aufMitt-
woch in einem Spital inParis. Für Verun-
sicherung sorgt der Umstand, dass der
Teenager zunächst positiv, danach aber
zwei Mal negativ auf dasVirus getestet
wurde. Der Sprecher des Gesundheits-
ministers sagte amFreitag in einer ers-
tenReaktion, mehr Informationen über
denFall seien wichtig,weil ein schwe-
rer Verlauf bei jungen Menschen extrem
selten sei. AmFreitag kündigteRegie-
rungschef Philippe zudem eineVer-
längerung derAusgangssperre im gan-
zenLand bis mindestens zum15. April
an.Zunächst hatte sie der Präsident für
zweiWochen angelegt, die amkommen-
den Dienstag zu Ende gehen.

Soldaten haben in Mülhausen einFeldlazarett für Covid-19-Patienten erstellt. JOHANNES SIMON / GETTY

Die Türkei räumt


Flüchtlingslager


Migranten aus dem Grenzgebiet zu
Griechenland werden abtransportiert

VOLKERPABST, ISTANBUL

Vor vierWochen hat dieTürkei mit ihrer
Ankündigung, Flüchtlinge und Migran-
ten nicht mehr an derAusreiseindieEU
zu hindern, einen Ansturm auf dieLand-
grenze zu Griechenland ausgelöst. Nun
werden allem Anschein nach auch die
letztenAusreisewilligen zumVerlassen
des Grenzgebiets gedrängt.Seit Don-
nerstag mehren sich die Berichte, dass
die Evakuation des grossen Zeltlagers,
das sich auf türkischer Seite des Grenz-
übergangsPazarkule gebildet hatte, im
Gange ist. Laut türkischen Medien-
berichten werdenseitFreitagmorgen
viele Migranten mit Bussen insLandes-
innere zurückgefahren.Auch Migranten
im Grenzgebiet, die mitJournalisten in
Kontakt stehen, sowie griechische Quel-
len bestätigen dies. Die türkischen Be-
hörden haben das Gebiet fürAussen-
stehende gesperrt. Informationen gibt
es daher nur aus zweiter Hand.
DieMigranten sollen demnach an
verschiedenen Orten in der Türkei
unter Quarantäne gestellt werden, be-
vor sie an ihre letztenWohnorte zu-
rückkehren.Während die staatliche
türkische Nachrichtenagentur Anadolu
amFreitag schrieb, die Migranten hät-
ten wegen der Corona-Gefahr die Be-
hörden umRückkehrmöglichkeiten ge-
beten, berichten regierungskritische
Medien,dassPersonen teilweise auch
gegen ihrenWillen das Grenzgebiet hät-
ten verlassen müssen.
Unbestritten ist, dass die Bedingun-
gen in der äusserst primitiven Zelt-
stadt immer problematischer gewor-
den waren. Die Bewohner waren voll-
ständig auf Hilfslieferungen ange-
wiesen. Zugang zu Geschäften oder
medizinischen Dienstleistungen gab
es nicht. Seit einigenTagen herrsch-
ten auch widrigeWitterungsbedingun-
gen mit tiefenTemperaturenund häu-
figen Niederschlägen. In der Nacht auf
Freitag brachen zudem aus unbekann-
ten Gründen mehrere Brände imLager
aus. Laut offiziellen Angaben harrten
zuletzt 4600Personen im Grenzgebiet
aus. Die Zahlen dürften inWirklichkeit
allerdings tiefer liegen.
DieTürkei hatte EndeFebruar die
Grenzen geöffnet, um die Europäer zu
mehr Unterstützung zu drängen – sowohl
bei derVersorgung syrischer Flücht-
linge in derTürkei als auch beim mili-
tärischen Engagement inSyrien.Tr otz
der schwerenVerstimmung, die das tür-
kische Manöver in der EU ausgelöst hat,
gab es vergangeneWoche eineVideo-
konferenz zwischen Präsident Erdogan
und denRegierungschefs von Deutsch-
land,Frankreich und Grossbritannien,
um über die weitere Zusammenarbeit
im Migrationsbereich zu sprechen.
Dabei bekannten sich die Europäer
grundsätzlich dazu, das sogenannte
EU-Türkei-Abkommen fortzuführen
und dafür auch weitere Mittel zurVer-
fügung zu stellen.Dass dieTürkei kurz
darauf ankündigte, dieLandgrenzen zu
Griechenland und Bulgarien zu schlies-
sen, stand nach Ansicht vieler Beobach-
ter im Zusammenhang mit den Hilfs-
zusagen – auch wenn der Schritt offiziell
wegen der Corona-Pandemie erfolgte.

Das Coronavirus trifft Boris Johnson


Die Infektion des britischen Premierministers wirkt wie ein schlech ter Scherz über sein en Politikstil


BENJAMIN TRIEBE, LONDON


«Hallo Leute!» BorisJohnson hat am
Freitag nicht unbedingt eine staats-
tragendeVariante gewählt, um die briti-
sche Öffentlichkeit über die jüngste Zu-
spitzung in der Corona-Krise zu infor-
mieren. In einer improvisiertenVideo-
botschaft aus Downing Street 10 liess der
Premierminister über die sozialen Netz-
werke wissen, dass er selbst mit dem
Coronavirus infiziert ist. DerTest wurde
vorgenommen, nachdemJohnson leichte
Symptome gezeigt hatte – etwasFieber
und einen anhaltenden Husten.


NachMerkel undTrudeau


Der 55-jährigeJohnson ist nun nach der
deutschen Kanzlerin Angela Merkel und
dem kanadischen PremierministerJustin
Tr udeau der dritteRegierungschef eines
G-7-Landes, der sich in die Selbstisola-
tion begibt. Bei Merkel undTr udeau
handelt es sich allerdings nur um eine
Vorsichtsmassnahme, weil sie inKon-
taktmit nachweislich infiziertenPer-
sonen standen.Positiv getestet auf das
Virus sind sie nicht.Wie Tr udeau und
Merkel wirdJohnson dieRegierungs-
geschäfte weiterführen, auch dank der
«Zauberei modernerTechnologien», wie
er es ausdrückte.


Dass einRegierungschef seinVolk
in der grössten Krise seit dem Zweiten
Weltkrieg mit«HiFolks!» anspricht, ist
zweifellos eine bemerkenswerteTonlage.
Allerdings passt sie zuJohnson, dessen
Volksnähe und kumpelhaftesAuftreten
seit je seine vielleicht grösste Stärke ist.
Eventuell mag das Unaufgeregte und
Informelle manchen Briten auch ein be-
ruhigendes Gefühl geben, nachdem das
Land in den vergangenenTagen eine bei-
spiellose EinschränkungderBewegungs-
freiheit und der Bürgerrechte erlebt hat–
vollkommen zuRecht, aber in beängs-
tigendemTempo. Die britischen Mass-
nahmen gegen diePandemie sind nun
im Einklang mit jenen im grösstenTeil
Kontinentaleuropas, aber derWeg da-
hin war nicht stetig, sondern von einer
Kehrtwende geprägt.
Gleichwohl entsteht der Eindruck,
als seiJohnsonsKumpelhaftigkeit der-
zeit oft mehrTeil des Problems alsTeil
der Lösung. Nähe ist sein Politikstil,
undJohnson möchte gemocht werden.
Ihm war sichtlich unwohl, als er sich in
den vergangenenTagen gezwungen sah,
immer striktere Massnahmen gegen das
neue Coronavirus zu erlassen und öffent-
lich zu begründen. Bei einer Ansprache
an die Nation am Montagabend war dem
Premierminister anzusehen, wie sehr er
mit den Briten mitleidet.Das wirkte

mehr menschlich überzeugend als füh-
rungsstark. Und ob die bei der Gelegen-
heit erlasseneAusgangssperre nicht zu
spät kam, muss sich zeigen.

Nähe warTeil der Antwort


Johnsons Erkrankung entbehrt nicht
einer gewissen Ironie. Vor rund zwei
Wochen musste dieRegierung deutliche
Kritik wegen ihres bruchstückhaften
Kommunikationsstils einstecken. John-
son versuchte, wortwörtlich mit Nähe da-
gegenzuhalten.Er führte tägliche Presse-
konferenzen ein, die meistens von ihm
und manchmalvonMinistern bestrit-
ten wurden– immer imTr io und immer
auch mit wissenschaftlicher Beteiligung,
etwa des wissenschaftlichen Chefberaters
derRegierungPatrickVallance und des
medizinischen Chefberaters ChrisWhitty.
Manche Briten tauften dieAuftritte auf
liebenswerte Art«Borisand the Boffins»
(sinngemäss: «Boris und die Superhirne»).
SchärfereKommentare gab es, weil
diese Pressekonferenzen in einem beeng-
tenRaum von Downing Street 10 statt-
fanden, in dem weder dieRegierungs-
vertreter noch erstrecht die rund zwei
DutzendJournalisten zueinander Ab-
stand haltenkonnten. Schon dasFern-
sehbildkonterkarierte die Empfehlun-
gen zum «social distancing», die zunächst

eben nur Empfehlungen waren. Erst in
der laufendenWoche wechselten die
Medienorientierungen in den digitalen
Raum: DieJournalisten stellen ihreFra-
gen fortan perVideokonferenz.Wie häu-
figerin der britischen Strategie gegen die
Corona-Krise wurde erst umgedacht, als
der Missstand offensichtlich war.
Der britische Gesundheitsminister
Matt Hancock ist ebenfalls positiv auf
das Coronavirus getestet worden, wie
später amFreitag bekanntwurde. Auch
Hancock zeigt nur mildeSymptome. An-
zeichen einer Erkrankung zeigt ferner
der medizinische ChefberaterWhitty,
der sich prophylaktisch in Quaran-
täne begibt.WoJohnson, Hancock und
eventuellWhitty sich angesteckt haben,
ist unklar. Bei denräumlichenVerhält-
nissen wäre es zumindestkeine Über-
raschung, wenn es ausgerechnet bei den
Medienorientierungen passiert wäre.
BisFreitag wurden in Grossbritannien
14579 Fälle des neuenVirus nachgewie-
sen; 759Patienten sind verstorben.
Downing Street 10 ist nicht nur der
Regierungssitz des britischen Premier-
ministers, sondern auch seinWohn-
sitz – und alles anderealsein weitläu-
figerPalast. NachRegierungsangaben
wirdJohnson für siebenTage in seinem
Apartment verbleiben, Mahlzeiten wer-
den ihm auf dieTürschwelle gelegt.

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