Neue Zürcher Zeitung - 28.03.2020

(Tina Sui) #1

4 INTERNATIONAL Samstag, 28. März 2020


Corona ist für viele Senegalesen


auch ohne Infektion lebensbedrohlich


Die Alltagsbedingungen in Afrika ersc hweren das Bekämpfen der neuen Lungenkrankheit


DAVID SIGNER,DAKAR


In Senegal gab es bis jetzt offiziell 11 9
Infektionen durch das Coronavirus. Das
ist, gemessen an der Bevölkerung von
15 Millionen, eher wenig, auch wenn die
Dunkelziffer sicher höher ist. Aber die
meisten Experten sind sich einig, dass
die Zahlen in Senegal und in Afrika
generellrasch steigen werden und es
angesichts der schlechten Infrastruktur
und der Lebensbedingungen zur Kata-
strophekommenkönnte.
Nachdem am Montag in Senegal
eine nächtlicheAusgangssperre ver-
hängt worden war, ging diePolizei bru-
talgegen jeden vor, der sich nach 20 Uhr
noch draussen aufhielt. Im Netz zirku-
liertenVideos, die zeigten, wie diePoli-
zei mit Schlagstöcken und Gürteln auf
Autofahrer undPassanten losging.


Fatales Gottvertrauen


Vielereagieren empört auf die Gewalt,
viele zeigen aber auchVerständnis. Das
hat vor allem mit demFreitag vor einer
Woche zu tun. Normalerweise wird an
diesemTag in den Moscheen und auf
den Strassen das grosseFreitagsgebet
abgehalten. Eine Stunde lang steht alles
still.Wegen des Coronavirus waren
grosseVersammlungen aber verboten
worden. Die meisten hielten sich daran.
Doch in einigen QuartierenDakars und
vor allem inTouba fanden die gemeinsa-
men Gebete trotzdem statt.
Touba ist die Hochburg der muslimi-
schen Bruderschaft der Mouriden und
hat praktisch den Status einesFreistaats.
Der Kalif, der oberste Geistliche, agiert
wie ein Präsident. Die nationalePolizei
hat dort nichts zu suchen.Auch an jenem
Freitag schrittsienicht ein. Der Kalif
sagtesinngemäss, man müsse nur genug
beten, dann werde Gott die Mouriden
schon vor der Krankheit schützen. Die
Situation ist paradox:Jegrösser die Ge-
fahr durch die Krankheit ist, umso mehr
empfinden die Gläubigen das Bedürfnis,
zusammen zu beten, und leisten gerade
dadurch derVerbreitung desVirusVo r-
schub. InTouba breitet sich die Krank-
heit besondersrasch aus. Eine einzige
Person steckte sechzehn andere an. Zahl-
reichen Senegalesen, auchPolitikern,
denen die Selbstherrlichkeit der Mouri-
den schon lange ein Dorn imAuge ge-
wesen war, platzte der Kragen.Dass Prä-
sident Macky Sall kurz darauf den Not-


stand ausrief, mit weitreichendenVoll-
machten für diePolizei, war wohl auch
eineKonsequenz derVorfälle inTouba.
Inzwischen äussert sich derWider-
stand gegen diePolizeigewalt nicht so
sehr inTouba, sondern in den ärmeren,
dichtbesiedelten Quartieren vonDakar.
In Medina, dem schon immer ein etwas
wilderRuf anhängte, bildeten sich ganze
Banden, die nachts auf die Strasse gin-
gen, um sich mit derPolizei Scharmüt-
zel zu liefern. Einige holten um 20 Uhr
ihre Plastikstühleraus und setzten sich
demonstrativ vor die Haustüre,um zu
sehen, wie die Uniformierten auf die
Provokation reagierten. Siekonnten
damitrechnen, dass ihreFreunde ihnen
mitVergnügen zu Hilfe eilen würden.
Viele latenteKonflikte brechen unter
dem Druck von Covid- 19 nun mög-
licherweise auf:Zwischen Mouriden und
Nichtmouriden, Gläubigen und Nicht-
gläubigen, Armen undReichen, Alten
undJungen, Senegalesen und«Weis-

sen», also Europäern und Asiaten.Viele
befürchten die Schliessung der Märkte.
Schon jetzt werden die Öffnungszeiten
heruntergeschraubt, einige machten
bereits dieLäden dicht. Im Gegensatz
zu Europa kaufen die Senegalesen vor
allem auf den Märkten ein.Die Super-
märkte sindfür die Bessergestellten.Die
Regierung steht vor einem Dilemma: An
den Märkten herrscht ein grosses Anste-
ckungsrisiko,ein Mindestabstand lässt
sich kaum einhalten. Aber wie soll die
Nahrungsmittelversorgung der Bevöl-
kerung ohne Märkte sichergestellt wer-
den? Die meisten Senegalesenkönnen
auchkeineVorräte anlegen. Sie leben
von der Hand in den Mund.Viele haben
nicht einmal einenKühlschrank.
Überhaupt scheitern viele der emp-
fohlenen Massnahmen an den Lebens-
bedingungen. Wie soll man sich schüt-
zen, wenn man zu zehnt in einer kleinen
Wohnung lebt? Normalerweise ist man
tagsüber und auch nachts oft draussen.

Nun soll man jedoch zu Hause bleiben.
Social Distancing oder sogar Quaran-
täne sind unter diesenVerhältnissen un-
möglich. Oft breitet man nachts Matrat-
zen am Boden aus, und dann schläft einer
neben dem andern, oder auch mehrere
in einem Bett. Die Generationen leben
hier viel enger und durchmischter zusam-
men.Altersheime gibt es nicht. Dadurch
ist die Ansteckungsgefahr für die Älteren
grösserals in der Schweiz.Viele verfügen
nicht über fliessendesWasser, und selbst
wenn sie einen Anschluss haben,kommt
oftkeinWasser aus der Leitung. Desin-
fektionslösungen sindrelativ teuer. Tr adi-
tionsgemässessenauch alle aus einerge-
meinsamen Schüssel, mit der Hand.
Selbst dieFrage derFortbewegung
ist existenziell. Die meistenkönnen sich
keineTaxis leisten und nehmen Busse
und Kleinbusse. Diese sind chronisch
überfüllt, man sitzt und steht Schulter
an Schulter. Nun dürfen die Busse offi-
ziell nur noch die Hälfte der normalen

Kapazität transportieren. Aber kaum je-
mand hält sich daran, weil man sowieso
schon lange warten muss und nun zusätz-
lich Angst hat, es bis zurAusgangssperre
nicht nach Hausezuschaffen. Gebüsst
von derPolizei werden die Chauffeure.
Aber wie sollen sie all diePassagiere am
Einsteigen hindern?Viele ziehen es vor,
ihre Busse irgendwo zu parkieren, statt
nur halb ausgelastet zu fahren oder ge-
büsst zu werden.
Auch die offizielle Busgesellschaft
arbeitet nur noch bis 16 Uhr. Dadurch
gibt es noch wenigerTr ansportmöglich-
keiten, und der Andrang auf die ver-
bliebenen Busse ist umso grösser. In der
Abenddämmerung sieht man massen-
weise Senegalesen, die zuFuss aus der
Innenstadt in dieAussenquartiere gehen.
Manche joggen, um der Not wenigstens
noch etwas Sportliches abzugewinnen.
DieFrage eines allfälligen Covid-19-Tests
scheitert oft schon am Geld. DieFahrt
zum InstitutPasteur, das dieTests durch-
führt, ist für die meisten unerschwinglich.

GetrennteFamilien


Ihren Arbeitsplatz nach Hause verlegen
können die wenigsten. Der Dienstleis-
tungssektor ist klein. Die meisten schla-
gen sich mit Gelegenheitsjobs durch,
alsTaglöhner, Kleinhändler, ambulante
Verkäufer mitBauchladen,Autowäscher
oder Hausangestellte. Den Hausange-
stellten wird nun empfohlen, entweder
ganz zu Hause zu bleiben oder defini-
tiv an ihrem Arbeitsort einzuziehen. Viel
Mitspracherecht haben sie nicht. Sie ver-
fügen überkeine Arbeitsverträge, arbei-
ten informell und habenkeineRechte,
wenn sie ihren Job verlieren. Von
Arbeitslosenversicherungen oder Kran-
kenkassenkönnen sie nur träumen.
Zu den offiziellen Massnahmen gegen
diePandemie gehört auch einReisever-
bot zwischen denRegionen.Das stellt
zahlreicheFamilien vor ernste Probleme.
Viele Männer arbeiteninDakar, wäh-
rend ihreFamilien irgendwo in der Pro-
vinz, oftbei der Grossfamilie des Ehe-
manns, wohnen. Die Männer gehen dann
einmal proWoche oder Monat nach
Hause und bringen Geld oder Einkäufe
mit. InDakar lebensie meist spartanisch.
Sie teilen sich beispielsweise ein Zim-
mer mit einem Nachtwächter, der tags-
über dort schläft, wennsie selbst draus-
sen arbeiten. Nun werden dieseFamilien
auseinandergerissen.

Feuerwehrmänner reinigen den Colobane-Markt inDakar, der für eineWoche ges chlossen wurde. SYLVAIN CHERKAOUI / AP

Selenski stösst auf Widerstand


Im Schatten der Coronavirus- Krise streitet die Ukraine über einen mögliche n Kurswechsel im Donbass


MARKUSACKERET, MOSKAU


In Kiew steht der öffentliche Ver-
kehr still. Die U-Bahn, eigentlich eine
Lebensader der Millionenstadt, ist vor
mehr als einerWoche geschlossen wor-
den. Am Mittwoch kündigte Minister-
präsident Denis Schmihal an, das Kabi-
nett werde für dreissigTage denAus-
nahmezustandverhängen. Schonseit
Mitte März sind mit wenigenAusnah-
men alle öffentlichen Einrichtungen
undLäden zu, zwischen den Grossstäd-
ten verkehrenkeine Züge und Flug-
zeuge mehr, und die Flughäfen nehmen
nur noch all die Ukrainer aus demAus-
land auf, die PräsidentWolodimirSe-
lenski zur Heimkehr aufgerufen hatte.
Für Ausländer sind die Grenzen dicht.
Die Coronavirus-Krise hat das ohnehin
fragileLand im Griff. DieFallzahlen
sind noch vergleichsweise tief, aber stei-
gen stark an. Bis anhin wurde jedoch
wenig getestet.
Weichheit und Liberalität seienVer-
bündete des Coronavirus, liess Selenski
in einerFernsehansprache die Ukrainer
wissen. Er will zeigen, dass dieFührung
die Bedrohung im Griff hat. Gegen den


vor kurzem aus dem Amt gedrängten
Ministerpräsidenten Olexi Hontscharuk
und seineRegierung wurden Ermittlun-
gen eingeleitet, weil sie dieVorberei-
tungen auf diePandemie vernachlässigt
hätten.Das noch nicht zu Enderefor-
mierte, schwache Gesundheitswesen be-
reitet grosse Sorgen. Zugleich droht der
Wirtschaft derKollaps.

DirekteGespräche denkbar


Mitten in der Corona-Krise ist Se-
lenski bei einem seiner wichtigsten
und zugleich umstrittenstenVorhaben
mit grossemWiderstandkonfrontiert:
der Beilegung des Krieges in der Ost-
ukraine. Manche Beobachter argwöh-
nen gar, Selenski und sein Stabschef
AndriJermak nutzten dieSituation aus,
um ohne grössere – weil nicht erlaubte–
Proteste unpopuläre Entscheidungen in
dieWege zu leiten.Aus denVerhand-
lungen der trilateralenKontaktgruppe
(Ukraine, Russland, OSZE) in Minsk
gelangte einPapier an die Öffentlich-
keit, das an einem ukrainischenTabu
zumindest stark kratzt. Es geht um die
MöglichkeitdirekterGespräche zwi-

schenVertretern Kiews und der abtrün-
nigen«Volksrepubliken» Donezk und
Luhansk im Donbass.
Jermak bestätigtespäter den Inhalt.
Demnach ist ein Beratergremium ge-
plant, das aus je zehnVertretern der
KiewerRegierung und der«Volksrepu-
bliken» sowie aus je einem Abgesand-
ten der OSZE,Frankreichs, Deutsch-
lands undRusslands besteht. Die ur-
sprünglich schon für dieseWoche ge-
plante Unterzeichnung des Dokuments
war aber wegen der Einschränkungen
durch die Corona-Krise nicht möglich.
Zudem werde weiter mit der OSZE und
den westlichen Staaten darüber verhan-
delt, sagte der ukrainische Minister für
dieReintegration der besetzten Ge-
biete, OlexiResnikow. So ist beispiels-
weise unklar, von wem sich die Kiewer
Regierung und die Separatisten vertre-
ten lassensollten.Für den KiewerPoli-
tologenWolodimirFesenko ist das eine
zentraleFrage. Zögenoffizielle ukrai-
nische Staatsvertreter in das Gremium
ein, stünden sich tatsächlich Kiew und
die Abtrünnigen direkt gegenüber.
Russland verlangt seitJahren direkte
Gespräche, weil es sich aus Moskauer

Sicht um eine interne Angelegenheit
des Nachbarlands handelt. Die Ukraine
und ihre westlichen Unterstützer ver-
weisen dagegen auf die nachgewiesene
Rolle Moskaus sowohl bei der Ansta-
chelung der Abtrünnigen als auch bei
den Kriegshandlungen und derVerwal-
tung der Separatistengebiete.

Einknicken vor Russland?


Das Ansinnen der ukrainischenFührung
bewirkte sofortAufregung in der ukraini-
schen Zivilgesellschaft, Teilen der Oppo-
sition, aber auch innerhalb der Präsiden-
tenpartei Diener desVolkes. In Letzt-
genannter formierte sich eine Gruppe,
dieWiderstand dagegen ankündigte. Ein
Abgeordneter, der sich öffentlich vehe-
ment ablehnend geäusserthatte, wurde
als Berater Selenskis entlassen.
Für Selenskis Kritiker ist die Zustim-
mung des für russlandfreundlich gehal-
tenenJermak zu dem Beratergremium
der Beweisdafür, dass sich die Ukraine
unter diesem Präsidenten den russischen
Vorstellungen von einemFrieden unter-
ordne. Sie sehen im neuen Unterhänd-
ler auf russischer Seite, dem erprobten

stellvertretenden Kreml-Verwaltungs-
chef DmitriKosak, dieTr iebkraft dahin-
ter. Offiziell hat sich an Selenskis Hal-
tung nichts geändert. Er will Lokal-
wahlen im Donbass nur imRahmen der
ukrainischen Gesetze durchführen und
erst dann, wenn Kiew dieKontrolle über
die Grenze zuRussland wiedergewon-
nen hat.Auch eineFöderalisierung des
Landes lehnt er – wie die Mehrheit der
Ukrainer – ab. Das steht aus russischer
Sicht imWiderspruch zu denVerpflich-
tungen des Minsker Abkommens.
Der russische Präsident Putin ver-
suchte in den vergangenenWochen auch
seinen alten ukrainischen Vertrauten
Wiktor Medwedtschuk von der prorussi-
schen Oppositionsplattform wieder ins
Spiel zu bringen. Dieser lancierte die Idee
einer parlamentarischen Arbeitsgruppe,
auch mitVertretern der russischen Staats-
duma, des Deutschen Bundestags und
der französischen Nationalversammlung.
Allerdings geht es nur schon in der ers-
ten, wichtigstenFragein der Ostukraine,
einem dauerhaftenWaffenstillstand, nicht
voran. In den vergangenenWochen kam
es zu schweren Zwischenfällenmit Toten
an derKontaktlinie.
Free download pdf