34 WOCHENENDE Samstag, 28. März 2020
«Die Flamme geht schnell
ein, wenn man immer
zusammenhockt»
Die PaartherapeutinSandra Konradweiss, dass zugrosse
Erwartungen anden anderen geradein der Selbstisolation schädlich
sind. Davor warnt sie im Gespräch mit Birgit Schmid. Ihr Rat anPaare,
bevor ein Streit eskaliert:die5:1-Regel.
Seit knapp zweiWochen verbringen wir
in der Schweiz und inDeutschland den
ganzen Ta g zu Hause, siebenTa ge die
Woche. Es heisst, die schlimmste Phase
folge erst: Erfahrungsgemäss soll der
Stress in einem mehrwöchigen Haus-
arrest ab der drittenWoche steigen.
Stimmt das?
Laut Studien verstärken sich Stress-
symptome bei einer tatsächlichen Quaran-
täne bereits nach zehnTagen empfindlich.
Aber schon bei der jetzigen Selbstisola-
tion berichten viele Leute von Einsamkeit,
sie fühlen sich getrennt,abgeschnitten von
allem.Das höre ich sowohl von Klienten,
die allein leben, als auch von denjenigen,
die in einerPaarbeziehung sind.
Sie sagen, Sie möchten die Leutewach-
rütteln.Warum?
Damites nicht zurkomplettenAusgangs-
sperrekommt. Denn es ist entscheidend,
dass wir den Spielraum, der uns immer
noch bleibt, selbstbestimmt nutzen. Man
weiss, wie wichtig Selbstwirksamkeit ist,
wenn man sich in seinenFreiheiten be-
schränken muss. Noch kann ich mich frei-
wil lig entscheiden, die sozialenKontakte
herunterzufahren und zu Hause zu blei-
ben. Es hilft mir enorm, wenn ich mir sa-
gen kann:Ich mache das, weil ich einen
Sinn darin sehe und um mich selber und
andere zu schützen. DieAuswirkungen
derFreiheitsbeschränkungen erleben
wir auf dieseWeise milder, als wenn diese
von aussen bestimmt würden.
Was hätten noch strengereBeschrän-
kungen psychologisch zurFolge?
DieAuswirkungen auf unsere Psyche, die
das Herunterfahren des sozialen Lebens
schon jetzt hat, würden sich verstärken.
Eine neulich imFachmagazin «Lancet»
veröffentlichte Studie zeigt, dass bei Qua-
rantäne Angst,Verwirrung, starkeReiz-
barkeit undWut entstehenkönnen. Ei-
nige Menschenentwickeln posttrauma-
tische Belastungssymptome. Auch das
Risiko für Substanzmissbrauch erhöht
sich. Und noch etwas macht mir Sorgen.
Was genau?
Ich befürchte, dass damit auch die häus-
liche Gewalt ansteigt. Psychischer Stress
kann Aggressionen und Gewalt fördern,
und es gibt für die Betroffenen dann
keineAusweichmöglichkeiten.
Wie überlebt man dieVe rbannung ins
Haus mehr oderweniger schadlos?
Das Zusammenleben auf engemRaum
verlangt viele Absprachen. Das ist anders
als an einem freienWochenende, wenn
am Montagmorgen jeder wieder seines
Weges geht. Müssen nun beide von zu
Hause aus arbeiten,könnenFrust, Wut
und Enttäuschung entstehen. Es braucht
eine grosseKooperationsbereitschaft.
Klingt nüchtern, wie Sie von Liebe reden.
Nun ja, meine Erfahrung zeigt, dass
überfrachtete Erwartungen die Liebe
überfordern. Der andere kann einem
dieWünsche nicht von denAugen ab-
lesen, auch wenn viele diese Phantasie
haben.Wir müssen unsere Anliegen for-
mulieren, verhandeln und immer wieder
neu justieren, wenn es knirscht. Und es
wird knirschen. Die jetzige Situation ist
für die meisten Menschen auf derWelt
neu und einegrosse Herausforderung.
Ist dieser Zustand vergleichbar mit
anderen Situationen, denen man als
Paar ausgesetzt ist?
Auch in denFerienoder, als klassisches
Beispiel,anWeihnachten fühlen sich
«Man sollte den je tzigen
Allt ag, den man selber
gestalten muss,
strukturieren.
Pausen schaffen,
kurz allein hinausgehen.»
«Ein starkes Gefühl derVe rbundenheit kannsogar die Intimität fördern,was sich wiederum positivauf die Sexualität auswirkt.» ANNICK RAMP/ NZZ