REISEN Samsta g, 28. März 2020
Wenn niemand mehr
ins Paradies will
Die Verklärung Balis rei cht bis in die Kolonialzeit zurück. Seit hundert
Jahren feilt man am Traum-Image, seit Jahrzehnte n setzt man alles auf
den Tourismus. Die Covid-19-Pandemie stösst die indonesische Insel
jetzt ins Unglück. VON LEON ENGLER
Auf Bali wehrte man sich bis zuletzt.
Während weltweitLandesgrenzen und
Drehkreuze geschlossen wurden, sub-
ventionierte der Staat Flüge, verscha-
cherten Hotels ihre Zimmer. Lange
hi ess es, Bali sei Corona-frei, dann
dementierte man starrköpfig jede lokale
Virusübertragung. Stattdessen desinfi-
zierteman SonnenliegenundSehens-
würdigkeiten, um die letztenTouristen
dazubehalten. Schliesslich riet der Gou-
verneurBalis, alleTouristenattraktionen
zu schliessen.
November 2019: Auf derFähre,die
mich nach einem kurzenAusflug zu-
rück nachBali brachte, fegte derWind
übers Deck. Um mich herum nur Män-
ner, die sich an dieReling klammerten
undrauchten. Heute weiss ich, dass sich
zur gleichen Zeit, 4500 Kilometer weiter
nördlich, wahrscheinlich die ersten Men-
schen mit dem Coronavirus infizierten.
Doch damals blickten wir ahnungslos
und sorglos auf die Insel: gewellte, tief-
grüne Halbbogen. So müssen die Grie-
chen sich ihr Elysium ausgemalt haben,
die Mönche ihr Eden, die Dichter ihr
Arkadien. Heutige Reiseveranstalter
stellenBali gerne alsParadies vor.
Wir legten an in Sanur, wo1906 auch
die Niederländer anLand gegangen
waren, um die letztenKönigreicheBalis
zukolonialisieren. DieRaucher unter
uns schnippten Zigaretten und Kaffee-
becher ins Meer, dieFrauen trugen Ge-
päck und Kinder dieTr eppe hinunter.
DerTourismus ist dieTr iebfeder der
balinesischenWirtschaft. ImJahr 20 19
kamen 16 MillionenTouristen – dreimal
so viel wie noch vor zehnJahren – auf
über140 000 Hotelzimmer.
Die Erzählungvom Paradies
Auch ich arbeitete in derTourismus-
branche, warTeil jener Kraft, die Gutes
will, aber auch Böses schafft. MeineAuf-
gabe war es, BalisParadiesversprechen
einzulösen, obwohl mein Eindruck ein
anderer war:Bali war für mich der Ort,
wo Unternehmensberater mit Burn-
out eineYogalehrerausbildung machen;
australischeRentner ihren Lebensabend
verbringen; Digital Nomads irgend-
etwas mit SanFrancisco in ihr Headset
schreien; Chinesen unterRegenschir-
men vomReisebus in den Souvenirshop
trippeln; Influencer das Hotel nur in Be-
gleitung ihrer Drohne verlassen undrei-
cheRussen in Beach-Klubs in Champa-
gner und Sashimi baden. An den Strän-
den sammelt sich Plastik, und bis vor
kurzem wurden 65 Prozent des Grund-
wassers vomTourismus verbraucht, der
ein inoffiziellesVorrecht darauf hat, weil
seit jePolitik undTourismus unanstän-
dig eng verstrickt sind.
Es schadet nicht, sich in Erinnerung
zu rufen, dassKultur ständigemWan-
del unterworfen ist: In einigenKulturen
wird am Boden geschlafen, in anderen
in Hängematten, in wieder anderen in
Betten. BretonischeBauern zum Bei-
spiel teilten sich vor nicht allzu langer
Zeit nochein Bett mit allenFamilien-
mitgliedern, Bediensteten und durch-
reisendenGästen. Ein byzantinischer
Kaiser wiederum wäre nie auf die Idee
gekommen, nach Gallien zureisen, um
seine Ehe zuretten,oder eben nach
Bali, um sich zumYogalehrer ausbil-
den zu lassen. Mitte des19. Ja hrhun-
derts entwickelte sich dasReisen dann
als eine ArtTherapie zurWiederher-
stellung der Arbeitskraft.Dass wir 20 19
weltweit 1,5 Milliarden internationale
Ankünfte zählen würden, die mehr
als 10 Prozent derWeltwirtschaft aus-
machen, hätte damals wohl niemand
erwartet.
In s vorkolonialeBali kamen Besu-
cher hauptsächlich, um mit Opium und
Sklaven zu handeln.Vor allemBaline-
sinnen waren beliebt, zum einen wegen
ihrer Schönheit, zum andern, weil sie im
Gegensatz zu muslimischen Sklavinnen
keine Skrupel hatten, Schweinefleisch
zuzubereiten.Das sagte besonders chi-
nesischen Käufern zu, weil Schweine-
fleisch integraler Bestandteil der dor-
tigenKüche ist. Sklaven brachten viel
Geld, ihretwegen wurden zahlreiche
Kriege angezettelt. Die Herrscher
Balis «exportierten» über dieJahrhun-
derte etwa150 000Sklaven – was be-
sonders grausam erscheint, wenn man
sich vorAugenhält, dassvieleBali-
nesen glaubten, die Götter lebten nur
auf ihrer Insel.Barbarisch wirkteauch
der hinduistische Brauch derWitwen-
verbrennung: Wenn ein Mann starb,
folgte ihm seineFrau auf den Scheiter-
haufen. Doch die niederländischeKolo-
nialmacht spielte sich alsKulturwächter
auf, um Macht und Ansehen zu festigen,
zog dem ungestümenBali die Zähne
und legte so den Grundstein für das
Heile-Welt-Bild, das heute noch durch
Reisekataloge und soziale Netzwerke
geistert.
Schon vor über 100Jahren war der
Westen in die Insel verschossen und
sahReinheit undFruchtbarkeit in jeder
Kokosnuss inkorporiert. Bali wurde
zum Zufluchtsort für diejenigen, die
den dampfenden Grossstädten zu ent-
kommen suchten. Der wohl berühmteste
ZivilisationsflüchtlingBalis, der deut-
scheKünstlerWalter Spies, kam 1925
auf die Insel. Er schrieb an seine Mut-
ter: «Oh, ichkönnte wahnsinnig werden
bei dem Gedanken, wie herrlich es hier
ist und wie furchtbar es ist, dass Ihr alle
dort in Deutschland seid und in Schlamm
und Scheusslichkeiten erstickt.»
Inzwischen ist die Hauptstadt Den-
pasar selbst eine dampfende Gross-
stadt.Auf der Sunset Road drän-
gensich Mopedschwärme undAutos.
Balinesen erkennt man im Allgemei-
nen daran, dass jeder Quadratzenti-
meter ihrer Haut bedeckt ist, weil sie
nicht braun werden wollen: Zu Flip-
flops tragen sie Socken, ausserdem
Baumwollhandschuhe und Kapuzen-
pullover.Touristen tragen so wenig,
wie es das Gesetz erlaubt. Manchmal
auch weniger.
Oft schon wurdeBali als Mallorca
derTr open verunglimpft: InKuta sah ich
muskelbepackteAustralier im Blumen-
hemd; sie tranken Bintang-Bier und ver-
strickten sich in Schlägereien, weswegen
diePolizei schon eine Spezialeinheit ins
Leben gerufen hat. In Seminyak habe
ich auf einerTouristenmeile miterlebt,
wie die gesamte Belegschaft eines Bur-
gerladens eine Choreografie tanzen
musste, um Kunden anzulocken. In
NusaDua, einemParalleluniversum des
Wohlstands, wo die Strassen breit und
leer und mitPalmen bekränzt sind, die
Rasenflächen manikürt wie der anlie-
gende Golfplatz,verstecken sich Hotels
der obersten Klasse. Und der Stadtteil
Canggu hat zwei Schildhalter: Surfbrett
undYogamatte. Hierreihen sich etliche
Läden aneinander, in denen man Bikinis
oder handgeschnitzte Buddhas kaufen
kann, obwohl nur 0,5 Prozent der Be-
völkerung buddhistisch sind, aber Bud-
dha,sagte einVerkäufer, verkaufe sich
einfach besser als Shiva.
Wachstumum jeden Preis
Es ist noch nicht lange her, dass die
Strassen oft so voll waren, dassTouris-
tenregelmässig mit ihrenRollern in die
Reisfelder fielen oderganze Autos um-
kippten.Dabei gibt es in Canggu nur
noch wenigeReisfelder. DieBauern ver-
kauften ihrLand anInvestoren, weil sich
dieLandwirtschaft kaum mehr lohnt.
Darum steht da, wo eben noch einReis-
feld war, nun ein Hotel oder ein Beach-
Klub, meistens – zu 85 Prozent, um ge-
nau zu sein – nicht betrieben von Ein-
heimischen. Kritiker fürchteten, dass die
Reisterrassen,das tausendjährigeKul-
turerbeBalis, bald nur noch als Bühnen-
bild desTourismus bestehenkönnten.
Am entlegensten Strand Uluwatus
begegnete ich einerKoreanerin imBall-
kleid und auf Pfennigabsätzen, eskortiert
von Kameras undReflektoren.Für das
Tr agen ihrer Schleppe war eigens eine
Person abgestellt. In Amed sass ich in
einerBar, in derTouristen Bier tran-
ken undPommes frites assen, während
nebenan eineFamilie einen wilden Hund
schlachtete, weil sie nichts zu essen hatte.
Ich war in Ubud im Affenwald, woTou-
ri sten sich mit Makaken um ihreTr ink-
wasserflasche stritten. Ich warbeiTem-
peln, an denenTouristen Nummern zo-
gen und stundenlang auf einFoto warte-
ten. Ich war auf denInseln,wo am Kliff
namens Devil’sTearsregelmässig Men-
schen gestorben sind beimVersuch, Sel-
fies zu machen.Ich traf einenBalinesen,
der durchTourismus zu Geldgekommen
war und sich einen sonnengelbenPor-
sche Carrera kaufte, obwohl die engen
und kurvenreichen Strassen der Insel
voller Schlaglöcher sind. Ich sprach mit
einerBalinesin,die sagte, dieBalinesen
hätten die Schönheit der Insel und der
Reisfelder geopfert. Ich sprach mit einer
Aktivistin, die sagte, dass imJahr zuvor
im Norden und imWesten eineDürre ge-
herrscht habe und MenschenkeinWas-
ser gehabt hätten. Ich sprach mit einer
Frau, die erzählte, dass ihreFirma gerade
Nur ein paar wenige balinesische Hindus durften diesesJahr am Strand vonDenpasar die«Melasti»-Zeremonie abhalten, bei der die Seelen gereinigtwerden sollen, bevor das neueJahr beginnt. MADE NAGI / EPA
Es ist noch nicht
so lange her,
dass die Strassen
oft so voll waren,
dassTouristen regel-
mässig mit ihren Rollern
in die Reisfelder fielen.
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