32 SPORT Samstag, 28. März 2020
Japans zweite Geduldsprobe
Das Land musste bereits 1940 auf Olympische Somme rspi ele warten – damals verunmöglichte die p olitische Lage die Durchführung
PATRICK ZOLL
Die japanischeRegierung von Minister-
präsident Shinzo Abe war bis zum letzten
Moment zuversichtlich, dass die Olympi-
schen Spiele inTokio planmässig durch-
geführt werdenkönnten. Erst Anfang
Woche, als es nicht mehr anders ging,
rang sie sich nach Absprache mit dem
Internationalen OlympischenKomitee
(IOK) dazu durch, die Spiele auf das
nächsteJahr zu verschieben.
Vielleicht hat zum Zögern beigetra-
gen, dass die japanische Metropole be-
reits einmal auf geplante Spiele verzich-
ten musste:1940 hätte der sportliche
Grossanlass inTokio erstmals in einer
Stadt ausserhalb Europas und derVer-
einigten Staaten stattfinden sollen. Doch
dazu kam es nicht.
Lobbyieren bei Mussolini
Um1930 hatte die StadtTokio begon-
nen, sich für die Durchführung der
Spiele1940 zu interessieren.1940 war
ein historischesJahr in der japanischen
Zeitrechnung. Laut dem Shinto-Mythos
war 2600Jahre zuvor Kaiser Jimmu in-
thronisiert worden, dessen Dynastie bis
heute nicht unterbrochen worden ist.
Die Olympischen Spiele, so die Initian-
ten, sollten diesem nationalenJubel-
jahr eine globaleAusstrahlunggeben
- zusammen mit einerWeltausstellung.
Doch die Zeichen standen schlecht:
1931 marschierten japanischeTr uppen
in Nordostchina ein und errichteten
dort den «Puppenstaat»Mandschukuo.
Als derVölkerbund dies nicht gutheis-
sen wollte, beschlossJapan1933 unter
Protest, aus derVorgängerorganisation
der Uno auszutreten. Diplomatisch iso-
liert, hatteJapan schlechte Karten gegen
acht Mitbewerber, darunter dieFavori-
tenRom und Helsinki.
Japans Vertreter versuchten alles
Mögliche und griffen zu Mitteln, die da-
mals ungewohnt oder verpönt waren,
heute aber als normal angesehen werden.
So luden die Initianten den Präsidenten
des Internationalen OlympischenKomi-
tees, den Belgier HenryBaillet-Latour,
nachJapan ein. ZweieinhalbWochen
wurde er inTokio hofiert, bewirtet und
umsorgt – und sogar vom Kaiser empfan-
gen. Der japanische Botschafter inRom
sprach bei Mussolini vor undkonnte die-
sen davon überzeugen, die Kandidatur
Roms zurückzuziehen. Im Gegenzug ver-
sprachen dieJapaner, Rom für die Spiele
1944 zu unterstützen.
Seit ihrer neuzeitlichenWiederbe-
lebung in Athen imJahr1896 hatten die
Spiele immer in Europa stattgefunden,
einzigeAusnahme waren die Spiele 1932
in denVereinigten Staaten. DieJapa-
ner argumentierten geschickt, dass die
ol ympische Bewegung nur dann wirk-
lich international sei, wenn die Spiele
anJapan, das modernsteLand Asiens,
vergeben würden.
Japanische Sportler hatten bereits
seit1912 an Olympischen Spielen teil-
genommen, durchaus mit Erfolg. Bei
den Spielen in Los Angeles gewann das
Team 18 Medaillen, davon 7 goldene. Im
Nationenranking erreichte es den fünf-
ten Platz, noch vor Grossmächten wie
Grossbritannien oder Deutschland.All
das überzeugte eine Mehrheit des IOK.
Undso wurdeander Schlussfeier der
- Olympischen Spiele von Berlin im
August 1936 Tokio alsAustragungsort
für1940 bekanntgegeben.
Doch dieFreude überdenEntscheid
des IOK währte inJapan nur kurz. Der
Verlauf desFackellaufes mit dem olym-
pischenFeuer wurde ebenso zum Streit-
punkt wieder Standort des Haupt-
stadions. Auch dieVerschmelzung von
Tr adition mit olympischen Gepflogen-
heiten erwies sich als schwierig.
So sah das Protokoll vor, dass das
Staatsoberhaupt die Spiele offiziell er-
öffnen sollte. DochJapans Kaiser ge-
noss damals nochquasi göttlichen Sta-
tus –konservative Hüter der Monarchie
sahen es geradezu als blasphemisch an,
dass die Stimme von Kaiser Hirohito
überLautsprecher für jedermann zu
hören sein sollte. Es sollten nochJahre
vergehen, bis Hirohito erstmals zur Be-
völkerung sprach. Normalsterbliche
Japaner hörten ihn erstmals am15. Au-
gust1945 um 12 Uhr mittags, als er in
einerRadioansprache die Kapitulation
Japans bekanntgab.
Aber es waren nicht die internen
Querelen inJapan, die zur Absage der
Spiele führten, sondern die sich ver-
schlechternde internationaleLage. Im
Juli 1937 brach nach einer japanischen
Provokation der ZweiteJapanisch-Chi-
nesische Krieg aus. Ja panischeVertreter,
aber auch das IOK argumentierten zu-
erst noch, dassPolitik und Sport zu tren-
nen seien und dass die Spiele wie ge-
plant durchgeführt werden sollten.
Doch aus verschiedenenLändern,
allen voran den USA und Grossbritan-
nien, wurde derRuf nach einem Boykott
immer lauter. InJapan kamen zuneh-
mend dieKosten für dieVorbereitung
der Spiele in denFokus: In Anbetracht
der steigenden Kriegsausgaben wurde es
immer schwieriger, Millionen für einen
Sportanlass zurechtfertigen.
Spiele desWiederaufbaus
ImJuli 1938 rang sich die japanische
Regierung dazu durch, aufdieDurchfüh-
rung der Spiele inTokio1940 zu verzich-
ten.Das betraf auch dieWinterspiele, die
für dasgleicheJahran Sapporovergeben
worden waren.Das IOK vergab darauf-
hin die Spiele nach Helsinki.
Doch auch dieser Entscheid wurde
schon bald von derWeltpolitik über-
holt: Nachdem im September1939 der
ZweiteWeltkrieg ausgebrochen war,
war an eineDurchführung der Spiele
nicht mehr zu denken. Erst 1948 konn-
ten die Olympioniken wieder gegen-
einander antreten. Von diesen Spielen
waren SportlerJapans und Deutsch-
lands, der Aggressoren des Zweiten
Weltkriegs, ausgeschlossen.
1964 gelang esTokio dann doch,
als erste asiatische Stadt Olympische
Sommerspiele durchzuführen. Diese
- Olympischen Spiele sind tief imkol-
lektiven GedächtnisJapans verankert.
DamitkonnteJapan derWelt bewei-
sen, dass es aus denRuinen des Zweiten
Weltkriegs auferstanden war. Und dass
es sich von einem militaristischen Staat,
der sich grosseTeile Asiens mit Gewalt
unterzuordnen versucht hatte, zu einer
friedliebenden Nation gewandelt hatte.
Gleichzeitig präsentierteJapan techni-
sche Errungenschaften wie den Hoch-
geschwindigkeitszug Shinkansen.
Japans verlorene Spielevon1940,
die erfolgreichen von1964 und die nun
auf 2021 verschobenen haben eins ge-
meinsam: Die Organisatoren spannen
jedes Mal ein Narrativ desWiederauf-
baus. 1940 sollte gezeigt werden, dass
die Stadt nach dem verheerenden Erd-
beben von1923 wieder aufblühte. 1964
stand dieWiederauferstehung aus den
Tr ümmern des ZweitenWeltkriegs im
Vordergrund. Und jetzt will dieRegie-
rung Abe zeigen, dass die verheerende
Dreifachkatastrophe vom März 2011
mit Erdbeben, Tsunami und dreifacher
Kernschmelze im AtomkraftwerkFuku-
shimaDaiichi überwunden ist.
Ängste einer Raserin
Tina Weirather überwand viele Verletzungen und innere Widerstände – nun beendet sie eine Skikarriere, die längst hätte vorbei sein können
PHILIPPBÄRTSCH
TinaWeirather macht einen Spazier-
gang, als sie Klarheit erlangt. Zu Hause
sagt sie zu ihremFreund: «Ich habeBär-
lauch mitgebracht. Und ich höre mit Ski-
fahren auf.»Weirather ist 30-jährig, vor
15 Ja hren hatte die Liechtensteinerinim
Weltcup debütiert, am Mittwoch gab sie
denRücktritt bekannt. Der ersteDank
in derVideobotschaft ging an drei Ärzte,
«die mich immer zusammengeflickt ha-
ben». Mit 21Jahren hatteWeirather
schon vier Kreuzbandrisse und sieben
Knieoperationen erdulden müssen.Wer
so früh so viel Mühsal erleidet, macht
in derRegelkeine Karriere mehr in
diesem Sport.Weirather wareineAus-
nahme von derRegel, neunWeltcup-
Siege, zwei kleine Kristallkugeln, eine
Olympia- und eine WM-Medaille.
DochWeirather hat viel mehr über-
wunden als Verletzung umVerletzung.
Sie durchlebte Ängste, vor dem Stür-
zen, vor demVersagen.Während viele
andere Skirennfahrer dasThema tabui-
sieren, geht sie offen damit um.
DerTag des Startverzichts
Am 8.Februar hätteWeirather zur Ab-
fahrt in Garmisch-Partenkirchen an-
treten sollen. Doch nach der Besichti-
gung verzichtete sie auf den Start. «Zu-
nächst hatte ichkeine Angst, einfach
ein schlechtes Gefühl», sagtWeirather
amTag nach derRücktrittserklärung.
«Aber klar, ein schlechtes Gefühl macht
Angst.» ImeinzigenTr aining war Natha-
lie Gröbli verunfallt, die junge Schwei-
zerin erlitt einen offenen Schien- und
Wadenbeinbruch und schwere Kniever-
letzungen, «die Schreie hörte man auch
noch ein paar hundert Meter entfernt».
Obwohl sie für Liechtenstein fuhr,
warWeirather einTeil der Schweizer
Equipe, seit einiger Zeit die älteste und
erfahrenste Athletin und eine Integra-
tionsfigur. «Nathalies Sturz ist mir ein-
gefahren, auch wenn man sonst abge-
stumpft ist nach all denVerletzungen,
die man miterlebt hat», sagtWeirather.
«Höreich von einem Kreuzbandriss
einer Athletin, die ich nicht gutkenne,
ist das so normal, dass ich nach fünf
Minuten nicht mehr daran denke.»
An diesem 8. Februar belasteteWei-
rather noch etwas anderes. Sie hatte auf
der Eispiste Probleme mit dem Grip, bei
allemVertrauen in den Servicemann er-
schien ihr die Materialabstimmung nicht
radikal genug. Während der Besichti-
gung amRenntag «sah ich überall nur
Probleme. Nach dem fünfzigsten Mal
dachte ich:Das ist doch nicht normal,
irgendetwas ist seltsam heute. Es war wie
ein Déjà-vu.» ZehnJahre zuvor hatte sie
sich schon einmal so gefühlt.Damals, in
Cortina d’Ampezzo, war es schlecht aus-
gegangen, «ich ignorierte die Bedenken,
erlitt den vierten Kreuzbandriss – und
versprach mir, beim nächsten Mal auf
die innere Stimme zu hören».
Weirather sagt, früher sei sie frei von
Furcht gewesen,«aber mit denJahren
steckst du Stürze schlechter weg, irgend-
etwas beginnt dich unterbewusst zu blo-
ckieren.Als ich jung war, konnte ich
stürzen und im nächstenTr ainingslauf
dieTagesbestzeit aufstellen.Jetzt brau-
che ich fünfFahrten, um wieder bereit zu
sein.» In 99 Prozent derFällekönne sie
mehr leisten, als sie sich zutraue, «aber
es bleibt dieses eine Prozent, da solltest
du nicht pushen. Doch das checkst du
erst, nachdem du dich ein paarmal ver-
letzt hast.» Und wenn die Quote sinke,
von 99 auf 95 Prozent oder 90, dannrei-
che es irgendwann nicht mehr.
In der Saison 2018/19 hatteWeira-
ther noch zu den Schnellsten gehört.
Doch im vergangenenWinter erreichte
sie nur noch dreiTop-Ten-Klassierun-
gen.Weirather kann sich den Leistungs-
knick lediglich ansatzweise erklären.
Tr ainiert hatte sie hervorragend, doch
an denRennen fühlte sie sich häufig
nicht ganz wohl mit den Bedingungen
oder mit dem Material.Das Selbstver-
trauen schwand immer weiter, und in
Crans-Montana ertappte sichWeirather
dabei, wie sie schon am Start an die Ent-
täuschung im Ziel dachte.
Weirather wusste, dass die frü-
hereTeamkolleginFränziAufdenblat-
ten vor manchenRennen von Negativ-
schlagzeilen über sich geträumt hatte.
«Ich dachte mir:Das muss ja schlimm
sein», sagtWeirather, «und dann hatte
ich in Crans-Montana selberVersagens-
ängste.» Sie kannte das nicht, sie kannte
nur das Gefühl, eineLast zu tragen
wegen ihrer Herkunft: Die je zweifache
Olympia- und Gesamtweltcup-Siegerin
HanniWenzel ist ihre Mutter, der ehe-
malige Abfahrtsweltmeister HartiWei-
rather ihrVater. TinaWeirather hatte
sich früh gelöst von daheim, mit 13 ging
sie nach Schruns, mit 15 nach Stams, und
als die Internatszeit vorbei war, zog sie
in eine eigeneWohnung. DochalsWelt-
cup-Fahrerin wurde sie jahrelang auf
fast nichts anderes angesprochen als auf
die Eltern. Wie Felix Neureuther, der
Sohn vonRosi Mittermaier und Chris-
tian Neureuther, musste sie einigeRen-
nen gewinnen, bis sie nicht mehr über
die Eltern definiert wurde.
«Tunicht so saublöd»
Weirather sagt, viele Leute wären über-
rascht, wie wenig sie mit den Eltern über
denSkisport geredet habe. Aber die eine
oder andere Anekdote habe sie mitge-
nommen. «Meine Mutter hatte immer
Angst, wenn sie Abfahrten fuhr. Einmal
war die Piste nachRegenfällen über
Nacht gefroren. Sie rief meinenVater an
und weinte, doch er sagte nur: ‹Tu nicht
so saublöd und fahr einfach.›» Hanni
Wenzel gewann dasRennen.
Tunicht so saublöd und fahr einfach.
Das beherzigte auchTinaWeirather, ob-
wohl derVaterkeine solchen Sätze mehr
aussprach, sondernAngsthatte um die
Tochter. Nach den Kreuzbandrissen riet
er ihr sogar zumAufhören.Tunicht so
saublöd und fahr einfach – das funktio-
niert nicht immer. Den extremstenTag
erlebteWeirather an den Olympischen
Spielen 2018. ImTagebuch, das später
im Magazin «N° 1» erschien, schrieb
sie über die Stunden vor dem Super-G,
ihrem grossenRennen:«Ich kann nichts
anderesdenken als: Ich musskotzen.
(.. .) Ich zittere am ganzenKörper. (.. .)
Ich ziehe michan, mache michauf den
Weg zum Start, mir schiessenTr änenin
dieAugen, ich werde sauer.» Dann fuhr
sie los und wurde Dritte.
Im vergangenen HerbsträumteWei-
rather das Büro auf. Sie fand ein Buch
mit einer Zielpyramide, die sie als
17-Jährige mit einem Sportpsychologen
erarbeitet hatte. Ganz oben waren die
langfristigen Ziele notiert, Olympia-
medaille, WM-Medaille, Weltcup-Siege
in drei Disziplinen, Kristallkugel.
Als Skirennfahrerin hatTinaWeira-
ther alle ihre Ziele erreicht. Es ist Zeit
für ein neues Leben.
Erfolgreichtrotz zahlreichenVerletzungen:Als Skirennfahrerinhat Tina Weirather alle ihre Ziele erreicht. PETER SCHNEIDER / KEYSTONE