Neue Zürcher Zeitung - 28.03.2020

(Tina Sui) #1

Samstag, 28. März 2020 MEINUNG & DEBATTE 9


Umzüge und Geschäftsmieten


Der Bundesrat hat richti g entschieden


Mieter,Vermieter,BewirtschafterundZügelfirmen
können aufatmen. Der Bundesrat hat amFreitag
entschieden, dassWohnungsumzüge erlaubt blei-
ben, wenn dieEmpfehlungen betreffend Hygiene
und Distanz eingehalten werden.Damit wurde der
Verwirrung ein Ende gesetzt,die seit Mittwoch be-
stand, als der Direktor des Bundesamts fürWoh-
nungswesen entgegen früherenAussagen plötzlich
meinte, es werde von Umzügen abgeraten,auch
wenn diese nicht verboten seien.
Dass die grosse «Frühlingszüglete» stattfinden
kann, ist ein sinnvoller Entscheid – nicht nur, weil
die Umzüge bereits begonnen haben und ein
Stopp in letzter Sekunde ein grosses Chaos verur-
sacht hätte. Der Bundesrat ist auch seinem Grund-
satz treu geblieben, das wirtschaftliche Leben wo
immer möglich weiterlaufen zu lassen.Es darf
nicht vergessen werden, dass jedeWertschöpfung,
die weiterhin stattfindet, mithilft, dass dasLand
nach dem Ende der Kriserascher wieder auf die
Beinekommt. Naturgemäss sind in der Praxis ei-


nige Fragen ungeklärt. So ist etwa nicht geregelt,
wer für Hotelübernachtungen von Zügelwilligen
aufkommt, wenn eineWohnung nicht beziehbar
ist, da dort einePerson wohnt, die aus gesundheit-
lichen Gründennicht zügeln darf und kann.Aber
es dürfte allen klar sein,dassRücksicht und Gross-
zügigkeit in solchen Situationen derzeit obers-
tes Gebot ist.Wegen dieser Einzelfälle nun rund
50 000 umzugswilligen Haushalten das Beziehen
einer neuenWohnung zu verwehren, wäre doch
etwas unverhältnismässig.
AuchbeieinemzweitenmietrechtlichenThema
hat der Bundesrat den kurzfristig sicherlich sinn-
vollen,wenig in vasivenWeg gewählt. Es geht um
die juristisch bisher nicht geklärteFrage, ob Ge-
schäfte, die zwangsweise geschlossen wurden, wei-
terhin Miete zahlen müssen. Statt überstürzt ins
hochkomplizierte Mietrecht einzugreifen, was un-
absehbareFolgen gehabt hätte, entschloss er sich
füreine«staatlichverordneteStundung»,wieesder
Mietrechtsexperte BeatRohrer nennt. Coiffeure,
Kosmetikerinnen, Gastwirte oderLadenbesit-
zer, die ihre Türen schliessen mussten,haben zwei
Monate länger Zeit, um ihren Mietzins oder ihre
Pacht zu zahlen.Wer Ende Monat seine Miete für
April oder für das zweite Quartal nicht zahlt, wird
möglicherweise trotzdem dieKündigung wegen
Zahlungsverzugs angedroht bekommen.Aber die

Frist,innerhalb deren bezahlt werden muss, um die
Kündigung zu vermeiden, dauert 60Tage länger.
AuchhierwirdesSchwierigkeitengeben.Nichtalle
Vermieter haben so tiefeTaschen wie die grossen
Institutionellen.Viele Liegenschaften gehören Pri-
vatpersonen, etwaRentnern, denen die Immobilie
die Pensionskasse ersetzt. Wenn sie bis EndeJuni,
bei Pachten sogar bisEnde Juli, nun allenfallskein
Geld von ihren Mietern bekommen, kann das zu
Liquiditätsproblemen führen.Umgekehrt löst eine
reine Stundung das Problem der Geschäftsmieter
nicht,denenderfürdieMietzinszahlungennotwen-
dige Umsatz schlicht und einfach fehlt.
Aber auch diese Probleme sollten lösbar sein,
und zwar am besten, indem sich Mieter undVer-
mieter zusammensetzen. Genau weil dieFrage
ungeklärt ist, ob die Mieteim Spezialfall der
Zwangsschliessungen geschuldet ist oder nicht,
stehen dieVoraussetzungen fürVerhandlungen
aufAugenhöhe gut.Wie sagte schon der amerika-
nischePhilosophJohn Rawls:Gerechte Entschei-
dungen trifft manam bestenunter dem «Schleier
des Nichtwissens». Es gilt also nach Lösungen
zu suchen, die Mieter undVermieterauch dann
unterstützen würden,wenn sie plötzlich in der
Haut des anderen steckten.Weder eine blosse
Stundung noch ein vollständiger Mietzinserlass
dürften dieses Kriterium erfüllen.

Einheitsregierung in Israel


Gantz geht ein beträchtliches Risiko ein


Israels Oppositionsführer Benny Gantz hat alle
überrascht,als erdas Kriegsbeil begrub und der
Bildung einer Einheitsregierung unter derFüh-
rung seines Rivalen Benjamin Netanyahu den
Weg ebnete. Noch ist dieVereinbarung nicht be-
siegelt und ein Scheitern durchaus möglich.Nach
einemJahr mit dreiParlamentswahlen ohne kla-
res Ergebnis ist ein Ende des politischenPatts in
Israel aber erstmals in greifbarer Nähe.
Dabei schien dieLage in den letztenTagen so
verfahren wie nie. Netanyahu missbrauchte seine
Position als geschäftsführenderRegierungschef in
der Corona-Kriseschamlos dazu, dasParlament
abzuriegeln und Gerichte zu schliessen. Dem
Likud-Chef geht es seit längerem vor allem noch
darum, die eigeneVerurteilung in einemKorrup-
tionsprozess zu verhindern, die das Endeseiner
politischen Karriere bedeuten würde.
Gantz hat diesen eigennützigen Machttrieb im
Wahlkampf gegeisselt und versprochen, nie eine


Regierung mit einem «Kriminellen» an der Spitze
zu unterstützen. Nun tut er womöglich genau dies
und schockiert damit nicht nur seine bisherigen
Bündnispartner, sondern auch einenTeil seiner
Wählerschaft.Der frühere Armeechef begründet
die Kehrtwende damit,dass in der gegenwärtigen
Notlage das Interesse desLandes über parteipoli-
tischeund persönliche Erwägungen gestellt wer-
den müsse. NebenPatriotismuskönntenden e rst
vor kurzem in diePolitik eingestiegenen 60-Jäh-
rigen aber auch die Desillusionierung über den
Politzirkus motiviert haben.
Die politischeLähmung imvergangenenJahr
hat Israel wirtschaftlich und moralisch schwer
zugesetzt, und die Corona-Epidemie hat die
Lage weiter verschärft. Eine Einheitsregierung
ist deshalb sicher wünschenswert und wird laut
Umf ragen auch von einer Mehrheit der Israeli
einem weiteren Urnengang vorgezogen. Der
Oppositionsführer ginge mit einem solchenPakt
jedoch ein beträchtliches Risiko ein. Netanyahu
ist ein ausgesprochen geschickter und ruchloser
Machtpolitiker, auf dessenWort man nicht allzu
viel geben kann.
Die nüchternenWorte von Gantz machen klar,
dass er sich diesbezüglichkeine Illusionen macht.
Er scheint aber zu hoffen, den zunehmend auto-

ritär auftretenden Netanyahu durch eineRegie-
rungsbeteiligung zumindest zu einem gewissen
Gradkontrollieren oder bremsen zukönnen.
Noch sind die Details einerKoalition nicht aus-
gehandelt. Netanyahu soll aber offenbar weitere
18 Monate langRegierungschef bleiben und dann
von Gantz abgelöst werden. Bis dahin will dieser
als Aussen- oderVerteidigungsminister amtieren.
Er beansprucht für das Oppositionslager zudem
andere Schlüsselministerien wie etwa dasJustiz-
ministerium,das in den letzten Monaten mit perfi-
denAngriffen auf Richter und Staatsanwälte eine
höchst fragwürdigeRolle gespielt hat.Die Gefahr
ist jedoch gross, dass der alteFuchs Netanyahu
den politisch unerfahrenen Ex-General über den
Tisch zieht – umso mehr, als dieser nach seiner
Kehrtwende geschwächt dasteht.
Die Opposition stand kurz davor, die Kon-
trolle über die Knesset zu übernehmen,und hätte
so d em angeklagten Netanyahu mit einer mass-
geschneiderten Gesetzgebung zu Leibe rücken
können. DiesenTrumpf hat Gantz nun aus der
Hand gegeben. Doch mit welchen Argumenten
will er Netanyahu beiKoalitionsgesprächen unter
Druck setzen? Zudem muss er befürchten, dass
dieser nach eineinhalbJahren nicht zurücktritt
und sich weiter an die Macht klammert.

Amerikanisches Abkommen mit den Taliban


Der Friedensprozess ist ein Trauerspiel


Vor einem Monat war in Katar grosses Hände-
schütteln und Schulterklopfen. Die USA und die
Taliban unterzeichneten ein vierseitiges «Ab-
kommen für denFrieden in Afghanistan». Nach
vier JahrzehntenKonflikt sollte sich Afghanistan
auf denWeg zumFrieden begeben.Die USA soll-
ten ihre rund 13000Truppenangehörigen schritt-
weise abziehen. Innerhalb von zehnTagen sollten
Gespräche zwischen de nTaliban und der afghani-
schenRegierung beginnen.
Das war EndeFebruar. Einen Monat später
sieht die Bilanz so aus: DieTaliban haben Hun-
derte von Angriffen verübt, mit denen sie klarzu-
machen versuchen, dass ihre militärische Stärke
am Verhandlungstisch entgolten werden muss.
Über 200Regierungssoldaten und mehr als 50
Zivilisten wurden getötet. Die Gespräche zwi-
schen derRegierung und denTaliban haben
noch gar nicht begonnen, weil es in Kabul nicht
eine, sondern zweiRegierungen gibt.Dafür aber


keine Delegation, die mit denTaliban verhan-
delt. DerFriedensprozess verdient den Namen
bis jetzt nicht. Er ist einTrauerspiel. Schuld tra-
gen zwei Erzrivalen in der Hauptstadt und eine
Grossmacht, die nach zweiJahrzehnten Abnüt-
zungskampf auf denAbzug drängt.Die Nutznies-
ser sind dieTaliban. Sie haben alle Zeit derWelt.
Am 9. März liessen sich der bisherige Prä-
sident Ashraf Ghani und der bisherigeRegie-
rung-CEO Abdullah Abdullah jeder als Präsi-
dent vereidigen. Sie taten es mit ein paar Minu-
ten Abstand und in aneinander grenzendenRäu-
men.Abdullah behauptet, dieWahlbehörde habe
Ghani vorschnell zum Sieger derWahl im ver-
gangenen September erklärt.Bereits bei der letz-
ten Wahl 2014 hatten sich Ghani und Abdullah
über denAusgang gestritten. Durch Vermittlung
der USA kam damals eine Einheitsregierung zu-
stande. Die beiden Gegenspieler haben nun klar-
gemacht, dass dieskeine Option mehr ist.
Ghani undAbdullah handeln verantwortungs-
los. Doch es geht nicht nur um ihre Egos, sondern
auch um ihre Entourage. Die beiden Anführer
agieren aus ihrer Sicht durchausrational. Sie len-
ken einkorruptesSystem, in dem von ihnen er-
wartet wird, dass sie ihren Günstlingen den Zu-
gang zu Pfründen ermöglichen.

Die USA haben diese Kleptokratie seit dem
Sturz derTaliban 2001 geduldet. Sie fluteten
AfghanistanmitMilliardenvonDollarunddrück-
ten oft beideAugen zu,wenn ihre lokalenVerbün-
deten sich dieTaschen vollstopften. Esrächt sich
nunauch,dassdieAmerikanerdasAbkommenmit
denTaliban um jeden Preis wollten.Sie handelten
keineWaffenruhe aus, und sie schlossen die afgha-
nischeRegierung von denVerhandlungen aus.
Wie es mit demFriedensprozess weitergeht,
ist unklar. Die USA haben Kabul dieseWoche
eine Milliarde Dollar an Hilfsgeldern gekürzt.
Dass sich Ghani undAbdullah dadurch beeindru-
cken lassen,ist unwahrscheinlich.Zuletzt hiess es
immerhin,die Taliban und dieRegierung Ghani
wollten sich zuVorgesprächen treffen. AmFrei-
tag kursierte zudem eine Liste möglicher Dele-
gierter. Im bestenFall sind dies erste Schritte auf
dem Weg zu einem wirklichen Dialog.
Im schlechtestenFall droht Afghanistan der
Abstieg ins Chaos:Die Gegenspieler in Kabul be-
fehd en sich weiter, der amerikanische Präsident
drängt auf den Abzug, der afghanische Zentral-
staat wankt immer stärker, bis er zusammenbricht.
Die Talibankönnen gelassen zuschauen. Sie fei-
erten die Unterzeichnung des Abkommens vor
einem Monat als Sieg. Vermutlich zuRecht.

SAMUEL MISTELI

SCHWARZ UND WIRZ


Was immer du tust,


bedenke das Ende


Von GERHARDSCHWARZ

«Notkennt kein Gebot» gilt auch in der
Corona-Krise. Wenn die Gefahr gross ist und
rasch gehandelt werden muss, nimmt man, um
Schaden abzuwehren,Fehler undFolgeschä-
den in Kauf. In solchenAusnahmesituationen
ist weder für ordnungspolitischen Purismus
noch für neunmalkluge Besserwisserei Platz.
Da der Staat im übergeordneten Interesse
kurzfristig allesradikal herunterfährt, ist es
nur recht, dass erWirtschaft und Gesellschaft
gleichzeitig stützt. Und ob die epidemiologi-
schen Massnahmen der Schweiz und des
übrigen Europa zu langsam, zu lax oder zu
hysterisch-restriktiv sind bzw. ob eine
Strategiekontrollierter Herdenimmunität
nicht besser wäre – man wird es nie richtig
wissen, und wenn, dann höchstens in einigen
Monaten. Zwei grundsätzliche Zusammen-
hänge lassen sich aber schon jetzt formulieren.
Zum einen ist die Haltung «whatever it
takes» immer gefährlich.Es geht um ein
Optimum,nicht ein Maximum.DieKollateral-
schäden der Bekämpfung dürfen nie grösser
sein als das Übel,das man bekämpft,sonst
heisst es am Schluss:«Operation gelungen,
Patient tot.» DieFolgen der Epidemie sind
angesichts der Unwägbarkeiten,etwa derFrage,
ob es zu mehreren Pandemiewellenkommt,
höchst unsicher. Eine Studie zeigt für die USA
ohne Gegenmassnahmen zwischen500 000 und
10 MillionenTote – eine grosse Spannbreite.
UndAussagen wie die desVirologenAlexander
Kekulé, die Sterberate ein es Nicht-Risiko-
Patienten liege bei 1:60000,ähnlich wie bei
einemFallschirmspringer, gehören auch ins
Bild.DieFolgen des Shutdown lassen sich
genauso schwer schätzen,dürften aber gravie-
render sein als alle Krisenerfahrung der letzten
Jahrzehnte:Im negativsten Szenariokommt das
Münchner Institut Ifo auf eine Schrumpfung
derWirtschaft von bis zu 20 Prozent,Avenir
Suisse nennt monatliche Einbussen von fast 30
MilliardenFranken.Die Menschen nehmen
vieles stoisch hin,in dem Glauben,es gehe um
dieWahl zwischen dem hehren Ziel der
Gesundheit und dem «niederen»Anliege n
einer florierendenWirtschaft,als ob die
Gesundheit nicht auch von derWirtschaft
abhänge. Statt vonAlternativlosigkeit zu
schwafeln,ein Begriff aus demWörterbuch des
intellektuellenTotalitarismus, muss man,ohne
den Kampf gegen dasVirus aufzugeben,Wege
suchen,die Gesellschaft undWirtschaft weiter
atmen lassen,auch im Interesse der Gesund-
heit.Dazu gehören etwa möglichst breiteTests,
um gezielt Risikopersonen isolieren und vor
Infektion schützen zukönnen.
Zum anderen muss man schon jetzt den
Ausgang aus der Krisenbewältigung insAuge
fassen. Man kann, wie der Zukunftsforscher
Matthias Horx,von der grossen Läuterung
durch die Krise träumen.Realistisch ist das
nicht. Eher werden wir uns an den Krisen-
bewältigungsmodusgewöhnen, wenn wir nicht
wachsamsind. Dass das Abschütteln der
Fesseln des Notrechts oftJahre dauert, konnte
man nach Kriegen immer beobachten. Doch
was sich in der Krise noch so bewährt, darf
nicht zur Normalität werden.Daher:Auch
wenn derzeit Bern das Sagen hat, fährt die
Schweiz mit demFöderalismus besser; auch
wenn man die Flutung der Märkte verstehen
kann – aufDauer ist sie schädlich; auch wenn
die Staaten jetzt Geld aufnehmen müssen,
gehören zu gesundem Haushalten doch tiefe
Schulden; auch wenn der Staat dieWirtschaft
stützt, darfkeine Dauerabhängigkeit der
Wirtschaft vom Staat entstehen; auch wenn
rigorose Einschränkungen derFreiheit in der
Not opportun sein mögen, darf ein liberaler
Staat seine Bürger sonst nicht bevormunden.
Es gilt, bei allem denAusbruch aus der Logik
der Nothilfe mitzudenken, getreu dem
lateinischen Spruch«Was immer du tust, tue es
klug und bedenke das Ende», damit die
politische Medizin gegen dasVirus nicht mehr
Schrecken verbreitetals dasVirus selbst.

Gerhard Schwarzist Präsident der Progress Foun-
dation.
Free download pdf