Neue Zürcher Zeitung - 28.03.2020

(Tina Sui) #1

Samstag, 28. März 2020 MEDIEN 7


Clinton war 20 16 die erste Präsident-
schaftskandidatin mit eigenemPodcast.
Auch Buchautoren haben inzwischen
eigeneAudiosendungen, seit einigen
Tagen etwa die Expertin für «Life Coa-
ching» Brené Brown. Sie landete damit
prompt auf Platz 1 der Charts.
«Für etablierteAutoren sindPodcasts
eine grüneWiese, auf der sie sich aus-
tobenkönnen. Es ist etwas Neues, Fri-
sches und viel schneller veröffentlicht
als ein Buch», sagt Catherine Girardeau
im Gespräch, die für Pushkin-Media die
Podcasts von Michael Lewis und Mal-
colm Gladwell produziert.Einwichti-
ger Erfolgsfaktor ist aus ihrer Sicht der
Moderator. «Der Hörer verbringt so
viel Zeit mit dieserPerson, er muss sie
mögen – und der Stimme vertrauen.»
Welche ChancenPodcasts für eta-
blierte Medien bieten, machte die
«NewYorkTimes» vor: Sie verwan-
delte ihrentemporärenPolit-Podcast
«T heRun-Up» nach der Präsidenten-
wahl 20 16 in das tägliche Nachrichten-
format«T heDaily». Mit 22 bis 25 Minu-
ten hat es die perfekteLänge für die
durchschnittlicheFahrzeit amerikani-
scherPendler. 2 Millionen Hörer laden
denPodcast inzwischen jedenTag her-
unter. «‹TheDaily› ist für uns die neue
Titelseite», sagt Erik Borenstein, Chef
für Hörformate der «NewYorkTimes».
Eben hat derVerlag diePodcast-Platt-
formAudm gekauft – auch strategisch
setzt derVerlag nun also aufAudio.
Nachrichten-Podcasts machen zwar
nur 6 Prozent des Angebots aus, sind
aber für 21 Prozent aller heruntergela-
denenFolgen auf ApplesPodcast-Platt-
form verantwortlich. 2020 wird das
Komitee des Pulitzer-Preises, des höchs-
ten Medienpreises in den USA, erstmals
di e Kategorie «AudioReporting» aus-
zeichnen. «DieRenaissance desAudio-
journalismus hat in den vergangenen
Jahren herausragende Sachgeschichten
hervorgebracht. Diese wollen wir wür-
digen», teilte dasKomitee mit.
Der grösste Unterschied zwischen
herkömmlichen Radiobeiträgen und
Podcasts ist die Aufbereitungsform.

Letzteresind ähnlich wie Netflix-Sen-
dungen im Serienformat angelegt, man
abonniert sie auf einer Plattform wie
Spotify, Pandora oder Apple’sPodcast
und bekommt neueFolgen automatisch
auf das Smartphone geladen. DieTr eue
der Hörer ist meist gross, besonders
Nachrichten-Podcasts werden oft zu 90
Prozent zu Ende angehört. «Miteinem
Podcast erreicht man die Leute, die sich
wirklich für dich oder deinThema inter-
essieren», sagt Girardeau.

Den Zeitgeist getroffen


Dass Podcasts in Amerika so erfolgreich
sind, ist auch kulturell bedingt:Radio
war dort schon immer ein Bottom-up-
Medium,also sehr lokalgeprägt.Pod-
casts treiben diese Idee auf die Spitze:
Theoretisch kann jeder podcasten. Man
braucht nur ein Mikrofon, Schnitt-Soft-
ware und einen Hosting-Service. Daall
das günstig zu haben ist, müssenPod-
casts im Gegensatz zuRadiosendungen
auch nicht massentauglich sein, sondern
können Nischen bedienen:Von Strick-
anleitungen bis zur theoretischenPhysik
findet sich in Amerika zu wirklich jedem
Thema einPodcast.
Auch andere gesellschaftlicheTr ends
begünstigen den Erfolg: Zwei von drei
Amerikanern haben schon einmal
Sprachassistenten wie Siri und Alexa
genutzt, und dank deren Omnipräsenz
in Haushalten dürften Hörformate ein
immer wichtigererTeil des Alltags wer-
den.Auchdaszunehmend vernetzte
Auto erlaubt es Nutzern, denPodcast
vom Handy insFahrzeug zu übertragen
und dort weiterzuhören.
Diese Entwicklung haben auch
die grossen Musik-Streaming-Platt-
formen beobachtet und setzen seit eini-
gen Monaten ganz gezielt aufPodcasts
alsWachstumsmarkt.Spotify etwa hat
jüngst dreiPodcast-Firmen übernom-
men und investiert massiv in eigene,
exklusiveAudioserien. Ähnlichesver-
folgtPandora, und auch Apple hat be-
reits vorJahren auf jedem iPhone eine
Podcast-App vorinstalliert, die sich nicht

löschen lässt. Experten erwarten eine
Konsolidierung des Marktes.Bereits
ist ein harterWettbewerb im Gang, wer
zum «Netflix desPodcasting»avancie-
ren wird.

Die Gratisfalledroht


Doch die meistenPodcasts sind gratis
verfügbar – und laufen damit Gefahr, in
die gleicheFalle der Gratismentalität zu
ge raten, wie es die Printmedien jahre-
lang taten.«Die Produktion wirklich
guterAudioproduktekostet nun mal
einiges Geld», sagt der Marktforscher
Webster. DamitPodcasts sich zu gesun-
den, profitablen Medienentwickelten,
brauchten sie mehrere Ertragssäulen:
Werbung,Live-Veranstaltungen, zah-
lende Abonnenten.
Damit Hörer nicht ganz so einfach
beiWerbung vorspulenkönnen, gehen
immer mehrPodcasts dazu über, die
Werbeblöckevon den Moderatoren
vorlesen zu lassen. Malcolm Gladwell
ist dafür bekannt, mit viel Kreativität
Werbung in sein Storytellingeinzubin-

den. «Das ist unterhaltsam, viele Nutzer
wollen dieWerbung sogar unbedingt
hören», sagt Girardeau.
Dennoch ist der Umsatz mitPod-
cast-Werbung imVergleich zu ande-
ren Medien noch gering, auch wenn er
enorm wächst:Von 478 Millionen Dol-
lar imJahr 20 18 dürfte er diesesJahr auf
1,1 Milliarden Dollar steigen, schätzt die
Firma Deloitte. Das ist jedoch erst ein
Bruchteil der 42 Milliarden Dollar des
Umsatzes mitRadiowerbung.
Inzwischen sindPodcasts in den USA
so verbreitet, dass zahllose Leute einen
herausgeben wollen. Experten betonen
jedoch, dass Sendungen einen Mehrwert
für den Hörer bringen müssen– und
nicht nur für den Moderator. Den meis-
tenKunden, die podcasten wollen, ver-
suchtWebster die Idee auszureden. «Es
gibt da draussen viele schlechte Bücher,
Blogs und ebenauchPodcasts»,sagt
er. Wem es wirklich unter den Nägeln
brenne, demrät er: «Nimmvier, fünfFol-
gen auf – und lass sie unter dem Bett
verschwinden, ohne sie je zu veröffent-
lichen.» Er habe es auch so gemacht.

Podcasts boomen in Zeiten von Corona


Das Format wird in den USA immer beliebter. Der Aufwärtstrend hält seit längereman, aber erverstärkt sich in der jetzigen Krise


Podcasts kann manbei jeder Gelegenheit und an jedem beliebigen Ort hören.Auch das macht ihren Erfolg aus. LUCY NICHOLSON / REUTERS

Die Corona-Podcasts


der NZZ


jum.· Sowohl die NZZ wie die «NZZ
am Sonntag» strahlen einenPodcast mit
Fokusauf die Corona-Krise aus.
Seit dieserWoche beleuchtet die
NZZregelmässigrelevante Aspekte und
Hintergründe zur Krise in einem Son-
derpodcast zum Coronavirus. In Zei-
ten, in denen sich die Ereignisse über-
schlagen, werden hier Geschichten auf-
gearbeitet und präsentiert, die sonst
untergehen.
Im «NZZ am Sonntag Corona-Talk»
ordnet der Schweizer Epidemiologe
Christian Althaus ab diesem Samstag
die jüngstenDaten zum Coronavirus in
der Schweiz ein. Er versucht ausserdem,
Prognosen zu machen, und beleuchtet
jeweils einen Aspekt derPandemie.

Podcasts zu Corona


in Deutschland


jum.· Auch im deutschsprachigen
Raum sind dieserTagePodcasts, die
einen Überblick über die Corona-Krise
vermitteln, besonders gefragt.
Podcast des NorddeutschenRund-
funks (NDR) mit Christian Drosten:
Von Montag bis Freitag analysiert
undkommentiert der Chef-Virologe
der Berliner Charité die gegenwärtige
Situation, klärtMissverständnisseauf
und informiert über Diskussionen in
derWissenschaft.
«Was jetzt?» von «Zeit Online»: Der
Podcast behandelt neben einer knap-
pen Übersicht über die jüngsten Ent-
wicklungenregelmässig einThema, das
gerade besonders imFokus des Inter-
esses steht.

104 MillionenAmerikaner
hören Podcasts


MonatlicheAnzahl Hörer in den USA,
in Prozent der Bevölkerungüber 12 Jahre


MARIE-ASTRID LANGER,SAN FRANCISCO


Das Timing hätte kaum besser seinkön-
nen. EndeFebruar startete der amerika-
nischeFernsehsender CNN denPodcast
«Coronavirus:Fact vsFiction», ein täg-
liches zehnminütiges Nachrichten-Up-
date zurPandemie. Innert einerWoche
hatten ihn eine Million Hörer herunter-
geladen, er schoss auf den dritten Platz
derRangliste von Apple.
Eine Überraschung erlebte auch der
Mediziner-Podcast«T his week in viro-
logy»:Während zwölfJahren sei sein
Podcast nochnie so gefragt gewesen,
berichtet dessen ModeratorVincentRa-
caniello, Professor fürVirologie an der
Columbia University, in einer E-Mail.
Auf der Suche nach Informatio-
nen und Updates zurPandemie nutzen
die Amerikaner immer häufiger Hör-
formate. «Podcasts sind einTiefenfor-
mat», sagtTomWebster von der Markt-
forschungsfirma EdisonResearch, und
Tiefe sei in Krisenzeiten stark gefragt.
WährendPodcasts im deutschspra-
chigenRaum erst allmählich Boden ge-
winnen, boomt dasFormat in den USA
seitJahren. 104 Millionen Amerikaner
hörtenjeden Monat mindestens einen
Podcast, meldet EdisonResearch, das
sind 39 Prozent der Bevölkerung über
12 Jahre und mehr als doppelt so viele
wie noch 2015. JederVierte hört sogar
wöchentlich einenPodcast. Mehr als
90000 0 Podcasts gibt es inzwischen laut
dem BranchenportalPodcast Insights,
vor fünfJahren waren es noch 550000.


Eine grüneWiese zum Austoben


Mehr als 15 Jahre nach der Erfin-
dung desAusdrucks ist «Podcasting»
zu «einem der heissestenTr ends in der
Medienwelt geworden», meldet das Nie-
manLab der Harvard University. Im
Jahr 20 01 stellte SteveJobs den iPod
vor, einen Musikspieler imTaschen-
format, der zur ersten Plattform für die
neuen «Audio Blogs» im Internet wurde.
Auf der Suche nach einem geeigneten
Ausdruck für das neueFormat schuf ein
britischerTechnologie-Journalist 2004
den Begriff «Podcasting» aus «iPod»
und «Broadcasting».
DochPodcasts blieben vieleJahre ein
Nischenmedium, nur wenigeFormate
sorgten fürAufsehen, darunter die 2005
lanciertePolitiksendung «Political Gab-
fest»oder derPodcast desKomikersJoe
Rogan, die bisheute zu den weltweit er-
folgreichsten gehören.
DenDurchbruch schafftenPodcasts
erst 20 14 mit dem Hit «Serial»: In einer
zwölfteiligen Serie arbeitete die Inves-
tigativjournalistin SarahKoenig einen
Jahre zurückliegenden Mordfall minu-
ziös auf. So schnell wiekein anderer
Podcast erreichte «Serial» 5 Millionen
Downloads auf iTunes. Beflügelt wurde
der Erfolg dadurch,dass der besagte
Mordfall nach dem Erscheinen der Sen-
dung wieder aufgerollt wurde.
AndereMedien sprangen auf den
Zug auf – undPolitiker. Barack Obama
gab sich 20 15 alsTr endsetter bei einem
Gastauftritt in einemPodcast, Hillary

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