Neue Zürcher Zeitung - 28.03.2020

(Tina Sui) #1

8 MEINUNG & DEBATTE Samstag, 28. März 2020


Angstschwingungen und Resonanzkatastrophe


Die WC-Papier-Panik ist eine Krise der Rationalität


Gastkommentar
von EDUARD KAESER


Wir kennen Dyslexie, Dyskalkulie, Dysorthogra-
phie, Dysästhesie: Lese-,Rechen-,Rechtschreib-
schwäche, Empfindungsstörung. Es gibt daneben
auch Dysrationalität:ein e «Schwäche» derVer-
standestätigkeit bei sonst intelligenter Disposition.
Wir erliegen ihr gelegentlich alle. Zum Beispiel in
Zeiten einer Virenpandemie. Wir sehen, wie sich
die Regale leeren, und der erste Gedanke ist: Ich
muss unbedingt auch noch von dieserWare haben,
handle es sich um WC-Papier, Pinzetten oderFuss-
pilzsalbe – wenn alle sie einkaufen,lieg t ja sicher
ein Grund dafür vor. Das heisst, zwei Perspektiven
sind im Spiel: meine und jene der anderen.Jede
Person mag guten Grund haben, sich mitToiletten-
papier einzudecken, aber alle diese individuellen
guten Gründe addieren sich nicht zu einemkol-
lektiven guten Grund.Das ist die panische Anste-
ckung:Wenn der anderePanik hat, muss ich auch
Panik haben.


Nachdenkenüber den Handgebrauch


Wie viele Menschen meiner Generation bin ich ge-
wohnt,mit diesem Stoff namensBargeld zu han-
tieren. Aber jetzt haftet ein maliziöser Gedanken-
keim im Schädel: Der Stoff hat ja seinenVerlauf
schon durch viele – womöglich ungewaschene–
Hände genommen und trägt eine ganze unsicht-
bare Armee von Krankheitserregern.Bargeld ist
dreckig, buchstäblich. Also setze ich auf bargeld-
losenVerkehr und benutze die Kreditkarte. Aber
die muss ich ständig in irgendeinen Schlitz schieben
und meinen Code auf derTastatur eingeben, mit
der schonTausende vor mirKontakt gehabt haben.
Und der Gedanke nimmtFahrt auf: Alle die
Dinge, die ich imLaufe einesTages berühre, bilden
sie nicht eine tückische taktile Kaskade derKonta-
mination? Wenn man da nicht zwangsneurotisch,
sprich:zum Händealkoholiker wird.Jedenfalls ent-
wick elt man sich in diesen Zeiten zu einemregel-
rechtenForensiker manueller Gewohnheiten. Man
verdächtigt andere und sich selber des «delinquen-
ten» Handgebrauchs und späht nach entsprechen-
den Indizien.
Unser Zeitalter nennt sich das digitale:das Zeit-
alter desFingers. Und was tut dieserKörperteil die
ganze Zeit? Er schaltet ein und aus, er drücktTas-
ten und Knöpfe. Eine ungeheuer einflussreiche
Symbolik umgibt Knopf, Taste und nunTouchpad,
und dieAsymmetrie zwischenAufwand undResul-
tat lädt die Geste des Berührens ambivalent auf.
Am Knopf zeigt sich die ganze Dialektik derTech-
nikgeschichte. Die verführerischenWelten, die sich
durch den Knopfdruck erschliessen, und die un-
bekannten Gefahren, die sie bergen,bild en eine
üppigeWildnis der Phantasie, in der Literatur, Film,


Werbung, Propaganda jagen. Und nun erweist sich
der Finger, dieses wunderbare Organ der Kreativi-
tät, jäh als Unheilbringer.

Verfügbarkeitsheuristik


Für einePerson,die in der letzten Grippeepidemie
nicht erkrankt ist, klingt nun plötzlich das ganze
Getöse um Corona vielleicht übertrieben bedroh-
lich. Hie r lässt sich eine weitere Dysrationalität
feststellen: dieVerfügbarkeitsheuristik, wie sie
die PsychologenDaniel Kahnemann und Amos
Tversky genannt haben.Wir überschätzen oder
unterschätzenein Risiko oft, je nachdem, ob wir

einen schweren oder einen leichtenFall in Erin-
nerung behalten. Ein herausstechendes Ereignis
bleibt leicht im Gedächtnis haften und lässt sich
wieder abrufen.
Viel zitiert ist das Beispiel der Flugzeugunfälle.
Sie sind seltener alsAutounfälle, aber man über-
schätzt das Risiko des Fliegens aufgrund des meist
tragischen Unfallausgangs und eines entspre-
chenden medialen Hypes. Die Erinnerung stellt
uns dramatischeFälle zurVerfügung. Umgekehrt
liesse sich Ähnliches über die Unterschätzung sa-
gen. Woran erinnern wir uns in der Schweiz, wenn
wir an Epidemien denken? Nun, an die Sars-Infek-
tion 2003 und an die Schweinegrippe 2010. In bei-
den Situationen sind wir glimpflich davongekom-
men.Wo wir uns nicht zu sorgen brauchen, müs-
sen wir auch nicht vorsorgen.Womöglich verfügt
deshalbunser Gedächtnis vor allem über die Kate-
gorie«Verschontwerden», was imFall des Corona-
virus zunächst zu einer Unterschätzung des Risi-
kos führte.

GefährlicherMix


Vergessen wir nicht die emotionale Seite, vor allem
ihre Inflation.Je mehr die Medien den Emotionen
Gelegenheit geben, sich «aufzublasen», desto mehr
verdrängensie die rationale Seite. Nicht dass wir
keine Emotionen haben oder sie gar unterdrü-
cken sollten.Das Problem istvielmehr der gefähr-
liche Mix aus schlecht geeichten Gefühlen und be-
grenztemWissen. Dieser Mix erweist sich selber als
höch st ansteckend.
Um hier eine Analogie aus der Physik zu ver-
wenden:das Phänomen derResonanz. Eine Saite,
die zu schwingen beginnt, kann unter Umständen
auch eine benachbarte Saite in Schwingung brin-
gen. Die Nachrichten über denTribut anToten,
den dasVirus in China oder auch in Italien for-
dert, schüren unsere Ängste. Wir beginnen quasi
mit kleinen Angstschwingungen und stecken an-
dere an zumResonieren.Dadurch verstärken wir
gegenseitig unsere Ängste über ein Mass hinaus,
das durch dieFaktenlage nicht notwendig gerecht-
fertigt ist. Zudem werden wir – heftiger schwin-
gend – auch empfänglicher für «falsche» Schwin-
gungen – Gerüchte undFake-News–, und so tre-
ten wir einenTeufelskreis los. Im Kollektiv steigt
dieAngst-Amplitude. In der Physik nennt man dies
«Resonanzkatastrophe». Man kann damit Brücken
zum Einsturz bringen. Und man kann analog das
rationale Denkenkollabieren lassen.
Im Zusammenhang mit derVerfügbarkeitsheu-
ristik steht natürlich ein anderes dysrationales Phä-
nomen: Monothematik, die einseitige thematische
Diät.Gerade dieserTage mästen uns Zeitungen mit
ein em einzigenThema,reduzieren den Umfang der
Berichterstattung, plausiblerweise, weil nicht viel
aus derWelt der Massenveranstaltungen zu hören

ist. Dabei öffnete doch gerade die Zeit derPause,
des Werktags-Sabbats, den Raum derReflexion,
des Innehaltens, des Besinnens, also denRaum für
«abseitigere»Themen, die vielleicht schon lange auf
der Halde liegen;Themen,die uns in der hektischen
Schnelligkeit der News die nötigeLangsamkeit bei-
bringen, den Ernst derLage zu erkennen.

Informationsflut undQuasihypnose


AproposKenntnis derFaktenlage. Sie ist dringend.
Aber auch hier erliegen wir leicht einer Dysratio-
nalität. Hyperinformiertheit kann Ignoranz und
Ungewissheit verstärken.Wir erleben ein tägliches
Bombardement durch Zahlenund Statistiken, das
uns in eine Quasihypnose versetzt.Wichtig in die-
sem Dauerbeschuss wird das, was dieKognitions-
psychologen «Frame» nennen. Die Medien müssen
den Fakten einen Bedeutungsrahmen verleihen.
Das fängt schon mit der Interpretation von Statis-
tiken an. Zum Beispiel hören wir ständig Meldun-
gen über den «rasanten» Anstieg der Infektions-
fälle. DieseRasanz ist bei exponentiellemWachs-
tum normal, man muss sie nicht eigens hervor-
heben.Wenn man die Normalität zur Kalamität
hochdramatisiert, präsentiert man sie in einem irre-
führendenFrame.
Hüten wir uns auch vor übertriebenen Erwar-
tungen in dieWissenschaft.Wir alle begrüssenFort-
schritte in derVirenbekämpfung.AberViren bilden
die grosse Unbekannte im Gesamtökosystem des
Planeten. Nur schon eine virale Krankheit lässt sich
meist nicht in einer schönen linearen Geschichte
darstellen: Da ist einVirus – und da bricht die
Krankheit aus. Möglicherweise sind andereViren
und weitereFaktoren an derPathogenese betei-
ligt. Eine typische wissenschaftlicheAussage hat
die Form: Unter diesen und diesen und diesen Be-
dingungen geschieht das und das. Die Pointe ist,
dass man alle die Bedingungen in derRegel nicht
kennt. Heute erstrecht nicht.Wir leben ja nicht in
Labors. Und deshalbist derSpielraum für Skep-
sis immer da.
Nun gibt es freilich eine ganz andere Art von
Skepsis. Zunehmend beunruhigter stellt derLaie
einen ungeduldigen Anspruch an denWissen-
schafter: Gib mir endlich eine eindeutige Antwort!
Wann schwächt sich dieAusbreitung ab?Wann ist
ein Impfstoff verfügbar? Und da derWissenschaf-
ter keine eindeutigeAntwort geben kann,sucht der
Laie oft andereAntwortgeber: inkompetente, be-
trügerische, aufschneiderische, dumme. Hier kippt
Dysrationalität in Irrationalität. Und diese ist ge-
fährlicher als jede Epidemie.

Eduard KaeseristPhysiker undpromovierter Philosoph.
Erist alsLehrer, freier Publizist und Jazzmusiker tätig. 2018
ist imSchwabe-Verlagerschienen: «TrojanischePferde
unserer Zeit.KritischeEssays zur Digitalisierung».

Das Problem ist der


gefährliche Mix aus schlecht


geeichten Gefühlen


und begrenztemWissen.


KARIKATURDER WOCHE

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