Neue Zürcher Zeitung - 28.03.2020

(Tina Sui) #1

Samstag, 28. März 2020 LITERATUR


versuchte, eine Chance zu ergreifen, von
der er glaubte, dass sie sich pro Genera-
tion nur einmal biete – falls überhaupt.
Deshalb war er bemüht, sich mit den
deutschen Oberhäuptern zu verbünden,
die ebenfalls mitRom gebrochen hatten,
sowie mit den skandinavischen Monar-
chien. Es ging ihm also nicht darum,
Europa zu verlassen, sondern um die
Verbindung mit einem anderen, gewan-
delten Europa.

Gab es beim Schreiben dennoch Mo-
mente, in denen SieParallelen zwischen
derVergangenheit und der Gegenwart
sahen?
AlsAutorin historischerRomane darf
mankeineParallelen forcieren, aber
mitunter drängen sie sich auf. Ende 1536
erlebte Heinrich die grösste innenpoli-
tische Krise seinerRegentschaft, als zu-
erst im Osten und dann im Norden Eng-
lands, also fern von London, Aufstände
ausbrachen. Ich musste davon aus der
Sicht von Cromwell und der desKönigs
erzählen, die sich im sicheren London
aufhalten und dieAufstände von dort
aus niederzuschlagen versuchen. In Lon-
don sind sieFake-News ausgesetzt. Die
Kommunikationswege waren so lang,
dassdie Nachrichten bei ihrem Eintref-
fen bereits veraltet waren und Cromwell
und derKönig auf eine Situation am
anderen Ende desLandesreagierten,
die sich längst wieder verändert hatte.

Etwas, das in unserer digitalen Gegen-
wart kaum mehr vorstellbar ist.
Ich hatte jedoch den Eindruck, dass sich
der Kreis wieder geschlossen hat.Von
einerVergangenheit, in der dieKom-
munikation sehr primitiv war, bis in
eine Gegenwart, in der dieKommunika-
tion fliessend und beinahe augenblick-
lich ist, in der wir aber trotz allen techni-
schen Errungenschaften den Nachrich-
ten nicht mehr vertrauenkönnen. Man
fragt sich die ganze Zeit:«Wer berich-
tet mir dies?» Information ist nicht län-
ger sauber. Hinzukommen der wach-
sendePopulismus, die Spaltungen zwi-
schen einzelnenLandesteilen und dem
Zentrum. All dieseDingekonnte ich
nicht vorhersehen, als ich in einer Zeit,
die sich heute sehr fern anfühlt, mit der
Arbeit an«Wölfe» begann. Niemand
hätte damals daran gedacht, die Euro-
päische Union zu verlassen. Es ist fast,
als wäre seitdem eine Ära vergangen.

Im erstenVortrag Ihrer 2017 gehaltenen
Reith Lectures sagten Sie, Ihr Interesse
als Schriftstellerin gelte «der Erinne-
rung, der persönlichen und der kollekti-
ven». Wie hat sich die kollektive Erinne-
rung in Grossbritannien in derDekade
seit Erscheinen von«Wölfe» verändert?
Ich kann mich nicht desEindrucks er-
wehren, dass diePolitiker auf nahe-
liegende, aber antiquierteVorstellun-
gen fixiert sind – von einem unabhängi-
gen, als Haupt des Empire glänzenden
Britannien.Das ist schlechte Geschichte,
aber es handelt sich um eine sehr wir-
kungsvolle Geschichte. DieseVorstel-

lungvon England als eigenständiger
Nation entstand während derRegent-
schaft Heinrichs VIII., als Englands
Autonomie im Gesetz verankert wurde.
Wenn Cromwell vom Empire sprach,
meinte er jedochkein Empire imkolo-
nialistischen Sinne. Er meinte lediglich
eine autarke, eigenständige Einheit.

Sie spielten gerade auf ein anderesVer-
ständnis desBegriffs an.
Der Mythos, den die Brexit-Politiker
bemühen, ist sehr viel jünger, er grün-
det in der viktorianischen Zeit und hat
seine Herrschaft überdieMenschen
noch immer nicht verloren. In letzter
Zeit wurden Debatten darüber geführt,
wasPatriotismus sei, und ich denke, dass
es nötig sein wird, diese Debatte in den
nächsten Monaten weiterzuführen, um
aufzuhören,Patriotismus mit Nationa-
lismus gleichzusetzen.

Woziehen Sie die Grenze zwischen die-
senBegriffen?
Ich denke,man kann seinLand lieben
und wertschätzen, ohne dessen Ansprü-
che aufKosten anderer geltend zu ma-
chen. Eines unserer Probleme ist, dass
Labour-Politiker mit demVorwurfkon-
frontiert werden, nicht patriotisch zu
sein.Das zu behaupten, heisst, Patriotis-
mus mitrechtem Nationalismus gleich-
zusetzen. Manche Labour-Politiker
habenversucht, den Begriff desPatrio-
tismus zuretten, indem sie sagten: «Wir
können England lieben, aber wirkön-
nen gleichzeitig auch Europa lieben.»

Genau die Idee, an der Grossbritannien
zuzerreissen droht.
Wir befinden uns natürlich in eineräus-
serstkomplizierten Situation, weil wir
es nun mit der Allianz von England und
Wales einerseits zu tun haben und ande-
rerseits mit Schottland, das in Europa
verbleiben möchte.Hinzukommt das
beinahe unlösbare Problem, das Irland
darstellt. Die Union ist einer Bedrohung
und Herausforderung ausgesetzt wie nie
zuvor.

Thomas Cromwell ahnt, dass seine
Lebensgeschichte nach der Hinrichtung
von seinenFeinden umgeschrieben, dass
die Erinnerungan ihn politischinstru-
mentalisiertwerden wird.Wirdin Zei-
ten des Brexit die kollektive Erinnerung
der britischen Nation instrumentalisiert?
Es wird immer behauptet, dass die Bri-
ten Geschichte wertschätzten. Aber das
bedeutet nicht, dass sie von der Ge-
schichte viel wissen. Die Briten glau-
ben den gleichen Unsinn wie jede an-
dere Nation auch.Jeder glaubt, was ihm
gerade passt, und momentan haben wir
Politiker, die dazu bereit sind, falsche
Geschichte für ihre Zweckezu instru-
mentalisieren.

DieWählerwerden also belogen.
Oft ist es schwierig, herauszufinden, ob
diePolitiker selbst in ihremSystem aus
Tr ugbildern gefangen sind. Unser Pre-
mierminister ist ein sehr intelligenter
und gebildeter Mann, aber er scheint
manchmal zu glauben, dass erWins-
ton Churchill sei und wir in den1940er
Jahren lebten. Aber dieTr ugbilder der
Mächtigen durchdringen alle anderen
Schichten. Unsere Verantwortlichen
sind skrupellos,sie habenkeine Pro-
bleme damit, zu lügen, oder wissen viel-
leicht nicht einmal, wann es sich um
Lüge handelt.Für einen historisch den-
kenden Menschen wie mich ist das sehr
besorgniserregend.

Weil Sie der historischenWahrheit nahe
zu kommen versuchen, obwohl es sich
bei IhrerTudor-Trilogie um Fiktion
handelt?
Deshalb, weil nicht allein dieVergan-
genheit verzerrt wird,sondern auch die
Gegenwart, in der wir leben.Wir wer-
den Richtung falscher Erinnerung ge-
drängt, und für jemanden, der sich wirk-
lich für die Geschichte interessiert, hat
das etwas Beschämendes. Es gibt Men-
schen, die ihr Leben damit verbracht
haben, sich Klarheit über die histori-
scheWahrheit zu verschaffen und den
Geschichten, die wir uns über uns selbst
erzählen, Objektivität undAufrichtig-
keit zu verleihen.

Zu denenwären auch Sie zu rechnen.
Zumindest insofern, als es für michkei-
nen Sinn hätte, Romane zu schreiben,in
denen die Geschichte weniger wahr und
wichtigwäre alsdie Fiktion. Aber unsere

Gebieter sind längst nicht mehr an der
historischenWahrheit interessiert. Seit
demReferendumistmein vorrangiges
Gefühl das der Scham.Wannimmer ich
seitdem diese Gestade verlasse und den
Ärmelkanal überquere, habe ich instink-
tiv das Gefühl, mich bei jedem, dem ich
begegne,entschuldigen zu müssen. Ich
wünschte, man würde jedem von uns
eine Plakette anheften, auf der steht, wie
man abgestimmt hat.

Immerhin haben Sie bei aller Empörung
nicht den Humor verloren.
Es entbehrt nicht einer gewissenKomik,
aber derWitz geht aufKosten all jener
von uns, die zwangsweise auf die falsche
Seite der Geschichte gestossen und ent-
machtet wurden. Die Abstimmung war
denkbar knapp, und wenn man heute
ein zweitesReferendum abhielte, wäre
es sicherlich nicht weniger knapp, würde
aber vermutlich das gegenteilige Ergeb-
nis erzielen. Die Behauptung, die Nation
habe mit einer Stimme gesprochen, ist
schlichtweg nicht wahr.

Haben Sie Hoffnung auf eineWende?
In ökonomischer Hinsicht stehen uns
verheerende Zeiten bevor, aber ich be-
wahre mir dennoch einenFunken Hoff-
nung, zumal ich vor zehnJahren auch
den Brexit nicht vorhergesehen hatte.
Vielleicht werden wir irgendwann ein
weiteresReferendum haben, vielleicht
haben wir irgendwanneineWähler-
schaft, die wacher ist und sich nicht so
leicht belügen lässt. Im Grunde ist dies
noch immer das Schmerzlichste: dass die
Lügen so offensichtlich waren und die
Leute ihnen dennoch Glauben schenk-
ten. Schon allein das Gift der Nostalgie
ruft Schaden hervor.

«Die Zukunft», heisstesin «Spiegelund
Licht», sei «merkwürdig leer». Wosehen
Sie sich selbst in dervonIhnen beschrie-
benenDystopie der britischen Zukunft?
Mein Ehemann hat inzwischen die iri-
sche Staatsbürgerschaft angenommen,
auf die er Anspruch hatte, und wir
haben oft über die Möglichkeit gespro-
chen, nach Irland zu ziehen. Irgendwann
könnte dann auch ich die irische Staats-
bürgerschaft annehmen. EinTeil von mir
möchte dies tatsächlich, aber ein ande-
rer Teil sagt,dasses sich dabei so spät
im Leben auf einerrein persönlichen
Ebene um eine sehr grosse Entschei-
dung handeln würde.Aber ich weiss,
was mein Mann fühlt, wenn er sagt: «Ich
kann es nicht mehr ertragen. Ich kann es
keine Minute länger aushalten.»

Eine Menge Leute fühlen derzeit so.
Ja, es ist eine Art des Protestes, fortzu-
gehen.Was mich selbst betrifft? Ich bin
momentan noch zu erschöpft, um dar-
über nachzudenken. Sie müssen wieder-
kommen und mich noch einmal fragen,
wenn sich der Staub gelegt hat und ich
etwas klarer sehen kann.Wenn der Spie-
gel vom Schleier derVergangenheit be-
freit ist und ich mich wieder selbst se-
Mit ihrerRomantrilogie rückt Hilary Mantelden oftgeschmähten Thomas Cromwell in ein neues Licht. AND REWTESTA/REDUX/LAIF hen kann.

«Ich sehe


England und Wales


als ei ne kleine erledigte


Insel, die zu der Rand-


ständigkeit zurückkehrt,


die ihr in der Frühzeit


von Heinrichs Regent-


schaft zu eigen war.»


«Es wird immer


behauptet, dass


die BritenGeschichte


wertschätzten.


Aber das bedeutet


nicht, dass sie von der


Geschichte viel wis sen.»


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