Neue Zürcher Zeitung - 28.03.2020

(Tina Sui) #1

Samstag, 28. März 2020 INTERNATIONAL 5


«Die Politiker behaupten nun, Deutschland


habe schnell reagiert, aber das stimmt nicht»


Die Corona-Pandemie hat das Land zum Stillstand gebracht. Wie lange sol l das anhalten? Der Virologe Alexander Kekulé


und der Ökonom Jens Südekumsagen im Gespräch mit Hansjörg Müller, was in den kommenden Wochen getan werden müsste


HerrKekulé, dieses Gespräch geht auf
eine Anregung vonJens Südekum zu-
rück, der meinte, Ökonomen undViro-
logen kämen bis jetzt zuwenig mitein-
ander ins Gespräch,wodurch gelegent-
lich der Blick für das grosse Ganze
fehle. Teilen Sie diesen Eindruck?

AlexanderKekulé: Auf jedenFall.Wir
agieren in Deutschland gar nicht mehr
politisch, sondern hängen amFaden der
Wissenschaft. Ich glaube, es ist falsch,
dass dieses sehrkomplexe, vielschich-
tige Problem beinahe ausschliesslich aus
derPerspektive derVirologiebetrach-
tet wird. Die Sicht derVirologen kann
immer nur einAspektvon vielensein.


Treten manche IhrerKollegen zu kom-
promisslos auf?

Kekulé: So weit würde ich nicht gehen.
Ich habe ja selbst sehr früh gefordert,
Gegenmassnahmen zu ergreifen, lange
bevor dasRobert-Koch-Institut (RKI)
dann auch auf diese Linie eingeschwenkt
ist. DiePolitik müsste mit vielenWis-
senschafternreden, um sich ein eigenes
Bild zu machen.Das ist wie in einem Ge-
richtssaal, wo ein Sachverständiger auf-
tritt: Der Richterdarf nicht einfach dem
Experten folgen, sondern muss diesen
so lange befragen, bis er das Problem
selbst geistig durchdrungen hat. In der
Wirtschaftwird ja auch eineVielzahl von
Fachleuten angehört. Gegenüber den
Naturwissenschaften besteht da eine
Schieflage: Dort verlässt sich diePolitik
vielmehr auf dieExperten, weil sich die
Politiker auf diesem Gebiet weniger aus-
kennen. Die gewähltenVolksvertreter
könnenihren Primat aber nur aufrecht-
erhalten, wenn sie mehrere Experten-
meinungenkennen. Das ist nicht zuletzt
auch aufgrund der dominanten Stellung
des RKI leider nicht derFall.


Herr Südekum, lief das anders, bevor
die Bundesregierung über die ökono-
mischen Massnahmen in der Corona-
Krise entschieden hat?

Jens Südekum: In derTat. Schaut man auf
die wirtschaftspolitischen Massnahmen,
etwa auf dasPaket, das im Bundestag ver-
abschiedet wurde, gab es imVorfeld sehr


rege Diskussionen mit Ökonomen.Dabei
ging es dannauch um Detailfragen, etwa
wie man denRettungsschirm oder die
Regelungen fürKurzarbeit gestalten soll.
Aber überalldem schwebt ja die grosse
Frage nach dem partiellen Shutdown, den
wir jetzt erleben.Wie lange soll das anhal-
ten, und was für einExit-Szenario haben
wir? Über dieseFragekönnen auch nicht
allein die Ökonomen entscheiden. Hier
müssen Experten aus unterschiedlichen
Bereichen zusammenwirken und die
Regierung beraten, da hat HerrKekulé
völligrecht.Das hat leider bis jetzt noch
nichtausreichend stattgefunden.
Kekulé: Wichtig ist es, alle Seiten zu
betrachten, die medizinische, die wirt-
schaftliche und die soziale. Wir stehen
ja drei Arten von Schädengegenüber:
Zum einen denen, die durch die Krank-
heit selbst entstehen.Dann haben wir es
mitKollateralschäden zu tun, etwa wenn
ein Arzt krank wird undkeinePatienten
mehr behandeln kann. Und schliesslich
stehen wir vorKollateralschäden zwei-
ter Ordnung, nämlich solchen, die durch
die Gegenmassnahmen entstehen.Dass
beispielsweise China zeitweise als Pro-
duzent und Exporteur ausfiel, war ja


keine direkteFolge der Seuche, sondern
eine der Gegenmassnahmen. Dort sind
zwar etwa 30 00 Menschen gestorben,
aber deswegen hätte man einLand die-
ser Grösse noch langenicht lahmlegen
müssen. Man muss aufpassen, dass man
dieWirtschaft nicht stranguliert.

Droht diese Gefahr inDeutschland?
Südekum: Die ökonomischenKosten,
die durch diesen partiellen Shutdown
anfallen, sind jedenfalls exorbitant und
weitaus höher alsalles, was wiraus
derFinanzkrise von 2008kennen.Das
Ifo-Institut prognostiziert, jede zusätz-
licheWoche Shutdown würde ungefähr
ein Prozent des Bruttoinlandprodukts
(BIP)kosten, also 35 Milliarden Euro.
Im schlimmstenFall könnte das BIP um
bis zu 20 Prozent sinken. Die Gegen-
massnahmen und Garantien summie-
ren sich allein in Deutschland auf bis zu
1,2 Billionen Euro. Und all diese Szena-
rien gehen noch davon aus, dass die nun
getroffenen Massnahmen zwei bis drei
Monate anhalten werden.

Könnte dieWirtschaft den jetzigen Zu-
stand überhaupt länger durchhalten?
Südekum: Darüberkönnen wir nur spe-
kulieren.Dass wir den Shutdown bis in
den Sommer oder gar in den Herbst hin-
ein aufrechterhalten, kann ich mir aller-
dings kaum vorstellen.Dabei geht es gar
nicht einmal unbedingt ums Geld, denn
das kann die Europäische Zentralbank
ja produzieren. Aber denken Sienur
einmal an den Produktionsausfall in der
Industrie. WennkeineAutos mehr her-
gestellt werden und wennRestaurants
nicht mehr öffnen, können die Leute ja
nicht mehrkonsumieren. Und neben
den wirtschaftlichen Aspekten stellt sich
auch dieFrage, wie lange eine Gesell-
schaft einen Zustand durchhalten kann,
in dem alle zu Hause hocken.

HerrKekulé, Sie rechnen damit, dass die
Zahl der Neuinfektionenbald sinken
wird?
Kekulé: Ichgehe davon aus, weil wir in
Deutschland ganz massive Massnah-
men ergriffen haben und ich auch den
Eindruck habe, dass dieRegeln von den
Bürgern eingehalten werden.Das RKI
gab ja bereits am Montag bekannt, einen
möglichen Effekt zu sehen. Das hat
mich dann doch ein wenig überrascht.
Die Inkubationszeit, in der die Krank-
heit bei einem Infizierten ausbricht, be-

trägt ja bereits fünfTage. Dannkom-
mennormalerweise noch zwei bis drei
Tage hinzu, bis wir eine Diagnose haben,
und dann noch einmal zweiTage Mel-
deverzug. Aber ich bin sehr zuversicht-
lich, dass die Zahl der Neuinfektionen in
zwei bis dreiWochen sinken wird.

Und dann könnte man die Einschrän-
kungen lockern?
Kekulé: Das ist eben die Gretchenfrage:
ab wann dies möglich ist und in welchem
Umfang. Wenn wir in zwei oder drei
Wochen alle wieder hinauslassen,könnte
sich die Krankheit von neuem ausbreiten.
MeinVorschlag ist, dass wir den Shut-
down und daskomplette Social Distan-
cing dann durch das ersetzen, was ich
Smart Distancing nenne. Das heisst, dass
Menschen unter 65 und ohneVorerkran-
kungen Gesichtsmasken tragen und die
normalen Hygienemassnahmen einhalten.

Und für die Älteren brauchte es Sonder-
regelungen?
Kekulé: Ältereund Kranke müssen
konsequent geschützt werden. Ich über-
treibe jetzt bewusst ein bisschen und
sage, für die müssen wir einFort Knox

bauen.Dann müssen wir dafür sorgen,
dass sich jeder sofort und anonym tes-
ten lassen kann. Und schliesslich brau-
chen wir deeskalierende Grenzkontrol-
len, also dass man die Grenzen wieder
öffnet, aber schrittweise und je nach-
dem,in welchem Stadium sich einLand
bei derPandemiebekämpfung befindet.
Es hilft nichts, im Inland alles richtig zu
machen und dann weiter Flugzeuge aus
Teheran ohneKontrollen landen zu las-
sen, wie dies bis letzteWoche geschah.
Südekum: Das halte ich für ein sehr gutes
Konzept, und es entsprichtauch dem, was

ich selbst in den letztenWochen vorge-
schlagen habe. Tests scheinen mir beson-
ders wichtig zu sein.Dakönnte es aller-
dings bald zu einem Kapazitätenpro-
blemkommen, denn überTests wird der-
zeit nicht nur in Deutschland diskutiert,
sondern in vielenLändern. Hierkönnte
dieWirtschaft aushelfen:Viele Unter-
nehmenkönnen derzeit ja nicht produ-
zieren, was sie normalerweise herstellen.
Nunkönnten beispielsweiseTextilher-
steller Atemschutzmasken produzieren.
Sokönnte das auch bei den Corona-Tests
funktionieren.Dafür müsste der Staat
allerdings eine Abnahmegarantie ab-
geben, so dass die UnternehmenVerläss-
lichkeit und Planbarkeit haben und sich
das betriebswirtschaftlich auch lohnt.

Macht die deutscheRegierung ihre Sache
gut,was den wirtschaftlichen Aspekt
betrifft?
Südekum: Was die ökonomischen Mass-
nahmen im engeren Sinne angeht, bin
ich sehr zufrieden. An der einen oder
anderen Stelle gibt es sicher noch Nach-
besserungsbedarf. Die ganz Kleinen er-
halten Zuschüsse, für die ganz Grossen
gibt es den Schutzschirm, doch die Mit-
telständler schauen in dieRöhre. Ihnen
werden jetzt Kredite angeboten, aber bei
vielen von ihnen wird sich wohl irgend-
wann dieFrage stellen,wiesie diese Kre-
dite zurückzahlen sollen. Die sind ja oft
in Branchen tätig, woeskeine Nachhol-
effekte gibt, etwa imTourismusgeschäft.
Wenn die Leute jetztkein Auto oderkei-
nenFernseher kaufen, dann tun sie dies
eben später. Aber wenn sie jetzt nicht
inRestaurants gehen, gehen siespä-
ter nicht doppelt so oft essen. Und was
das grosse Ganze betrifft, müsste klarer
kommuniziert werden.Wir brauchten
ein plausiblesAusstiegsszenario, das für
die Bürger auch verständlich ist.Dahat
dieBundesregierung noch einiges zu tun.
Kekulé: «Wir fahren auf Sicht», die-
sen Satz hört man nun besonders häu-
fig, und aus psychologischer Sicht halte
ich das für ein Riesenproblem. Ich habe
ja bereits am 22.Januar Einreisekontrol-
len gefordert. Das RKI hat dann gesagt,
dassei unnötig, diese Krankheit werde
ausserhalb Chinaskeine grosseRolle
spielen. MeinKollege Christian Dros-
ten meinte damals, es sei zu früh,Alarm
zu schlagen, und so standes dann quasi
zwei zu eins. Am 12.Februar schlug ich
dann vor, dieTestmöglichkeiten europa-
weit massiv zu erhöhen; auch das hält die

Bundesregierung bis jetzt nicht für not-
wendig. Schliesslich forderte ich, Gross-
anlässe abzusagen und Schulen sowie
Kindergärten zu schliessen, bevor die
Leute aus denFerien in Italien zurück-
kämen. All das geschah nicht, und so hat
sich diePolitik in eineLage begeben, in
der sie sichrechtfertigen muss. Nun be-
haupten diePolitiker, Deutschland habe
superschnellreagiert,aber das stimmt
einfach nicht. So geht weiteresVe r-
trauen verloren. Klüger wäre es, zu sagen:
«Okay, wir haben das am Anfang unter-
schätzt, aber jetzt sind wir in die Gänge
gekommen und haben folgenden Plan.»

Haben andere Länder in Europa bes-
ser reagiert?
Kekulé: Das ist zum jetzigen Zeitpunkt
schwer zu sagen, denn die verschiede-
nenLänder wurden ja nicht gleichzeitig
vonderEpidemie getroffen. Italien war
rein zufällig als erstesLand dran, wahr-
scheinlich weil es dort eine grosse chi-
nesische Community und auch viele chi-
nesischeTouristen gibt. Aber es hätte
genauso gut Deutschland treffenkön-
nen.Wenn es in einemLand einenAus-
bruch gibt, ist es überall dasselbe: Die
Infektionen steigen exponentiell an,
und erst wenn wir uns in dieser Phase
befinden, werden Massnahmen einge-
leitet. Aber dann ist es eigentlich schon
zu spät.Wer später getroffen wurde, hat
es auch leichter, Massnahmen zu ergrei-
fen: Als esTote in Italien gab, verstan-
den die Deutschen sofort, dass es ein
Problem gibt. Solange dasVirus nur in
China umging, wäre kaum zu erklären

gewesen, warum etwasgeschehenmuss.
Vielleicht hat Tschechien es besser ge-
macht. Dort wurdereagiert, bevor die
Phase des exponentiellenWachstumser-
reicht war. Ob sich das auszahlt, werden
wir in ein paarWochen wissen.
Südekum: Wenn ich nach Europa schaue,
mache ich mir grosse Sorgen.Wir in
Deutschland haben nun weitreichende
Massnahmen verabschiedet, und das ist
alles schön undgut. Aber die Krise trifft
ganz Europa und damit indirekt auch
wieder uns. Italien kann nicht ohne wei-
teres vergleichbare Schritte in Gang set-
zen wie wir. Jetzt, da ein symmetrischer
Schock unverschuldet ganz Europa trifft,
müssen wir über neue Instrumente nach-
denken, mit denen Europa gemeinsam
antworten kann. Ich denke da etwa an
die einmalige Herausgabevon Corona-
Bonds aufeuropäischer Ebene. Italien
hat schon jetzt Schulden in Höhe von
133 Prozent des BIP. Natürlich kann man
fragen, ob die Italiener dagegen früher
etwas hätten tunkönnen, aber es ist jetzt
nicht die Zeit, um über dieFehler der
Vergangenheit zu sprechen. Wenn Ita-
liens Schulden nun auf150 oder 200 Pro-
zent des BIP ansteigen, bricht dasLand
irgendwann zusammen.

Alexander Kekulé,61, ist Direktor des Inst i-
tuts für Medizinische Mikrobiologie am Univer-
sitätskl iniku m Halle. Erzählt zu den renommier-
testendeutschenVirologen undist in der
Corona-Krise ei ner der gefragtesten Experten.
Jens Südekum,44, ist Profess or für interna-
tionale Volkswi rtschaftslehre in Düsseldorf. Er
gehört zu den einflussreichstenÖkonomen in
Deutschland; auch Regierun gsmitglieder such-
ten schon seinen Rat.

Ein Einkaufszentrum in Leverkusen.Das wirtschaftliche Leben ist heruntergefahren, die Kosten daraus sind exorbitant. T. SCHMUELGEN / REUTERS

IMAGO
Jens Südekum
Volkswirtschafter

AlexanderKekulé
Virologe


«Dass wir den Shutdown
bis in den Sommer
oder gar in den Herbst
hinein aufrechterhalten,
kann ich mir
kaum vorstellen.»

Jens Südekum

«Wir fahren auf Sicht –
diesen Satz hört man
nun besonders häufig,
aus psychologischer
Sicht halte ich das für
ein Riesenproblem.»

AlexanderKekulé
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