Neue Zürcher Zeitung - 28.03.2020

(Tina Sui) #1

Samstag, 28. März 2020 REISEN


ein Hotel mit über einhundertSwim-
mingpools baue.
An einem Ort, für denkein Schlag-
wort auf Instagram existierte, stiess ich
einmal auf eine Ansammlung vonBali-
nesen, die gerade ihre Kampfhähne in
den Ring schickten. DieBalinesen wun-
derten sich über mein westliches Ge-
sicht, waren freundlich undreichten mir
gleich etwas selbstgebrannten Schnaps.
Einer von ihnen, Gede, lud mich sofort
zu sich nach Hause ein. DieFrauen stan-
den in derKüche und bereiteten alles für
die nächste Zeremonie vor: Opfertürme
mit Obst,Frangipaniblüten, in Plastik
eingeschweisste Süssigkeiten,Zigaretten.
Ich fragteihn, ob er das Gefühl habe, es
seien zu vieleTouristen aufBali. Erhätte
gern, dass noch mehr kämen, sagte er mir
damals. Das war Ende 2019.
Auch der Hotelverband war dieser
Ansicht. AlsBali Anfang diesesJah-
res wegen seinerWasser-und Plastik-
kriseauf der No-go-Liste einer be-
kanntenReisepublikation landete, be-
schwerte derVorsitzende sich, dass die
Auslastung der Hotels erst bei durch-
schnittlich 65 Prozent liege – 89 Pro-
zent sei das Ziel.UndderVizegouver-
neur sagte, Touristen sollten überhaupt
keineFotos mehrverbreiten, die ein
schlechtes Licht aufBali würfen. Lieber

werden dieProbleme verdrängt. Sig-
mundFreud hatte geschrieben: «Man
darf sich den Verdrängungsvorgang
nichtwieein einmaligesGeschehen
mitDauererfolg vorstellen, etwa wie
wenn man etwas Lebendes erschlagen
hat, was von da an tot ist; sondern die
Verdrängung erfordert einen anhalten-
den Kraftaufwand.» Unnachhaltiger
Tourismus, Landnutzungsfragen, Was-
serknappheit, Plastikmüll – das alles
unter denParadiesteppich zukehren,
kostete Kraft. An allen Seiten quoll seit
Jahren hervor, was niemand wahrhaben
wollte: dass dieTouristen einesTages
ausbleibenkönnten– so wiein der
Vergangenheit wegenTerroranschlägen
oderAusbrüchen desVulkans Agung,
der mit seinen mehr als 30 00 Metern
Höhe über die Inselwacht.

TragischesVorzeigebeispiel


Doch mit einerPandemierechnete nie-
mand. Zuerst wurden alle Flüge aus China
ausgesetzt. Somit fiel die grösste auslän-
dische Besuchergruppe weg. Zehntau-
sende Buchungen wurden storniert.Dann
rief die australischeRegierung dazu auf,
nicht mehr nachBali zureisen. Schliesslich
folgte in Indonesien der ersteTodesfall
durch Covid-19 – eineTouristin aufBali.

Ein Hotelmanager erzählte mir,
dass innerhalb wenigerTage sogut
wie alle Buchungen des restlichen
Jahres storniert worden seien. Etwa
80 Prozent der Insel sindabhängig
vomTourismus. Nun folgt die apoka-
lyptischeRückkopplung diesesWirt-
schaftsmonotheismus. Der schlimmste
aller denkbarenFälle: Über 500 Ster-
nehotels sindverlassen, die unzähligen
Homestays derBalinesen wie leerge-
fegt, die gesamte aufTourismus aus-
gerichteteInfrastruktur auf unabseh-
bare Zeit verwaist. ZahlreicheMen-
schen und Unternehmen stehen bereits
jetzt vor dem Nichts. DerTourismus
bricht weg, doch dieKollateralschäden
der Massentouristen bleiben.
Vor kurzem feierten dieBalinesen
das zehntägige Galungan-Fest. Die
Balinesen glauben, derVulkan Agung
sei die Heimat Shivas und dasSymbol
des mythischen Berges Meru, der in der
hinduistischen Mythologie dieAchse
des Universums darstellt. Es heisst, die
Götter stiegen vomVulkan Agung zu
den Menschen herab, auch die Ahnen
kehrten zurück aufdie Erde. Zudem
bete man für denTr iumph von Gut
über Böse. In diesemJahr, so ein Pries-
ter, bete man, dass dasVirus bald ver-
schwinden und dieTouristen zurück-

kehren mögen. Doch dasVirus wird
nicht einfach so verschwinden. Zudem
wird es Spuren hinterlassen.
Der entfesselte Massentourismus,
wie er aufBali betrieben wurde, hatte
seinen Zenit ohnehin erreicht.Jahr-
zehntelang waltete hier das gleiche
Programm, das auch dasVirus steuert:
Vermehrung. Mehr Hotels, mehrTou-
risten, mehrRendite. Bali istkein Ein-
zelfall, sondern eintragischesVorzeige-
beispiel. Doch wie soll ein Ort, der über
hundertJahre – vor allem durch Inter-
ventionen und Investitionen von aus-
sen – zumTouristenhimmel hochstili-
siert wurde, weitermachen? Ich denke
an all dieFahrer, Tour-Guides, Köche,
Surflehrer, Barkeeper, Unternehmer,
Handwerker, Bauern,Fischer, Verkäu-
fer undKünstler, die ichkennengelernt
habe. Ich denke an ihreFamilien. Die
meisten leben – direkt oder indirekt–
vomTourismus. Die wenigsten haben
Rücklagen. Vor kurzem lautete der
ambitionierte Plan derRegierung noch,
«zehn neueBalis» zu erschaffen.Jetzt
kann man froh sein, wenn sich das Ori-
ginal halbwegs erholt.

Leon Englerlebte und arbeitetebis vor kur-
zem auf Bali, wo er ein auf Nachhaltigkeit aus-
gerich tete s Luxusresort leit ete.

Nur ein paarwenige balinesische Hindus durften diesesJahr am Strand vonDenpasar die«Melasti»-Zeremonie abhalten, bei der die Seelen gereinigtwerden sollen, bevor das neueJahr beginnt. MADE NAGI / EPA

Etwa 80 Prozent


der Insel si nd abhängig


vom Tourismus.


Nun si nd über 500


Sternehotels verlassen,


die unzähligenHome-


stays wie leergefegt.


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