FORSCHUNG UND TECHNIK Samsta g, 28. März 2020
Die Such e
nach Wegen
aus der Krise
Wie weit müssen die Massnahmen zur
Eindämmung der Coronavirus -Pandemie
reic hen, und wie lange müssen sie
aufrechterhalten werden? Eine neue Studie
bietet Antworten.VON HELGA RIETZ (T EXT),
ANJA LEMCKE UNDJONASOESCH (GRAFIK)
Ganz Europa greift zur Eindämmung
der Coronavirus-Pandemie zu einschnei-
denden Massnahmen: Flächendeckend
sind Schulen und Sportstätten geschlos-
sen, Veranstaltungen abgesagt, teil-
weise sogarAusgangssperren verhängt
worden. Angesichts der massiven Ein-
schränkungen des öffentlichen Lebens
fragen sich aber viele:WelcheInterven-
tionen und Strategien sind die wirksams-
ten?Wie lange müssen wir im Zustand
der Isolation ausharren und deren öko-
nomischeFolgen in Kauf nehmen? Und
was passiert, wenn die Massnahmen ge-
lockert oder durchbrochen werden?
Infektionskettendurchspielen
Mögliche Antworten auf dieseFragen
bietet eine Studie vonWissenschaftern
um NeilFerguson vom Imperial College
London, welche die Arbeitsgruppe An-
fang letzterWoche online veröffentlicht
hat.Ferguson arbeitet mit Modellierun-
gen, welche einePopulationund deren
Kontakte untereinander abbilden.Dabei
spielenParameter wie die Bevölkerungs-
dichte eineRolle, aber auch dieFrage,
wie die Menschen an ihren Arbeitsplatz
gelangen, wie viele Kinder in derselben
Klasse unterrichtet werden oder wie
gross die Unternehmen sind, in denen
ihre Eltern arbeiten. Für ihre Studie zur
Ausbreitung von Covid-19 haben die
Forscher zwei Modell-Populationen ver-
wendet: eineist an jene in Grossbritan-
nien angelehnt,dieandere an jene der
USA.Auch dieAusstattung der Gesund-
heitssysteme ist in den Modellen erfasst.
Mithilfe dieser Modell-Populationen
können dieForscher dieAusbreitung
einesVirus simulieren und bestimmte
eindämmende Massnahmen auf ihre
Wirksamkeit hin untersuchen. Denn
Schulschliessungen, flächendeckende
Home-Office-Regelungen und Ein-
schränkungen im öffentlichen Nahver-
kehrreduzieren auch im Modell die An-
zahl der Mitmenschen, mit denen eine
Person inKontakt tritt.DieWissenschaf-
ter vom Imperial Collegekonzentrier-
ten sich auf fünf Massnahmen:die häus-
liche Isolation infizierterPersonen; die
freiwillige Quarantäne allerPersonen,
die im Haushalt einesInfizierten leben;
Social Distancing für alle über 70-Jähri-
gen; Social Distancing für die gesamte
Bevölkerung; die Schliessung von Schu-
len und Universitäten sowie dasVerbot
von Grossveranstaltungen. DieWirkung
eines vollständigen Lockdowns mitAus-
gangssperre untersuchten dieWissen-
schafter nicht. Dennoch ist die Studie
vonFerguson ausserordentlich detail-
reich; andere Arbeitsgruppen forschen
auf demselben Gebiet mit weitaus ein-
facheren Modellen.
Laut den Ergebnissen vonFerguson
lässt sich die Epidemie nur mit einem
Bündel starker Massnahmen eindäm-
men, die die gesamte Bevölkerung be-
treffen (General Social Distancing).
Schulschliessungen vergrösserten den
eindämmenden Effekt. Die Isolation
von Infizierten und deren Angehörigen
im selben Haushaltreichte aber nicht
aus, um denAusbruch in den Griff zu
bekommen – auch dann nicht, wenn zu-
sätzlich die Hochbetagten(70Jahre und
älter) zum Social Distancing verpflich-
tet wurden.
Abstandhaltenhilft
Das mag verwundern angesichts der Be-
obachtung, dass doch gerade ältere Men-
schen von der Corona-Pandemie am
stärksten betroffen sind.ZurVeranschau-
lichung haben dieKollegen von NZZVi-
sualsdenEffekt des Social Distancing in
Grafiken durchgespielt. Sie zeigen ein-
drücklich, wie das neuartige Coronavirus
ausgehend von einer einzigen infizierten
Personinnert 30Tagen eineLawine von
über 400 Erkrankten auslöst. DiePerson,
die dasVirus ursprünglich verbreitet hat,
ist vielleicht längst wieder genesen.Aber
vier der Betroffenen werden voraussicht-
lich sterben.
Erheblich weniger Menschen stecken
sich an, wenn zwischenmenschlicheKon-
takte starkeingeschränkt werden. In
unseremRechenbeispiel ist die Anste-
ckungsrate mit Social Distancing noch
halb so gross wie ohne. Nach Ablauf eines
Monats sind nur 15 Menschen amVirus
erkrankt.Das zeigt:Wenn wir unsere
Kontakte einschränken und Distanz wah-
ren, dann kann es gelingen, die Anste-
ckungsraten zu senken und eine Über-
lastung unserer Spitäler abzuwenden.
NeueInfektionswellendrohen
ZuRecht hat die Studie des Imperial
College letzteWoche ein breites Echo
gefunden.Das liegt auch daran, dass
dasTeam von NeilFerguson auf seinem
Gebiet die internationalrenommier-
teste Arbeitsgruppe ist. Seine Einschät-
zungen bewogen zudem dieRegierun-
gen Grossbritanniens und der USA vor
knapp zweiWochen zu einerradikalen
Kursänderung:Laut Medienberichten
hatFergusons jüngste Studie massgeb-
lich zu der Entscheidung dieser beiden
Länder beigetragen, ebenfalls einschnei-
dende Massnahmen zur Eindämmung
der Coronavirus-Epidemie zu ergreifen.
Für Aufsehen sorgte insbesondere
dieTatsache, dass diekontaktreduzie-
Die Einschätzungen von
Fergusonundseinem
Teambewogen
die Regierungen
Grossbritanniensund
der USAzueiner
radikalen Kursänderung.
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Tag
Diese mit dem Coronavirus
infizierte Person hat noch keine
Symptome. Sie weiss nicht,
dass sie das ansteckende Virus
weitergeben kann.
Die Person, die das Virus ursprünglich verbreitet hat, ist vielleicht
schon wieder genesen–wie einige andere in dieser Infektionskette auch.
Aber4der Betroffenen werden voraussichtlich sterben.
Nach 30Tagen sind durch
1Person 15 Menschen erkrankt.
Nach 30Tagen sind durch
1Person über 400 Menschen erkrankt.
In unserem Rechenbeispiel gehen wir davon aus, dass eine infizierte Person das Virus im Schnitt
auf 2,5 Menschen überträgt.Vonder Infektion bis zum Auftreten der Symptome vergehen rund
4Tage, während deren die infizierte Person das Virus2bis 3Personen weitergibt. Im
Rechenbeispiel entwickeln alle Infizierten Symptome und begeben sich unmittelbar danach
in Quarantäne.
Die verwendeten Parameter entsprechen der bei Sars-CoV-2 beobachteten Infektiosität.
Ohne Einschränkungen
bewegt sie sich
frei im öffentlichen Raum.
Ohne Social Distancing Mit Social Distancing
Die Symptome treten in den
meisten Fällen erst nach5Tagen
auf. Manche Infizierte haben
gar keine Symptome. In diesen
5Tagen konnten also2bis 3
weitere Personen angesteckt werden.
Nach weiteren5Tagen sind
17 weitere Personeninfiziert.
Wieder5Tage später sind
39 weitere Personeninfiziert.
Nochmals5Tage später sind98 weitere
Personeninfiziert.
Nach erneut5Tagen sind
244 weitere Personeninfiziert.
Nach 10Tagen sind insgesamt
11 Personen infiziert.
Total: 27
Total: 66
Total: 164
Total: 406
Total: 4
Total: 11
Die angesteckten Personen
machen es genauso und stecken,
bis sie etwas merken,2bis 3
weitere Personen an. Nach
10 Tagen sind 7 weitere Personen
infiziert.
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