Samstag, 28. März 2020 GESELLSCHAFT 39
Wo sind all die Aliens hin?
In den neunziger Jahren häuften sich Berichte von Menschen, die angeblich von Ausserirdischen entführt wurden.
Manche behaupten das heute noch. VON STEVE PRZYBILLA
Den Sommer1986 wird Karl Grossmann
nie mehr vergessen. «Ich hatte mir ge-
rade ein neuesAuto gekauft und wollte
mit ihm eine Spritztour unternehmen»,
erzählt der US-Amerikaner, der heute
69 Jahre alt ist und in Kalifornien lebt.
«Also bin ich bis in denYosemite-Na-
tionalpark gefahren und habe auf dem
Rücksitz übernachtet.»
Was dann geschah, darüber hat Karl
Grossmann 30Jahre lang geschwiegen–
aus Scham, alsVerrückter abgestempelt
zu werden. Er hatte Angst, vor anderen
als Depp dazustehen undFreunde und
Familienmitglieder zu verärgern. Doch
irgendwann hielt derAutomechaniker
das Schweigen nicht mehr aus.
Jetzt sitzt er bei seinerTherapeutin
Laurie McDonald in Sacramento, um
das Erlebte noch einmalRevue passie-
ren zu lassen.Das Licht ist gedimmt,im
Regal liegenWolldecken, um Geborgen-
heit zu vermitteln.Grossmann atmet tief
durch, dann fängt er mit leiser Stimme
an zu erzählen.
«Mitten in der Nacht», sagt er, «ist im
Nationalpark eine ArtFeuerball über
denBäumen erschienen.» Ein warmer,
weisser Lichtstrahl habe ihn erfasst und
«nach oben» gezogen. «So etwasFried-
liches habe ich noch nie gespürt», sagt
Grossmann. Doch schon wenige Minu-
ten später bekam er es mit der Angst
zu tun. «Ich lag auf einemTisch,konnte
mich nicht bewegen. Drei spindeldürre
graueWesen mit Mandelaugen standen
um mich herum und untersuchten mich.
Eines von ihnen sagte nur einWort:
Züchtung.»
Grossmann istnicht allein
Ist Karl Grossmanns Erlebnis ein Be-
weis für Aliens, die auf der Erde ihr Un-
wesen treiben? Oder nur einBeispiel für
seine blühende Phantasie? In den USA
ist die Bevölkerung gespalten, was diese
Frage angeht.Laut einer aktuellen Um-
frage des Meinungsforschungsinstituts
Ipsos glauben 57 Prozent an intelligen-
tes Leben auf anderen Planeten. 45 Pro-
zent bejahten dieAussage «Ufos existie-
ren und haben die Erdebereits besucht».
Ganz so allein,wie ersich1986 fühlte, ist
Grossmann heute also nicht mehr.
Tr otzdem wagen es Menschen die-
serTage nur noch selten, ihre angeb-
lichen Erfahrungen mit intergalakti-
schen Begegnungen preiszugeben. Ganz
anders in den1990erJahren:Vor allem
in denVereinigten Staaten berichteten
die Medien regelmässig überPerso-
nen, die vonAusserirdischen entführt
und auf verschiedensteWeise gequält
wurden – oder ebendies behaupteten.
Die Mystery-Serie «Akte X» brachte
dasThema in Millionen vonWohn-
zimmern. Die Talkshow-Moderatorin
OprahWinfrey lud Menschen ins Stu-
dio ein, die ihre Begegnungen der drit-
ten Art schilderten.
1961 war das Ehepaar Betty und
Barney Hill mit demAuto von Mont-
real nach New Hampshire unterwegs,
als ein unbekanntes Flugobjekt am
Himmel auftauchte. Erst zu Hause fiel
ihnen auf, dass sie sich an zwei Stun-
den ihrerFahrt nicht erinnernkonnten.
Unter Hypnosekonnten sie die Erinne-
rungslücken schliessen: Sie seien in das
Ufo transportiert und dort medizinisch
untersucht worden, erzählten sie ihrem
Psychiater, der stets an dieAufrichtig-
keit seinerPatienten glaubte. Es folgten
Zeitungsberichte, Bücher und eineTV-
Verfilmung.Das Phänomen der Alien-
Entführungen war geboren. Und damit
auch die Debatte darüber, ob die Be-
richte stimmten oder nicht.
Kritiker wie der Psychologe Leonard
Newman von der University of Illinois,
Chicago, sprachen von «falschen Erin-
nerungen, Phantasie undTagträumen».
AndereWissenschafter hielten die Schil-
derungen für authentisch. Zumal seit
den1970erJahren dasVertrauen in die
amerikanischeRegierung sichtbar ge-
sunken war. DerVietnamkrieg und der
Watergate-Skandal hatten ihre Spuren
hinterlassen.Wenn dieRegierung in die-
sen Punkten so lügt,sodie Annahme
vieler US-Bürger, so tut sie es vielleicht
ja auch in Bezug auf Aliens.
Mit John Mack beschäftigte sich
in den1990erJahren einrenommier-
ter Harvard-Professor mitdemPhäno-
men, das anscheinend immer weiter um
sich griff. Mack organisierteKonferen-
zen, bei denen sichWissenschafter ver-
schiedener Disziplinen austauschten.In
seinen Untersuchungen kam er zu dem
Schluss, dass vielePersonen, die von
Alien-Entführungen berichteten, unter
posttraumatischenBelastungsstörungen
litten. Sie zeigten ähnlicheSymptome
wie Soldaten, die im KriegTr aumati-
sches erlebt haben: Sie wurden von Er-
innerungen und Flashbacks übermannt,
konntennichtmehr schlafen, waren ge-
reizt und ängstlich. Ob dabei wirklich
Ausserirdische diese Symptome ver-
ursacht hatten, vermochte auch Mack
nicht zu sagen. Er war jedoch zeit seines
Lebens davon überzeugt, dass die Be-
troffenen selbst daran glauben.
Und heute?Funkstille. In den USA
sindAusserirdische vor allem dort sicht-
bar, wo sie Geld bringen.
In der KleinstadtRoswell in New
Mexico, wo1947 ein Ufo abgestürzt sein
soll, wirbt fast jedes Geschäft mit klei-
nen grünenMännchen.Auf den Stras-
senlaternen klebenAugen, damit sie wie
Alien-Köpfe aussehen. Und die McDo-
nald’s-Filiale wurde so gestaltet, dass
sie einemRaumschiff ähnelt. Ernst-
haft diskutiert wird über dasThema
in der Öffentlichkeit aber kaum noch.
Selbst «Akte X», einst der Gottesdienst
für «Gläubige», hatte sich irgendwann
totgelaufen. Nach denTerroranschlä-
gen von 9/11 sei «einfach nicht mehr
die richtige Stimmung» da gewesen, er-
zählte der «Akte X»-Produzent Chris
Carter bei einemTr effen mitFans im
Jahr 2008.
Auch Spitzenpolitiker
Das bedeutet jedoch nicht, dass alle, die
an Alien-Entführungen glauben, eben-
falls vom Erdboden verschwunden sind.
«Es betrifft noch immer sehr viele Men-
schen», sagtLaurie McDonald, die Psy-
chotherapeutin, die sich auf dasThema
spezialisiert hat und zu derenPatien-
ten auch Karl Grossmann gehört. In
ihrer Praxis hängen zahlreiche Urkun-
den, die sie als Hypnotiseurin auswei-
sen – eineTechnik, durch die Betrof-
fene ihreErinnerungen wiedererlan-
gen sollen.
McDonald isteine selbstbewusste
Frau, die für ihre Arbeit brennt. «Die
Leute haben es satt, dass sich die Main-
stream-Medien über sie lustig machen»,
sagt sie. Deshalbredeten die meisten
heute nur noch in Selbsthilfegruppen
oder sozialen Netzwerken über das Er-
lebte.
Die Psychotherapeutin berichtet von
1300 Fällen, die sich auf ihrem Schreib-
tisch stapeln. «Natürlich gibtes Leute,
die auf Drogen sind und sich das Ganze
einbilden»,räumt sie ein.Diemeis-
ten Schilderungen halte sie aberfür
authentisch. «Diese Menschen haben
etwasTr aumatisches erlebt. Unter Hyp-
nose erzählen sie mir sehr detailliert,
was ihnen widerfahren ist.» Zu ihren
Patienten gehörtensowohl Männer wie
Frauen, vom Hauswart bis zum Spitzen-
politiker, und sie kämen aus ganz ver-
schiedenenLändern.
Auch Wissenschafter haben sich
schon mit derFrage beschäftigt, welche
Personengruppen am ehesten betroffen
sind. Die Ergebnisse fielen unterschied-
lichaus. Manche befanden, die Betrof-
fenen hätten eine überdurchschnittlich
rege Phantasie. Andere schlussfolger-
ten, es handle sich umDurchschnitts-
bürger mit intaktemVerstand.Wie
viele Menschen tatsächlich von Aus-
serirdischen entführt wurden– oder
das glauben–,darübergibteskeine
Statistiken.
Laurie McDonald geht von einer
hohenDunkelziffer aus. Sie ist aller-
dings nicht ganz objektiv. Auch sie
sei als jungeFrau von Aliens entführt
worden, erzählt dieTherapeutin: «Sie
standen in meinem Schlafzimmer, ich
hatte keineAngst – bis sie mit einer
riesigen Nadel in meinenBauchnabel
eindrangen.» Kritiker halten solche
Schilderungen für Schauergeschich-
ten, mit denenTherapeutinnen wie
Laurie McDonald vor allem eines ma-
chen:Geld.
Unter ihren Patienten geniesst
McDonald hingegen einen Heimvor-
teil. Sie tritt auf Ufo-Kongressen auf,
leitet eine Selbsthilfegruppe, hat dem-
nächst ihre eigeneTV-Sendung.Sieist
eine von ihnen.Warum sollten Men-
schen die einzigen intelligenten Lebe-
wesen im Universum sein?, lautet ihr
Standpunkt. Und die Entführungen?
«Die werden von verschiedenen Alien-
Rassen durchgeführt», sagt die Psycho-
therapeutin «Sie haben alle ihre eigenen
Motive. Und natürlich verletzen sie da-
mit unsere Menschenrechte.»
Karl Grossmann hat es geholfen, mit
seinerTherapeutin über die verhängnis-
volle Sommernacht imYosemite-Natio-
nalpark zu sprechen. «Heute ist es mir
egal, ob mich die Leute für verrückt
halten», sagt der 69-Jährige. Er sei ruhi-
ger geworden, gelassener. «Die Angst ist
jetzt viel geringer», sagt er. «Ich weiss
jetzt, dass da draussen mehr ist, als die
meisten denken.Viel mehr.»
Tanzende aufeiner Strasse Richtung Area 51 in Rachel, Nevada – in denUSA glauben 57Prozent der Bevölkerung an intelligentes Lebenauf anderen Planeten. JIM URQUHART/ REUTERS
«Drei spin deldürre
grau e Wesen
mit Mandelaugen
standen um michherum
und untersuchtenmich.
Eines von ihnen
sagte nur einWort:
Züchtung.»
KarlGrossmann
US-Amerikanischer Automechaniker