Neue Zürcher Zeitung - 28.03.2020

(Tina Sui) #1

LITERATUR Samstag, 28. März 2020


«Unsere Verantwortlichen


wissen vielleicht nicht


einmal, wann sie lügen»


Die britische Schriftstellerin Hilary Mantel schlägt im Gespräch mit


Thomas David den Bogen von Englands Geschichte zur Ge genwart


Hilary Mantel, Sie habenfünfzehnJahre
an IhrerTrilogie über denAufstieg Tho-
mas Cromwells am Hofe Heinrichs
VIII.gearbeitet. Nun liegt mit «Spie-
gel und Licht» das abschliessendeWerk
vor. Kö nnen Sie den Moment derVoll-
endung beschreiben?
In denletztenJahren habe ich von mei-
ner Arbeit kaum aufgeschaut. Ich klebte
Tag fürTag fürTag an meinem Schreib-
tisch und nähte dasProjekt zusammen.
Ein Buch hat viele falsche Enden,aber
dannkommt derTag,an dem man es
wirklich zu Ende geschrieben hat. Als
ich meinem Mann sagte: «Ich bin fertig»,
haben wir beide gelacht.Vor Freude,
aber auch voller Unglauben. Und dann
geschah noch etwas Eigenartiges.

Nämlich?
Als ich am nächsten Morgen auf-
wachte und insWohnzimmer ging, sah
ich, dass meinPorträt Heinrichs VIII.

von derWand gefallen war und an der
Fussbodenleiste lehnte. Ich traute mei-
nenAugen nicht, aber dies schien mir
etwas zu sagen. DieTatsache, dass man
zu einem Ende gekommen war und das
Porträt Cromwells noch immer sicher an
seinem Haken an derWand hing, ent-
sprach meinem Gefühl, dass es Heinrich
ist , der aus dem ganzen Prozess alsVer-
lierer hervorgegangen ist.

«Spiegel und Licht» beginnt mit der
Hinrichtung AnneBoleyns imJahr 1536
und endet mit Cromwells eigener Hin-
richtung vierJahre später. In einem noch
grösseren Erzählbogen führt das Ende
des Romans an den Anfang derTrilo-
gie zurück.
Das stimmt. Als ich mit«Wölfe» begann,
war mir nicht klar, dass es sich um eine
Tr ilogie handeln würde. Ich stellte mir
ein einziges umfangreiches Buch vor.
Als ich den ersten Absatz geschrieben
hatte, in dem der junge Cromwell am
Boden liegt, wusste ich, dass ich in ge-
wisser Hinsicht auch das Ende geschrie-
ben hatte. Er fürchtet, seinTod sei nur
wenige Herzschläge entfernt, und sieht
am Anfang wie dann später auch am
Ende sein eigenes Blut.

Haben Sie auch sonst mit solchen struk-
turierendenMomenten gearbeitet?
Ich wollte in diesem drittenRoman ein
System aus Spiegeln undReflexionen
errichten, so dass wir gelegentlich in frü-
herePhasen von Cromwells Leben zu-
rückkehren. Manchmalkehren wir zu
historischen Ereignissen zurück, erhal-
ten von diesen jedoch einetwas ande-
res Bild.Wir sehen sie in einem anderen
Licht. Wir haben es mit einerstrengen
Struktur zu tun, die die gesamteTr ilogie
zusammenhält. Erst den jungen Crom-
well auf denKopfsteinen desväterlichen
Hofs, später den erwachsenen Mann,
der denTod erwartet.Dazwischen eine
grosse erzählerische Fluidität.

«Wölfe» wurde 2009 zum 500. Thron-
jubiläum Heinrichs VIII.veröffentlicht
und knüpfte damit an dieFeier eines
nationalen Mythos an.Können Sie den
historischen Augenblick in der Ge-

schichte Ihres Landes beschreiben, in
dem «Spiegel und Licht» erscheint?
EndeJanuar haben wir die Europäi-
sche Union offiziell verlassen, was ich
zutiefst bedauere. Wir befinden uns in
einer Phase des Übergangs, von dem
niemand weiss, wohin er führt.Wir be-
finden uns also in einer Zeit grösster
Ungewissheit. Ich mag damit falsch lie-
gen, aber ich glaube, dieUnion wird zer-
brechen.

Undwas bleibt dann?
Ich glaube, Schottland wird als unabhän-
gige Nation nach Europa zurückkehren,
und vielleicht werde ich es sogar noch
erleben, dass Irland sichwiederverei-
nigt, was ich niemals für möglich gehal-
ten habe. Aber ich sehe England und
Wales als eine kleine erledigte Insel, die
zu derRandständigkeit zurückkehrt,
die ihr in derFrühzeit von Heinrichs
Regentschaft zu eigen war. Damals be-
zog niemand England in die Kalkula-
tion ein, wenn es um die Machtbalance
in Europa ging.Es war eine armselige
kleine Insel mit einer Menge Schafe und
einer barbarischen Sprache. Die immer-
hin hat seither weltweit an Einfluss ge-
wonnen; was auch geschehen mag, zu-
mindest die Sprache ist eine Quelle der
Kraft, die England nicht verlieren wird.

Das ist etwas, das sich auch aus der Lek-
türe IhrerTrilogie erschliesst. Einewei-
tere Qualität Ihrer Historienromane
ist, dass sich der Leser gänzlich in der
Gegenwart einer vergangenen Epoche
zu bewegen scheint.Dennoch suchen
manche zwischen den Zeilennach An-
spielungen auf unsere Zeit.
Ja, Leute fragen mich immer wieder:
«Ist der Brexit wie dieReformation?»
Worauf ich antworte: «Nein, überhaupt
nicht.» Englands Bruch mitRom hatte
zwar sowohl einen theologischenals
auch einen strukturellen Aspekt. Aber
mit demPapst zu brechen, bedeutete
nicht, mit Europa zu brechen. Cromwell
war durch und durch Europäer.

Undwas war seineVision für England?
Seine Idee war es, England in ein umge-
staltetes Europa einzubeziehen, und er

Im Bann


der Vergangenheit


as.· DieFaszination für historischeThe-
men zeichnete sich früh in Hilary Man-
tels Schaffen ab. Schon1992 legte sie mit
«A Place of Greater Safety» (dt. «Brü-
der») einenRoman über drei prägende
Gestalten derFranzösischenRevolution
vor. Doch dominierten über zweiJahr-
zehnte andere, teilweise autobiografisch
geprägteThemen ihrWerk, bevor das
literarische Grossprojekt der Crom-
well-Trilogie sie ab 2005 dann ganz in
Anspruch nahm.
«Wolf Hall» (dt.«Wölfe»), der erste
Band, erschien 2009; wie derFolgeband
«Bring upThe Bodies» (2012, dt. «Fal-
ken») wurde dasWerk mit dem Boo-
ker Prize ausgezeichnet. 20 14 erhob
Königin Elizabeth II.die Schriftstelle-
rin in den Stand einerDame Comman-
der des Order of the British Empire. Mit
«T he Mirror and the Light» (dt. «Spiegel
undLicht») hat Mantel 2020 ihr Opus
magnum vollendet. Mit ihrerRomantrilogie rückt Hilary Mantelden oftgeschmähten Thomas Cromwell in ein neues Licht. AND REWTESTA /REDUX/LAIF

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